Urteilskopf
141 V 25
5. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S.A. gegen CSS Kranken-Versicherung AG und Mitb. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_535/2014 vom 15. Januar 2015
Regeste
Art. 56 Abs. 2 und
Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG
; Rückerstattung der Honorare bei Überarztung; anwendbares Recht; Voraussetzungen für eine Rückforderung unter der Herrschaft von
Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG
.
Auf jene Überarztungsfälle, welche sich nach dem 23. Februar 2005 ereignet haben, gelangt ausschliesslich
Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG
zur Anwendung (E. 8.3).
Obschon die Rückerstattung der Honorare (
Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG
) neu unter dem Begriff "Sanktionen" (
Art. 59 Abs. 1 Satz 1 KVG
) steht, bleibt die zu
Art. 56 Abs. 2 KVG
ergangene Rechtsprechung anwendbar, wonach (namentlich) kein Verschulden des Leistungserbringers vorausgesetzt wird (E. 8.4).
A.
Am 15. Juli 2008 reichten 47 Krankenversicherer Klage beim Schiedsgericht des Kantons Appenzell Ausserrhoden gegen Dr. med. A., Facharzt für Ophthalmologie FMH, ein mit dem Rechtsbegehren, der Beklagte sei zu verpflichten, ihnen vom Jahresumsatz 2006 einen gerichtlich zu bestimmenden Betrag nebst Zins zu 5 % seit Klageeinleitung zurückzuerstatten. In verfahrensrechtlicher Hinsicht wurde die Sistierung des Klageverfahrens bis zum Abschluss des Schlichtungsverfahrens vor der Paritätischen Vertrauenskommission beantragt. In der Folge sistierte das Schiedsgericht das Verfahren bis auf Weiteres.
Am 12. November 2009 hob das Schiedsgericht die Sistierung auf, nachdem die Krankenversicherer über das Scheitern des Schlichtungsverfahrens informiert und die Fortsetzung des Verfahrens beantragt hatten. Gleichzeitig gab es den Parteien Gelegenheit, je einen Schiedsrichter zu benennen, wovon diese am 25. bzw. 26. November 2009 Gebrauch machten. Am 25. Mai 2010 ernannte das Schiedsgericht lic. iur. Traudi Reimann-Forstner und lic. oec. Martin Rutishauser als Schiedsrichter. Ein Gesuch des Dr. med. A. auf Sistierung des Verfahrens wies es ab (Verfügung vom 14. Oktober 2011). Am 12. September 2012 führte das Schiedsgericht eine mündliche Verhandlung durch und forderte die Klägerinnen mit gleichentags ergangenem Beschluss zur Einreichung weiterer Beweismittel auf. Mit Entscheid vom 28. Mai 2014 hiess das Schiedsgericht die Klage teilweise gut. Es verpflichtete Dr. med. A., den Krankenversicherern Fr. 520'423.60 zurückzuzahlen (Dispositiv-Ziffer 1). Überdies verpflichtete das Schiedsgericht Dr. med. A. zur teilweisen Tragung der Entscheidgebühr, ausmachend Fr. 6'400.- (Dispositiv-Ziffer 2), sowie zur Bezahlung einer reduzierten Parteientschädigung (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) von Fr. 5'000.- an die Krankenversicherer (Dispositiv-Ziffer 3).
B.
Dr. med. A. erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, der Entscheid des Schiedsgerichts vom 28. Mai 2014 sei aufzuheben. Eventualiter sei die Bestellung eines neuen, unabhängigen Schiedsgerichts anzuordnen und die Sache an dieses zurückzuweisen; subeventualiter sei die Angelegenheit an die
BGE 141 V 25 S. 27
Vorinstanz zur Beweisergänzung und Neubeurteilung zurückzuweisen. Zudem sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Während das Bundesamt für Gesundheit auf eine Stellungnahme verzichtet, tragen die Beschwerdegegner auf Abweisung der Beschwerde an.
C.
Mit Verfügung vom 25. August 2014 hat die Instruktionsrichterin der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen:
8.1
Die Vorinstanz erachtete
Art. 56 Abs. 2 KVG
als massgebende gesetzliche Grundlage für die von ihr verfügte Rückforderung betreffend das Jahr 2006, ohne jedoch auf das Verhältnis zu der seit 23. Februar 2005 anwendbaren Bestimmung von
Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG
(nicht publ. E. 5.1) einzugehen.
