Urteilskopf
142 V 442
50. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen gegen Familienausgleichskasse Arbeitgeber Basel und Mitb. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_54/2016 vom 13. Juli 2016
Regeste
Art. 3 Abs. 1 lit. b FamZG
;
Art. 1 Abs. 1 FamZV
in Verbindung mit
Art. 25 Abs. 5 AHVG
und
Art. 49
bis
Abs. 3 AHVV
; Feststellung des massgebenden Einkommens.
Zur Feststellung des Erwerbseinkommens eines sich in Ausbildung befindenden Kindes wird auf das tatsächlich erzielte Bruttoerwerbseinkommen abgestellt; die Berücksichtigung eines hypothetischen Einkommens ist nicht zulässig (E. 5 und 6).
A.
Die Familienausgleichskasse Arbeitgeber Basel (nachfolgend: FAK) gewährte A. für ihren Sohn, geboren 1992, vom 1. Januar bis 31. August 2014 Ausbildungszulagen. Am 8. April 2014 (recte: 2015) liess A. die weitere Ausrichtung von Ausbildungszulagen für ihren Sohn beantragen. Die FAK verneinte am 7. Mai 2015 den Anspruch auf Ausbildungszulagen ab 1. September 2014, da die Ausbildung die zeitlichen Anforderungen nicht erfülle und die Möglichkeit bestehe, überwiegend einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Mit Einspracheentscheid vom 16. Juni 2015 hielt die FAK daran fest.
BGE 142 V 442 S. 443
B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt wies die dagegen erhobene Beschwerde am 30. November 2015 ab.
C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (nachfolgend: BSV) führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die Angelegenheit im Sinne der Erwägungen an die FAK zurückzuweisen.
Die FAK schliesst auf Abweisung der Beschwerde. A. verzichtet auf eine Stellungnahme.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
3.1
Nach
Art. 3 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes vom 24. März 2006 über die Familienzulagen (Familienzulagengesetz, FamZG; SR 836.2)
werden Ausbildungszulagen ab Ende des Monats, in welchem das Kind das 16. Altersjahr vollendet, bis zum Abschluss der Ausbildung ausgerichtet, längstens jedoch bis zum Ende des Monats, in welchem das Kind das 25. Altersjahr vollendet. Aus den Materialien zum FamZG ergeben sich keine Hinweise darauf, wie der Begriff Ausbildung zu verstehen ist (
BGE 138 V 286
E. 4.1 S. 288). Art. 1 Abs. 1 der Verordnung vom 31. Oktober 2007 über die Familienzulagen (Familienzulagenverordnung, FamZV; SR 836.21) statuiert, dass ein Anspruch auf eine Ausbildungszulage für jene Kinder besteht, die eine Ausbildung im Sinne des
Art. 25 Abs. 5 AHVG
absolvieren.
Art. 25 Abs. 5 Satz 2 AHVG
beauftragt den Bundesrat, den Begriff der Ausbildung zu regeln, was dieser mit den auf den 1. Januar 2011 in Kraft getretenen
Art. 49
bis
und 49
ter
AHVV
(SR 831. 101) getan hat. Dabei handelt es sich um unselbstständige Verordnungsnormen im Sinne von gesetzesvertretenden Bestimmungen, weshalb dem Bundesrat ein grosser Gestaltungsspielraum zukommt. Das Bundesgericht hat in
BGE 138 V 286
E. 4.2.2 S. 289 festgehalten, dass bezüglich des Begriffs der Ausbildung auf die Gerichts- und Verwaltungspraxis sowie namentlich die Weisungen des BSV verwiesen werden kann (
BGE 141 V 473
E. 3 S. 474 und E. 8.2 S. 477).
3.2
Art. 49
bis
Abs. 3 AHVV
lautet:
Nicht als in Ausbildung gilt ein Kind, wenn es ein durchschnittliches monatliches Erwerbseinkommen erzielt, das höher ist als die maximale volle Altersrente der AHV.
BGE 142 V 442 S. 444
L'enfant n'est pas considéré en formation si son revenu d'activité lucrative mensuel moyen est supérieur à la rente de vieillesse complète maximale de l'AVS.
