BGE 146 II 145 vom 4. Februar 2020

Dossiernummer: 2C_534/2019

Datum: 4. Februar 2020

Artikelreferenzen:  Art. 105 BGG , Art. 4 Anhang I FZA, Art. 12 ff. Anhang I FZA, Art. 105 Abs. 2 BGG

BGE referenzen:  144 II 121 , 144 II 121

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

146 II 145


13. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Staatssekretariat für Migration gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_534/2019 vom 4. Februar 2020

Regeste

Art. 4 Anhang I FZA ; Art. 2 Abs. 1 Bst. a Richtlinie 75/34/EWG; Aufenthaltsanspruch nach Beendigung einer selbständigen Erwerbstätigkeit, sofern die betroffene Person bereits bei der Einreise in die Schweiz das ordentliche Rentenalter erreicht hatte.
Ein Verbleiberecht nach Art. 4 Anhang I FZA i.V.m. Art. 2 Abs. 1 Bst. a der Richtlinie 75/34/EWG besteht auch dann, wenn die aufenthaltsbegründende selbständige Erwerbstätigkeit in der Schweiz ursprünglich bereits nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters aufgenommen wurde (E. 3.2.6-3.2.11). Jedoch muss die selbständige Erwerbstätigkeit ernsthaft ausgeübt worden sein (E. 3.2.12).

Erwägungen ab Seite 146

BGE 146 II 145 S. 146

3. (...)

3.2.3 Der Beschwerdegegner macht jedoch ein Verbleiberecht nach Art. 4 Anhang I FZA (SR 0.142.112.681) geltend, was das Staatssekretariat für Migration (SEM) bestreitet. Es geht davon aus, dass ein Verbleiberecht nur bestehe, wenn die Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit spätestens drei Jahre vor dem Erreichen des Rentenalters erfolgt sei; der Beschwerdegegner habe jedoch die entsprechende Aufenthaltsbewilligung erst im Alter von 73 Jahren erworben und erfülle somit die Voraussetzungen des Verbleiberechts nicht. Der Beschwerdegegner bestreitet diese Voraussetzung.
(...)

3.2.6 Gemäss Art. 4 Anhang I FZA haben die Staatsangehörigen einer Vertragspartei und ihre Familienangehörigen nach Beendigung ihrer Erwerbstätigkeit ein Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei. Dabei wird für Arbeitnehmer auf die Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 der Kommission vom 29. Juni 1970 über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates zu verbleiben (ABl. L 142 vom 30. Juni 1970 S. 24 ff.; hiernach: Verordnung Nr. 1251/70) und für Selbständigerwerbende auf die Richtlinie des Rates vom 17. Dezember 1974 über das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, nach Beendigung der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates zu verbleiben (ABl. L 14 vom 20. Januar 1975 S. 10; hiernach: Richtlinie 75/34/EWG) Bezug genommen. Der Beschwerdegegner war in der Schweiz nicht als Arbeitnehmer, sondern als Selbständigerwerbender tätig, so dass die Richtlinie 75/34/EWG Anwendung findet.
BGE 146 II 145 S. 147

3.2.7 Gemäss Art. 2 Abs. 1 Bst. a der Richtlinie 75/34/EWG (analog zu Art. 2 Abs. 1 Bst. a der Verordnung Nr. 1251/70) erkennen die Mitgliedstaaten das Recht auf ständiges Verbleiben in ihrem Hoheitsstaat zu "dem Selbständigen, der zu dem Zeitpunkt, in dem er seine Tätigkeit aufgibt, das nach der Gesetzgebung dieses Mitgliedstaats vorgeschriebene Alter für die Geltendmachung einer Altersrente erreicht hat, in diesem Mitgliedstaat mindestens in den letzten zwölf Monaten seine Tätigkeit ausgeübt und sich dort seit mindestens drei Jahren ständig aufgehalten hat. Wird nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats bestimmten Gruppen von Selbständigen kein Anspruch auf Altersrente zuerkannt, so gilt die Altersvoraussetzung als erfüllt, sobald der Begünstigte das 65. Lebensjahr vollendet hat."

3.2.8 Dem Wortlaut dieser Bestimmung lässt sich nicht entnehmen, dass das Verbleiberecht nur dann bestehen soll, wenn die Erwerbstätigkeit vor dem ordentlichen Rentenalter aufgenommen wurde. Vielmehr besagt bereits der Wortlaut, dass ein Aufenthaltsrecht besteht, wenn im Aufenthaltsstaat im letzten Jahr eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde, insgesamt ein mindestens drei- jähriger ständiger Aufenthalt vorliegt und dass die anspruchsberechtigte Person bei Aufgabe der selbständigen Erwerbstätigkeit das ordentliche Rentenalter von 65 Jahren überschritten haben muss. Die Auffassung des SEM, wonach ein Verbleiberecht nach Art. 4 Anhang I FZA nur bestehe, wenn die Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit spätestens drei Jahre vor dem Erreichen des Rentenalters erfolgt sei, findet im Wortlaut der Bestimmung keinen Halt.

