Urteilskopf
142 I 93
9. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_271/2015 vom 29. September 2015
Regeste
Art. 30 Abs. 1 BV
; Anspruch auf ein gesetzmässig besetztes Gericht; Wechsel im Spruchkörper.
Bei Änderungen des einmal besetzten Spruchkörpers ist es Aufgabe des Gerichts, die Parteien auf die beabsichtigte Auswechslung von mitwirkenden Richtern und die Gründe dafür hinzuweisen (E. 8).
Aus den Erwägungen:
8.1
Nach den Feststellungen der Vorinstanz hatte die Beschwerdeführerin bereits im Berufungsverfahren ihren Anspruch auf Beurteilung durch ein gesetzmässiges Gericht als verletzt gerügt, weil von den an der Hauptverhandlung anwesenden fünf Richtern nur noch der Präsident an der Fällung des Urteils beteiligt war. Die Vorinstanz trat aber auf die Rüge einer Verletzung von
Art. 30 Abs. 1 BV
nicht ein. Denn die Beschwerdeführerin habe nicht substanziiert behauptet, inwiefern der Wechsel des Spruchkörpers vorliegend ungerechtfertigt gewesen sein soll. Sie habe mit ihrer Berufung selber eingeräumt, dass eine Änderung des Spruchkörpers im Einzelfall zulässig sein könne.
BGE 142 I 93 S. 94
8.2
Die Vorinstanz stützte sich für ihren Nichteintretensentscheid nicht ausdrücklich auf eine bestimmte rechtliche Grundlage. Da sie nicht eintrat, ist indessen anzunehmen, dass sie die von ihr gerügte mangelhafte Substanziierung als Begründungsmangel im Sinn von
Art. 311 Abs. 1 ZPO
auffasste. Begründen im Sinn dieser Bestimmung bedeutet aufzuzeigen, inwiefern der angefochtene Entscheid fehlerhaft sei (
BGE 138 III 374
E. 4.3.1 S. 375; Urteile 4A_290/2014 vom 1. September 2014 E. 3.1 und 5A_438/2012 vom 27. August 2012 E. 2.2). Die vorliegende Kritik der Beschwerdeführerin bezog sich aber nicht auf den Inhalt des angefochtenen erstinstanzlichen Entscheids, sondern auf einen Verfahrensmangel. Diesbezüglich hat die Beschwerdeführerin konkret dargelegt,
worin
sie die Rechtsverletzung (
Art. 310 lit. a ZPO
) erblickt, nämlich im Auswechseln von vier Richtern. Mehr konnte von ihr nicht verlangt werden, zumal Art. 310 f. ZPO (anders als
Art. 106 Abs. 2 BGG
) keine Einschränkungen hinsichtlich von (Verfahrens-)Grundrechten vorsieht.
Sofern die Vorinstanz mit dem Hinweis auf die mangelhafte Substanziierung aber die Auffassung vertreten sollte, es sei Sache der Rechtssuchenden darzulegen, weshalb kein sachlicher Grund (negative Tatsache) für die Auswechslung bestand, auch wenn seitens des Gerichts kein Grund dafür bekannt gegeben wurde, verkennt sie die Tragweite des verfassungsrechtlichen Anspruchs. Im Zusammenhang mit dem ebenfalls aus
Art. 30 Abs. 1 BV
sich ergebenden Anspruch auf einen unabhängigen und unparteiischen Richter hat das Bundesgericht erkannt, dass es nicht Sache der Parteien sei, nach möglichen Einwendungen gegen die betroffenen Richter zu forschen, die sich nicht aus den öffentlich zugänglichen Informationen ergeben (
BGE 140 I 240
E. 2.4;
BGE 115 V 257
E. 4c S. 263; REGINA KIENER, Richterliche Unabhängigkeit, 2001, S. 360 f.). Es rechtfertigt sich, die Frage der Durchsetzung des Anspruchs auf eine gesetzmässige Besetzung des Spruchkörpers sinngemäss gleich zu beurteilen wie im Rahmen der Praxis zur Unabhängigkeit des Gerichts (so auch REGINA KIENER, Garantie des verfassungsmässigen Richters, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Merten/Papier [Hrsg.], Bd. VII/2, 2007, S. 719 Rz. 42). Es wäre daher Sache des Bezirksgerichts gewesen, auf die beabsichtigte Auswechslung der vier mitwirkenden Richterinnen und Richter und die Gründe dafür hinzuweisen. Erst wenn der Partei die Gründe für die Besetzungsänderung bekannt gegeben worden sind, liegt es an ihr,
BGE 142 I 93 S. 95
deren Sachlichkeit substanziiert zu bestreiten. Dieser Obliegenheit konnte die Beschwerdeführerin nicht nachkommen, da das Bezirksgericht den Parteien weder die beabsichtigte Änderung des Spruchkörpers bekannt gab noch sich zu deren Gründen äusserte. Der Vorwurf der Vorinstanz, die Beschwerdeführerin habe zu wenig substanziiert behauptet, weshalb der Wechsel ungerechtfertigt sei, entbehrt daher der Grundlage.
Die Vorinstanz hätte daher die geltend gemachte Verletzung von
Art. 30 Abs. 1 BV
prüfen müssen. Mangels Angabe von Gründen für die Auswechslung hätte sie das Bezirksgericht zumindest im Rahmen einer Vernehmlassung zur Berufung auffordern müssen, die Gründe für den Wechsel nachträglich anzugeben. Indem die Vorinstanz dies unterliess und nicht eintrat, verstiess sie ihrerseits gegen
Art. 30 Abs. 1 BV
.
8.3
Der Anspruch gemäss
Art. 30 Abs. 1 BV
ist formeller Natur, womit seine Verletzung ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides führt (Urteil 4A_217/2012 / 4A_277/2012 vom 9. Oktober 2012 E. 6, nicht publ. in:
BGE 138 I 406
betr. den Anspruch auf einen unabhängigen und unbefangenen Richter;
BGE 135 I 187
E. 2.2 mit Hinweisen betr. den Anspruch auf rechtliches Gehör; vgl. auch Urteil 5A_523/2014 vom 13. Januar 2015 E. 2.2 a.E.). Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie wie dargelegt vorgeht und erneut entscheidet. (...)