Un figlio non è considerato in formazione se consegue un reddito da attività lucrativa mensile medio superiore all'importo massimo della rendita di vecchiaia completa dell'AVS.
Mit
BGE 142 V 226
hat das Bundesgericht die Gesetzeskonformität von
Art. 49
bis
Abs. 3 AHVV
bejaht.
4.
Die Vorinstanz erachtet die Voraussetzung des Aufwandes von 20 Wochenstunden als erfüllt. Jedoch verneint sie einen Anspruch auf Ausbildungszulagen, weil die Einkommensgrenze von Art. 49
bi
s
Abs. 3 AHVV überschritten sei. Dabei stützt sie sich nicht auf den Jahreslohn von Fr. 27'950.- (Fr. 2'150.- pro Monat zuzüglich 13. Monatslohn) für das vereinbarte Arbeitspensum von 50 %, sondern geht unter Verweis auf die Reduktion des Pensums von 60 % bei Ausbildungsbeginn auf nunmehr 50 % davon aus, dass es dem Sohn zumutbar wäre, auch weiterhin in diesem Umfang erwerbstätig zu sein. Die Beibehaltung des aktuellen Pensums zur Verbesserung des Ausbildungserfolgs könne aus objektiven Gesichtspunkten nicht berücksichtigt werden. Vielmehr müsse aus Gründen der rechtsgleichen Behandlung davon ausgegangen werden, dass ein höheres Einkommen erzielt werden könnte, zumal der Sohn nur an zwei Halbtagen pro Woche Unterricht habe und somit 80 % der üblichen Arbeitszeit frei sei. Die Frage, ob auch mehr als 60 % möglich seien, könne offengelassen werden, da er bereits bei diesem Pensum ein Einkommen erzielen würde, das über dem Betrag der vollen maximalen Altersrente liege. Unter Anrechnung dieses hypothetischen Einkommens bestehe aber kein Anspruch auf eine Ausbildungszulage. Ohne sie explizit zu nennen, argumentiert die Vorinstanz demnach mit der Schadenminderungspflicht.
Das BSV rügt die Anwendung eines objektiven Massstabs sowie die Zugrundelegung eines hypothetischen Einkommens durch die Vorinstanz. Die Anrechnung eines hypothetischen Einkommens widerspreche den anwendbaren Bestimmungen und den Weisungen des BSV; denn für die Beurteilung der Einkommensgrenze von
Art. 49
bis
Abs. 3 AHVV
sei nur das tatsächlich erzielte Einkommen zu berücksichtigen. So sei in Urteil 8C_875/2013 vom 29. April 2014 (publiziert in: SVR 2014 IV Nr. 24 S. 84) festgehalten worden, es sei nicht das vertraglich vereinbarte, sondern das effektiv erzielte Einkommen massgebend. Für die Berücksichtigung eines hypothetischen Einkommens fehle es an einer gesetzlichen Grundlage.
BGE 142 V 442 S. 445
Die FAK macht geltend, aus Gründen der Rechtsgleichheit sei bei der Ermittlung des Einkommens nach
Art. 49
bis
Abs. 3 AHVV
von dem auszugehen, was dem in Ausbildung befindenden Kind zugemutet werden könne. Werde nur auf das tatsächlich erzielte Einkommen abgestellt, liege es im Belieben einer Person, in welchem Pensum sie neben der Ausbildung noch arbeite. Im Übrigen bestreitet die FAK, dass die Ausbildung die zeitlichen Anforderungen erfüllt, da entgegen der vorinstanzlichen Feststellung bezogen auf die übliche Fünftagewoche zwei Halbtage Unterricht von jeweils vier Stunden zuzüglich zwei Stunden Selbststudium pro Tag insgesamt 18 statt der notwendigen 20 Wochenstunden ergebe und das Selbststudium gemäss Ausbildungsplan in der Freizeit zu erfolgen habe.
5.
Zu prüfen ist, wie das in
Art. 49
bis
Abs. 3 AHVV
genannte Einkommen zu ermitteln ist.