Gemäss dem überwiegenden Teil der Lehre ist - seit Inkrafttreten des geänderten
Art. 59 KVG
(am 1. Januar 2005) - für Rückerstattungsforderungen wegen unwirtschaftlicher Behandlung nicht mehr
Art. 56 Abs. 2 KVG
sedes materiae, sondern
Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG
(GEBHARD EUGSTER, Überarztung aus juristischer Sicht [nachfolgend: Überarztung], in: Rechtsfragen zum Krankheitsbegriff, Gächter/Schwendener [Hrsg.], 2009, S. 138 Rz. 120;
ders.
, Bundesgesetz über die Krankenversicherung [KVG; nachfolgend: Rechtsprechung], 2010, N. 3 zu
Art. 59 KVG
;
ders.
, Statistische Wirtschaftlichkeitsprüfung im Wandel [nachfolgend: Wirtschaftlichkeitsprüfung], Jusletter 25. Juni 2012, Rz. 97; SIMON HAEFELI, Ruinöse Unrechtsprechung, Jusletter 18. August 2008, Rz. 47 [auch veröffentlicht in: Zeitschrift für Gesundheitsrecht (SZG), 2009 S. 55 ff.]; gl.M. offenbar auch Arbeitsgruppe WZW der FMH, Wirtschaftlichkeitsverfahren unter KVG Art. 59 [nachfolgend: Sanktionsrecht], Positionspapier von Juli 2010 [abrufbar unter
www.fmh.ch
]; a.M. EDOUARD ISELIN, Polypragmasie et étendue de l'obligation de restitution au sens de l'art. 56 al. 2 LAMal, SZS 2006 S. 120). Das Bundesgericht hat sich zu dieser Frage bisher nicht (explizit) geäussert. Immerhin hat es in
BGE 137 V 43
, welchem eine im Jahr 2004 stattgefundene Überarztung zugrunde lag, namentlich die (noch nicht anwendbare) Bestimmung von
Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG
herangezogen, um die
BGE 141 V 25 S. 28
Frage des Umfangs (nicht publ. E. 5.4) der Rückerstattungspflicht gemäss
Art. 56 Abs. 2 KVG
zu präzisieren (E. 2.5.3 des erwähnten Urteils).
8.2
Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Ordnung zu unterstellen. Insbesondere bei jüngeren Gesetzen sind auch die Gesetzesmaterialien zu beachten, wenn sie auf die streitige Frage eine klare Antwort geben und dem Gericht damit weiterhelfen (
BGE 140 V 8
E. 2.2.1 S. 11 mit Hinweisen).
8.3
Gesetzgeberische Absicht hinter der Änderung des
Art. 59 KVG
war es, die Zahl und die Tragweite der möglichen Sanktionen gegen Leistungserbringer, die sich nicht an die Regeln der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen halten ("schwarze Schafe"), zu verstärken, mithin das Sanktionensystem des KVG wirkungsvoller auszugestalten (Botschaft vom 26. Mai 2004 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung [Vertragsfreiheit; BBl 2004 4293, 4295, 4315]). Hierzu sollten zum einen - nebst der bisher schon bestehenden Möglichkeit von Rückerstattungen gemäss
Art. 56 KVG
sowie des Ausschlusses von der Kassenpraxis gemäss aArt. 59 KVG - weitere Sanktionen (Verwarnung, Busse;
Art. 59 Abs. 1 lit. a und c KVG
) ausgefällt werden können, womit der Entscheidungsspielraum der zuständigen Schiedsgerichte vergrössert würde. Zum anderen sollte die Möglichkeit, das kantonale Schiedsgericht anzurufen, auf die Verbände der Versicherer ausgeweitet werden (
Art. 59 Abs. 2 KVG
), um die Tragweite der Sanktionen zu vergrössern (BBl 2004 4315 erstes und zweites Lemma). Ferner wurden die gröbsten Verstösse gegen die Wirtschaftlichkeit und die Qualitätssicherung, welche als sanktionswürdig befunden wurden, in einer nicht abschliessenden Liste konkretisiert (Abs. 3). Deren lit. a ("Nichtbeachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes nach Artikel 56 Abs. 1") ersetzte den Begriff der "Überarztung" (BBl 2004 4315
BGE 141 V 25 S. 29
drittes Lemma). Eingedenk der dargelegten gesetzgeberischen Intention und der expliziten Erwähnung der Überarztung in den Materialien ist mit der Lehre davon auszugehen, dass beabsichtigt war, sämtliche "Sanktionen" (vgl. E. 8.4 hiernach) - darunter auch jene der Honorarrückerstattung - gegen fehlbare Leistungserbringer in einer einzigen, wirkungsvoller ausgestalteten (BBl 2004 4295) Norm zu vereinen. Dies spricht gegen die parallele Anwendbarkeit von
Art. 56 Abs. 2 und
Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG
bzw. für die ausschliessliche Anwendbarkeit letzterer Bestimmung auf jene Überarztungsfälle, die sich nach dem 23. Februar 2005 ereignet haben (nicht publ. E. 5.1).
