Urteilskopf
143 V 77
7. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle Appenzell Ausserrhoden (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_297/2016 vom 7. April 2017
Regeste
Art. 14 in Verbindung mit
Art. 8 EMRK
; lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 des IVG (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket);
Art. 28a IVG
; gemischte Methode der Invaliditätsbemessung.
Im Rahmen einer Anspruchsüberprüfung nach den Schlussbestimmungen der 6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket, hat ein rein familiär bedingter Statuswechsel, auch wenn er nicht den Anlass für die Einleitung des Verfahrens zur Rentenüberprüfung bildete, unberücksichtigt zu bleiben, so dass der von der versicherten Person bisher innegehabte Status für die Invaliditätsbemessung beizubehalten ist (E. 3.2.3).
A.a
Die am 1. Januar 1959 geborene A., gelernte Schneiderin, zuletzt während einiger Jahre Inhaberin zweier Gastrobetriebe, meldete sich im August 1999 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an unter Hinweis auf die Folgen eines am 30. Juli 1997 erlittenen Auffahrunfalls. Die IV-Stelle Appenzell Ausserrhoden
BGE 143 V 77 S. 78
sprach ihr als berufliche Massnahmen eine Umschulung zur Übersetzerin und einen Windows-Grundkurs zu (Mitteilung vom 11. Mai und Verfügung vom 14. Juli 2000). Für die Zeit der Umschulung wurde ihr ein Taggeld ausgerichtet (Verfügung vom 19. Juli 2000). Des Weitern bejahte die Verwaltung mit Verfügung vom 19. Juli 2000 aufgrund eines anhand der Einkommensvergleichsmethode ermittelten Invaliditätsgrades von 75 % für die Zeit ab 1. August 1998 den Anspruch auf eine ganze Invalidenrente.
Im Juni 2001 brach die Versicherte die Umschulung zur Übersetzerin aufgrund psychischer Probleme ab. In der Folge verfügte die IV-Stelle anstelle der zwischenzeitlich während der Umschulung ausgerichteten Taggelder rückwirkend ab 1. Juni 2001 wieder eine ganze Invalidenrente (Verfügung vom 7. November 2001).
A.b
Mit Mitteilung vom 26. September 2002 bestätigte die IV-Stelle einen unveränderten Rentenanspruch. Nachdem A. am 5. Juni 2009 Zwillinge geboren hatte, sprach ihr die IV-Stelle zusätzlich mit Wirkung ab 1. Juni 2009 zwei Kinderrenten zu (Verfügungen vom 14. Juli 2010).
A.c
Im Rahmen eines Mitte Oktober 2012 eingeleiteten Revisionsverfahrens klärte die IV-Stelle die medizinischen Verhältnisse ab, wozu sie insbesondere bei der Academy of Swiss Insurance Medicine (asim), Universitätsspital Basel, ein polydisziplinäres Gutachten einholte, welches am 31. Dezember 2013 erstattet wurde. Des Weitern liess sie eine Haushaltabklärung durchführen. Die Abklärungsperson ging davon aus, A. wäre ohne gesundheitliche Beeinträchtigung zu 30 % erwerbstätig und zu 70 % im Haushalt beschäftigt. Sie ermittelte für den Haushaltbereich eine Einschränkung von 16,95 %. In ihrem Vorbescheid vom 1. Juli 2014 verneinte die IV-Stelle eine Einbusse in dem mit 30 % gewichteten erwerblichen Bereich (Teilinvaliditätsgrad von 0 %) und erkannte in dem mit 70 % gewichteten Haushaltbereich auf einen Teilinvaliditätsgrad von (gerundet) 12 %. Dementsprechend stellte sie der Versicherten die Aufhebung der Rente auf das Ende des der Zustellung der Verfügung folgenden Monats in Aussicht. Nach Einwand der Versicherten verfügte die Verwaltung am 17. November 2014 im angekündigten Sinne.
B.
Beschwerdeweise liess A. beantragen, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und es sei ihr weiterhin eine ganze Invalidenrente auszurichten. Eventualiter sei die Sache zur weiteren
BGE 143 V 77 S. 79
Abklärung und Einholung eines polydisziplinären neutralen Gutachtens an die Vorinstanz zurückzuweisen. Mit Entscheid vom 18. November 2015 wies das Obergericht Appenzell Ausserrhoden die Beschwerde ab.
C.