5.1
Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der massgeblichen Norm. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach der wahren Tragweite der Bestimmung gesucht werden, wobei alle Auslegungselemente zu berücksichtigen sind (Methodenpluralismus). Dabei kommt es namentlich auf den Zweck der Regelung, die dem Text zugrunde liegenden Wertungen sowie auf den Sinnzusammenhang an, in dem die Norm steht. Die Entstehungsgeschichte ist zwar nicht unmittelbar entscheidend, dient aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Namentlich zur Auslegung neuerer Texte, die noch auf wenig veränderte Umstände und ein kaum gewandeltes Rechtsverständnis treffen, kommt den Materialien eine besondere Bedeutung zu. Vom Wortlaut darf abgewichen werden, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Regelung wiedergibt. Sind mehrere Auslegungen möglich, ist jene zu wählen, die der Verfassung am besten entspricht. Allerdings findet auch eine verfassungskonforme Auslegung ihre Grenzen im klaren Wortlaut und Sinn einer Gesetzesbestimmung (
BGE 141 V 221
E. 5.2.1 S. 225;
BGE 140 V 449
E. 4.2 S. 455; je mit Hinweisen).
5.2
Verwaltungsweisungen richten sich grundsätzlich nur an die Durchführungsstellen und sind für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Indes berücksichtigt das Gericht die Kreisschreiben insbesondere dann und weicht nicht ohne triftigen Grund davon ab, wenn sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen und eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben
BGE 142 V 442 S. 446
enthalten. Dadurch trägt es dem Bestreben der Verwaltung Rechnung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten. Auf dem Wege von Verwaltungsweisungen dürfen keine über Gesetz und Verordnung hinausgehenden Einschränkungen eines materiellen Rechtsanspruchs eingeführt werden (
BGE 140 V 543
E. 3.2.2.1 S. 547 f.; vgl. auch
BGE 140 V 343
E. 5.2 S. 346; je mit Hinweisen).
5.3
Nach
Art. 2 FamZG
bezweckt die Ausrichtung von Familienzulagen einen Ausgleich an die finanziellen Lasten infolge der Kinder; mit anderen Worten sollen Eltern im Rahmen ihrer gesetzlichen Unterhaltspflicht (
Art. 276 ff. ZGB
) entlastet werden (vgl. KIESER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Familienzulagen [FamZG], Praxiskommentar, 2010, N. 76 Einleitung und N. 10 f. zu
Art. 2 FamZG
sowie MATTHEY/MAHON, Les allocations familiales, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 1998 Rz. 5; vgl. zum Ganzen auch die Botschaft vom 29. November 2013 zu einer Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Kindesunterhalt], BBl 2014 529, 578 f. zu Art. 285a E-ZGB). Gemäss KIESER/REICHMUTH sind die Ausbildungszulagen als Bedarfsleistungen konzipiert, da ab einem bestimmten Einkommen kein Anspruch auf eine Leistung mehr besteht (a.a.O., N. 15 Einleitung). Im Urteil 8C_875/2013 vom 29. April 2014 (publiziert in: SVR 2014 IV Nr. 24 S. 84) wird auf den effektiv erzielten und nicht den vertraglich vereinbarten Lohn abgestellt; dies stellt keine Einschränkung des zu berücksichtigenden Einkommens dar, war im beurteilten Fall doch der tatsächlich erzielte Lohn höher als der vertraglich vereinbarte, da Überstunden geleistet worden waren.
5.4
Das BSV verweist in Rz. 205 seiner Wegleitung zum Bundesgesetz über die Familienzulagen FamZG (FamZWL) auf die Rz. 3358 bis 3367 der Wegleitung über die Renten (RWL) in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung. Nach Rz. 3366 RWL erhalten Kinder, deren Bruttoerwerbseinkommen über dem Betrag einer maximalen vollen Altersrente liegt, keine Leistung; dabei werden Ersatzeinkommen wie etwa Taggelder der EO, der ALV oder der UV den Erwerbseinkommen gleichgestellt, hingegen nicht familienrechtliche Unterhaltszahlungen, Stipendien oder Renten (vgl. auch Rz. 209 und 211 FamZWL). Erstreckt sich die Ausbildung über mehr als ein Kalenderjahr, wird das Einkommen für jedes Kalenderjahr getrennt betrachtet; beginnt oder endet die Ausbildung während des Kalenderjahres, wird das durchschnittliche
BGE 142 V 442 S. 447
Erwerbseinkommen allein für die Zeit der Ausbildungsmonate ermittelt (Rz. 3367 RWL).