8.4
Bei der Rückforderung gemäss
Art. 56 Abs. 2 KVG
ging es nach Lehre und Praxis um die Rückerstattung eines Indebitums (EUGSTER, Wirtschaftlichkeitskontrolle ambulanter ärztlicher Leistungen mit statistischen Methoden [nachfolgend: Wirtschaftlichkeitskontrolle], 2003, S. 288 Rz. 850) bzw. primär um die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes (EUGSTER, Rechtsprechung, a.a.O., N. 1 zu
Art. 59 KVG
). Die Honorarrückerstattung nach unwirtschaftlicher Behandlungsweise wurde weder als Strafe noch als Sanktion qualifiziert, womit kein Verschulden des Arztes vorausgesetzt war (EUGSTER, Wirtschaftlichkeitskontrolle, a.a.O., S. 288 Rz. 851 mit Hinweisen).
Die Rückerstattung der Honorare (
Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG
) steht neu unter dem Begriff "Sanktionen" (
Art. 59 Abs. 1 Satz 1 KVG
). Angesichts des Gesetzeswortlauts ist EUGSTER (Rechtsprechung, a.a.O., N. 1 zu
Art. 59 KVG
;
ders.
, Die obligatorische Krankenpflegeversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 672 Rz. 819 ff.; offengelassen jedoch
ders.
, Überarztung, a.a.O., S. 138 Rz. 121) der Ansicht, im Gegensatz zur bisherigen Praxis bedürfe eine Honorarrückerstattung unter der Geltung des revidierten
Art. 59 KVG
u.a. den Nachweis eines Verschuldens des Leistungserbringers. Die hievor dargelegte Entstehungsgeschichte der Bestimmung steht indes der Annahme klar entgegen, der Gesetzgeber habe restriktivere Voraussetzungen für eine Honorarrückforderung schaffen wollen. Im Gegenteil hebt die Botschaft die Steigerung der Wirksamkeit bzw. die Vermeidung einer relativen Straffreiheit für "schwarze Schafe" als Ziele hervor (BBl 2004 4295, 4315). Zudem wird in der nationalrätlichen Diskussion erwähnt, der vorgeschlagene Art. 59 sei nichts anderes als "une synthèse des dispositions existantes avec quelques détails supplémentaires" (Votum von Nationalrat Yves Guisan in AB 2004 N 1510). Somit erhellt sowohl aus der
BGE 141 V 25 S. 30
Botschaft als auch der parlamentarischen Beratung, dass keine grundlegende Änderung bzw. Einschränkung der Rückforderungsmöglichkeit beabsichtigt war, sondern der Gesetzgeber davon ausging, die bisherige Rechtspraxis werde im Wesentlichen weitergeführt. Mithin lässt sich nicht sagen, dass die Bezeichnung "Sanktionen" in
Art. 59 Abs. 1 KVG
- zumindest was lit. b betrifft - automatisch ein Verschulden mitumfasst. Vielmehr bleibt die zu
Art. 56 Abs. 2 KVG
ergangene Rechtsprechung auch unter der Herrschaft von
Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG
anwendbar, womit bei der Rückforderung weiterhin kein Verschulden des Leistungserbringers vorausgesetzt wird.