3.2.9 Auch eine Auslegung nach dem Sinn und Zweck der Norm führt zum Ergebnis, dass es nicht die Intention der Vertragsparteien gewesen sein kann, dass ein Verbleiberecht nach Art. 4 Anhang I FZA nur dann bestehen soll, wenn die Erwerbstätigkeit vor dem ordentlichen Rentenalter aufgenommen wurde. Sinn und Zweck des FZA ist es, dass es den FZA-Bürgern und Bürgerinnen unter anderem ermöglicht wird, ihrer selbständigen Erwerbstätigkeit im ganzen EU/EFTA-Raum und in der Schweiz möglichst hindernisfrei nachzugehen (Art. 1 Bst. a FZA, Art. 12 ff. Anhang I FZA ). Das FZA schreibt indes nicht vor, bis in welches Alter eine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden darf. Führt man sich in diesem Zusammenhang zusätzlich vor Augen, dass es gerade bei den freien Berufen, worunter die Tätigkeit als Arzt gehört, auch in der Schweiz nicht unüblich und gesetzlich nicht verboten ist, die Erwerbstätigkeit auch nach Erreichen
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des ordentlichen Rentenalters weiterzuführen, kann es nicht Sinn und Zweck von Art. 4 Anhang I FZA sein, dass ein Verbleiberecht nach Aufgabe der selbständigen Erwerbstätigkeit nur dann bestehen soll, wenn diese Erwerbstätigkeit im Aufenthaltsstaat ursprünglich vor dem Erreichen des ordentlichen Rentenalters aufgenommen wurde.

3.2.10 Ein möglicher Hinweis für die Auffassung des SEM könnte sich aus den Erwägungsgründen zur Richtlinie 75/34/EWG ergeben, wonach das Recht gesichert werden soll, im Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaats zu verbleiben, sobald die dortige Tätigkeit "wegen Erreichen des Rentenalters oder infolge dauernder Arbeitsunfähigkeit" endet, was nicht der Fall wäre, wenn die Erwerbstätigkeit nach dem Erreichen des Rentenalters erst aufgenommen wurde. Auch einige Aussagen in der Rechtsprechung scheinen grundsätzlich davon auszugehen, dass die Verbleiberechte nach Art. 2 Abs. 1 Bst. a der Richtlinie 75/34/EWG voraussetzen, dass die Erwerbstätigkeit wegen des Erreichens des Rentenalters aufgegeben wurde, mithin dass die Erwerbstätigkeit vor dem Eintritt ins Rentenalter ausgeübt worden sein muss ( BGE 144 II 121 E. 3.5 und 3.5.1 S. 126 f.; Urteil 2C_243/2015 vom 2. November 2015 E. 3.3.3). Indes gilt es diese Aussagen zu relativieren, da der Aspekt, ob die selbständige Erwerbstätigkeit erst nach Erreichen des Rentenalters aufgenommen wurde, in diesen konkret zu beurteilenden Fällen jeweils nicht entscheiderheblich war oder gar nicht zur Debatte stand, da die beschwerdeführenden Personen das Rentenalter noch nicht erreicht hatten oder gar keine einjährige Erwerbstätigkeit bestand. Die Berücksichtigung der weiteren Erwägungsgründe zur Richtlinie 75/34/EWG zeigt weiter auf, dass der Umstand, dass eine Person nach Erreichen des Rentenalters in einen FZA-Mitgliedsstaat einreist und dort weiterhin einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachgeht, gar nicht angedacht wurde.

3.2.11 Nach dem Gesagten ergeben sich aus dem Wortlaut bzw. der gewöhnlichen Bedeutung, dem Sinn und Zweck der Bestimmung sowie aus den Erwägungsgründen zur Richtlinie 75/34/EWG keine überzeugenden Anhaltspunkte für die Auffassung des SEM, wonach ein Verbleiberecht nach Art. 4 Anhang I FZA nur bestehe, wenn die Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit spätestens drei Jahre vor dem Erreichen des Rentenalters erfolgt sei. Vielmehr ergibt sich aus der Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Bst. a der Richtlinie 75/34/EWG, dass ein Verbleiberecht im vorliegenden Fall auch dann besteht, wenn
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die selbständige Erwerbstätigkeit in der Schweiz nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters aufgenommen wurde. Der Beschwerdeführer kann sich somit grundsätzlich auf einen Aufenthaltsanspruch nach Art. 4 Anhang I FZA berufen.

3.2.12 Zu berücksichtigen ist jedoch, dass ein Aufenthaltsanspruch nach Art. 4 Anhang I FZA bedingt, dass tatsächlich eine ernsthafte selbständige Tätigkeit ausgeübt wurde. Aus den kantonalen Vorakten, auf die hier zurückgegriffen werden kann ( Art. 105 Abs. 2 BGG ), ergibt sich, dass der Beschwerdegegner aus seiner selbständigen Erwerbstätigkeit als Arzt im Jahr 2012 einen Reingewinn von lediglich Fr. 241.- erwirtschaftet hat. Dies deutet darauf hin, dass er seine berufliche Tätigkeit in der Schweiz womöglich nicht effektiv ausgeübt hat. Die Vorinstanz hat den Sachverhalt diesbezüglich nicht abgeklärt, weshalb es dem Bundesgericht nicht möglich ist, abschliessend darüber zu befinden. Die Frage, ob der Beschwerdeführer in der Schweiz tatsächlich einer selbständigen Erwerbstätigkeit als Arzt nachgegangen ist und sich deshalb auf einen Aufenthaltsanspruch nach Art. 4 Anhang I FZA berufen kann, wird durch die Vorinstanz abzuklären sein.

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