6.1
Art. 49
bis
Abs. 3 AHVV
spricht vom
erzielten
Erwerbseinkommen, so dass nach dem Wortlaut nur der tatsächliche Verdienst massgebend ist. Diese Auffassung liegt bereits dem Urteil 8C_875/2013 vom 29. April 2014 (publiziert in: SVR 2014 IV Nr. 24 S. 84) zugrunde. Demnach bleibt kein Raum, ein hypothetisches Einkommen zu berücksichtigen, auch wenn dies zumutbar wäre. Ebenso wenig ist gestützt auf den klaren Wortlaut Einkommen aus anderen Quellen (z.B. Vermögenserträge, Renten oder Unterhaltszahlungen der Eltern) in diese Berechnung miteinzubeziehen, spricht die Norm doch explizit von Erwerbseinkommen. Die Weisungen des BSV geben insofern eine gesetzeskonforme und überzeugende Umsetzung der massgebenden Bestimmungen wieder. Dieses Verständnis des Einkommens nach
Art. 49
bis
Abs. 3 AHVV
entspricht denn auch dem Sinn und Zweck der Norm, indem Eltern, deren (unter 25-jähriges) Kind sich in einer anerkannten Ausbildung befindet, finanziell entlastet werden sollen.
6.2
Die Schadenminderungspflicht (
BGE 140 V 267
E. 5.2.1 S. 274 mit Hinweisen) gilt im gesamten Bereich der Sozialversicherungen, wozu auch die Familienzulagen gehören (vgl.
Art. 1 FamZG
; vgl. auch SVR 2009 FZ Nr. 3 S. 9 E. 6.4.1 mit Hinweisen, 8C_881/2008, sowie KIESER/REICHMUTH, a.a.O., N. 15 f. Einleitung). Angesichts des klaren Ergebnisses im Rahmen der Auslegung (E. 6.1) kann aber offenbleiben, ob es überhaupt zulässig wäre, dem Leistungsansprecher (den Eltern) gestützt auf das Verhalten einer anderen Person (des sich in Ausbildung befindenden Kindes) und damit eines nicht im Einflussbereich der versicherten Person liegenden Umstandes (Ausübung einer Erwerbstätigkeit durch das in der Regel volljährige Kind) die Leistung zu verweigern; dabei wird nicht verkannt, dass vorliegend der Lohn gemäss dem auf 50 % reduzierten Arbeitspensum nur Fr. 11.- pro Monat unter dem zulässigen Maximum nach
Art. 49
bis
Abs. 3 AHVV
liegt. Da aber keine Anhaltspunkte für ein geradezu rechtsmissbräuchliches Verhalten (
Art. 2 Abs. 2 ZGB
) vorliegen, hat es damit sein Bewenden. Daran ändert auch das Gleichbehandlungsgebot von
Art. 8 Abs. 1 BV
nichts. Denn die beiden Sachverhalte sind nicht vergleichbar, weil im einen Fall tatsächlich vorhandenes Einkommen vorliegt, im anderen aber hypothetisches und damit nicht tatsächlich verfügbares Einkommen berücksichtigt werden soll.
BGE 142 V 442 S. 448
6.3
Ebenfalls nicht stichhaltig ist der Einwand der FAK, die zeitlichen Voraussetzungen an den Ausbildungsbegriff seien nicht erfüllt. Sie übersieht dabei, dass gemäss Stundenplan der Fachhochschule die zwei Halbtage Unterricht 10 Stunden (Unterrichtszeiten: 7.30 bis 12.30 und 13.00 bis 18.00 resp. freitags 13.30 bis 18.30) ausmachen, so dass mit den täglich zwei Stunden Selbststudium die insgesamt notwendigen 20 Wochenstunden (vgl. Rz. 3359 RWL) knapp ausgewiesen sind.
6.4
Die Sache ist demnach unter Aufhebung des vorinstanzlichen und des Einspracheentscheids an die FAK zurückzuweisen, damit sie den Anspruch auf eine Ausbildungszulage unter Bejahung des Ausbildungsbegriffs in zeitlicher Hinsicht und unter Zugrundelegung des tatsächlich erzielten Erwerbseinkommens prüfe. (...)