A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, und es sei ihr weiterhin eine ganze Rente auszurichten. Eventualiter sei die Sache einerseits zur weiteren Abklärung betreffend das Verhältnis zwischen dem erwerblichen und dem Haushaltbereich sowie anderseits zur Einholung eines polydisziplinären neutralen medizinischen Gutachtens an die IV-Stelle zurückzuweisen. Subeventualiter sei die Verwaltung anzuweisen, ihr eine Viertelsrente auszurichten.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
Aus den Erwägungen:
3.1
Im Rahmen des von ihr Mitte Oktober 2012 nach den Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 des IVG (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket) eingeleiteten Revisionsverfahrens ging die IV-Stelle neu davon aus, dass die Versicherte, da sie im Juni 2009 Mutter von Zwillingen geworden war, nicht mehr als Vollerwerbstätige, sondern als Teilerwerbstätige mit einem Aufgabenbereich zu qualifizieren sei. Dementsprechend nahm die Verwaltung die Invaliditätsbemessung neu statt mittels eines Einkommensvergleichs (
Art. 28a Abs. 1 IVG
in Verbindung mit
Art. 16 ATSG
) nach der gemischten Methode (
Art. 28a Abs. 3 IVG
) vor, welche bei gleichzeitiger Berücksichtigung eines verbesserten Gesundheitszustandes (vgl. dazu nicht publ. E. 4) einen rentenausschliessenden Invaliditätsgrad ergab. Dies führte zur Aufhebung der bisher ausgerichteten ganzen Invalidenrente mit Wirkung auf Ende Dezember 2014 (Verfügung vom 17. November 2014).
3.2
Zu prüfen ist, ob sich diese von der Vorinstanz bestätigte Rentenaufhebung mit dem inzwischen ergangenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)
Di Trizio gegen Schweiz
vom 2. Februar 2016 (7186/09), welches am 4. Juli 2016 endgültig geworden ist, vereinbaren lässt.
BGE 143 V 77 S. 80
3.2.1
Dem EGMR-Urteil vom 2. Februar 2016 lag der Fall einer Versicherten zugrunde, welche unter dem Status einer Vollerwerbstätigen eine Invalidenrente beanspruchen konnte, und diesen Anspruch allein aufgrund des Umstandes verlor, dass sie wegen der Geburt ihrer Kinder und der damit einhergehenden Reduktion des Erwerbspensums für die Invaliditätsbemessung neu als Teilerwerbstätige mit einem Aufgabenbereich qualifiziert wurde. Der EGMR betrachtete es als Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit
Art. 8 EMRK
(Recht auf Achtung des Familienlebens), dass die sich aus dem Statuswechsel ergebende Änderung in den Grundlagen der Invaliditätsbemessung - anstelle des auf Vollerwerbstätige anwendbaren Einkommensvergleichs (
Art. 28a Abs. 1 IVG
in Verbindung mit
Art. 16 ATSG
) gelangte nun die gemischte Methode (
Art. 28a Abs. 3 IVG
) zur Anwendung - zur Aufhebung der Invalidenrente führte und sich damit zu Ungunsten der Versicherten auswirkte.
3.2.2
In
BGE 143 I 50
E. 4.1 und 4.2 S. 58 f. (ergangen zur Umsetzung des EGMR-Urteils vom 2. Februar 2016) sowie
BGE 143 I 60
E. 3.3.4 S. 64 entschied das Bundesgericht, dass zwecks Herstellung eines konventionskonformen Zustandes in derartigen Konstellationen, in welchen allein familiäre Gründe (die Geburt von Kindern und die damit einhergehende Reduktion des Erwerbspensums) für einen Statuswechsel von "vollerwerbstätig" zu "teilerwerbstätig mit Aufgabenbereich" sprechen, fortan auf die (alleine darauf beruhende) revisionsweise Aufhebung oder Herabsetzung der Invalidenrente im Sinne von
Art. 17 Abs. 1 ATSG
zu verzichten ist (vgl. auch IV-Rundschreiben Nr. 355 des BSV vom 31. Oktober 2016).
3.2.3
Der hier zu beurteilende Sachverhalt unterscheidet sich von den in E. 3.2.2 genannten Fällen dadurch, dass die IV-Stelle nicht den Statuswechsel der Beschwerdeführerin zum Anlass für die Überprüfung der Rente nahm, sondern sich bei der Einleitung des Verfahrens auf andere Gründe - die Anspruchsüberprüfung nach den Schlussbestimmungen der 6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket - stützte (E. 3.1 hiervor). Unter dem Gesichtspunkt der EMRK-Konformität der Invaliditätsbemessung vermag dies allerdings keine unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen. Auch wenn der rein familiär bedingte Statuswechsel nicht den Anlass für die Einleitung des Verfahrens zur Rentenüberprüfung bildete, hat er im Rahmen desselben unberücksichtigt zu bleiben, so dass der von der versicherten Person bisher innegehabte Status für die Invaliditätsbemessung beizubehalten ist.
BGE 143 V 77 S. 81
3.2.4
Damit ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin - ungeachtet des Umstandes, dass sie im Juni 2009 Mutter geworden ist - auch im Rahmen des Rentenüberprüfungsverfahrens, das die IV-Stelle Mitte Oktober 2012 aus anderen Gründen als dem Statuswechsel eingeleitet hat, wie bis anhin als Vollerwerbstätige gilt. (...)