Urteilskopf
146 II 304
22. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. AG und Mitb. gegen Einwohnergemeinde Saas-Balen und Staatsrat des Kantons Wallis (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_22/2019 / 1C_476/2019 vom 6. April 2020
Regeste
Besitzstandsschutz von zonenwidrigen Bauten ausserhalb der Bauzone im Gewässerraum (
Art. 41c Abs. 2 GSchV
;
Art. 24c RPG
).
Art. 41c GSchV
enthält eine gegenüber
Art. 24c RPG
eigenständige Besitzstandsgarantie (abweichend von Urteil 1C_345/2014 vom 17. Juni 2015 E. 4). Diese orientiert sich an der verfassungsmässigen Besitzstandsgarantie und umfasst den Bestand, die Weiternutzung und den Unterhalt von Bauten sowie Änderungen, welche die Funktionen des Gewässerraums nicht berühren. Unzulässig ist dagegen die Erweiterung oder der Wiederaufbau zonenwidriger Bauten ausserhalb der Bauzone im Gewässerraum (E. 9).
A.
Aufgrund einer Information der Dienststelle für Umweltschutz über die Lagerung von grösseren Mengen mineralischer Bauabfälle am Standort der A. AG, Bauunternehmung in X. (Gemeinde Saas-Balen), verfügte die kantonale Baukommission des Kantons Wallis (KBK) am 11. September 2013 die sofortige Arbeitseinstellung.
B.
Am 5. Dezember 2013 verfügte die KBK, die A. AG, B. und C. hätten auf den Parzellen Nrn. a, b, c, d, Blatt Nr. x, im Orte genannt "Y." auf dem Gebiet der Gemeinde Saas-Balen, den rechtmässigen Zustand wiederherzustellen, indem sie die aus Containern bestehende Baute komplett abbrechen, die Inertstoffe und den Aushub (soweit noch vorhanden) umweltgerecht entsorgen und sämtliche Baumaterialien, Container usw. entfernen. Das Gelände sei wieder so herzustellen, dass es dem natürlichen Geländeverlauf entspreche. Die Pflanzendecke sei wieder herzustellen und die Grundstücke seien wieder ihrer ursprünglichen landwirtschaftlichen Nutzung zuzuführen.
C.
Dagegen erhoben die A. AG sowie B. und C. am 8. Januar 2014 Beschwerde beim Staatsrat des Kantons Wallis. Dieser wies die Beschwerde am 21. Februar 2018 ab.
Das Kantonsgericht Wallis wies die dagegen gerichtete Beschwerde der A. AG sowie von B. und C. am 23. November 2018 ab.
D.
Dagegen haben die A. AG sowie B. und C. am 14. Januar 2019 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht erhoben. Sie beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben; eventualiter sei die Sache zur Ergänzung der Akten und erneuter Prüfung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sie berufen sich insbesondere auf eine von der Gemeinde nachträglich aufgefundene Baubewilligung vom 18. September 1967, von der sie erstmals am 31. Dezember 2018 Kenntnis erhalten hätten.
Das bundesgerichtliche Verfahren 1C_22/2019 wurde bis zum Entscheid des Kantonsgerichts über das Revisionsgesuch sistiert und anschliessend wieder aufgenommen. Am 22. Oktober 2019 (mit Ergänzung vom 23. Dezember 2019) äusserte sich das Bundesamt für Umwelt (BAFU) zu den umweltrechtlichen Aspekten der Beschwerden. Gemäss Auskunft des Kantons sei der Gewässerraum von der
BGE 146 II 304 S. 306
Gemeinde Saas-Balen am 2. April 2017 eigentümerverbindlich festgelegt und vom Staatsrat am 20. Juni 2018 genehmigt und homologiert worden.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung)
Aus den Erwägungen:
9.
Parzelle Nr. a befindet sich heute vollständig im Gewässerraum der Saaser Vispa, in dem nur standortgebundene, im öffentlichen Interesse liegende Anlagen erstellt werden dürfen (
Art. 41c Abs. 1 GSchV
[SR 814.201]). Bestehende Bauten und Anlagen sind gemäss
Art. 41c Abs. 2 GSchV
in ihrem Bestand grundsätzlich geschützt, sofern sie rechtmässig erstellt wurden und bestimmungsgemäss nutzbar sind.
9.1
In Literatur und Rechtsprechung ist streitig, ob
Art. 41c Abs. 2 GSchV
bei zonenwidrigen Bauten ausserhalb der Bauzone eigenständige Bedeutung zukommt, oder ob sich der Besitzstandsschutz für diese Kategorie von Bauten nach
Art. 24c RPG
(SR 700) richtet.
9.1.1
Letztere Auffassung vertrat das Bundesgericht im Urteil 1C_345/2014 vom 17. Juni 2015 E. 4 (in: URP 2015 S. 706; RDAF 2016 I S. 394), gestützt auf eine Äusserung des BAFU (im Erläuternden Bericht vom 20. April 2011 zur Parlamentarischen Initiative Schutz und Nutzung der Gewässer [07.492] - Änderung der Gewässerschutz-, Wasserbau-, Energie- und Fischereiverordnung, S. 15; nachfolgend: Erläuternder Bericht). Es ging davon aus, dass die Belange des Gewässerschutzes im Rahmen der Interessenabwägung nach
Art. 24c Abs. 5 RPG
und
Art. 43a lit. e RPV
(SR 700.1) zu berücksichtigen seien.
9.1.2
In der Literatur wird dieser Entscheid kritisiert (CHRISTOPH FRITZSCHE, in: Kommentar zum Gewässerschutzgesetz und zum Wasserbaugesetz, Hettich/Jansen/Norer [Hrsg.], 2016, N. 138 zu
Art. 36a GSchG
; CORDELIA BÄHR, Neun Jahre Gewässerraum, ein Rechtsprechungsbericht, URP 2020 S. 44-49) und die Auffassung vertreten, nach Wortlaut, Systematik und Zweck enthalte
Art. 41c Abs. 2 GSchV
eine eigenständige Besitzstandsgarantie, die sich am Ziel der Gewährleistung der Gewässerfunktionen i.S.v.
Art. 36a Abs. 1 GSchG
(SR 814.20) sowie an der Eigentumsgarantie (
Art. 26 BV
) und dem Vertrauensschutz (
Art. 9 BV
) orientiere, d.h. an der verfassungsmässigen
BGE 146 II 304 S. 307
Besitzstandsgarantie (BÄHR, a.a.O., S. 4; so auch - jedenfalls für Bauten ausserhalb der Bauzone - HANS W. STUTZ, Uferstreifen und Gewässerraum - Umsetzung durch die Kantone, URP 2012 S. 103 und NINA MASSÜGER SÁNCHEZ SANDOVAL, Bestandesschutz von Bauten und Anlagen innerhalb des Gewässerraums im Kanton Zürich, PBG-aktuell 4/2012 S. 23-25; in diesem Sinne auch verschiedene kantonale Entscheide; vgl. Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen, B 2013/153 vom 24. März 2015 E. 5.1; Urteile des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, VGE 100.2012.463 vom 7. Juli 2014 E. 8.4, in: URP 2014 S. 668; VGE 100.2013.134 vom 16. Dezember 2014 E. 7.5.1).
9.2
Die Kritik erscheint berechtigt.
Seinem Wortlaut nach schützt
Art. 41c Abs. 2 GSchV
altrechtliche Bauten nur "in ihrem Bestand" (wie
Art. 24c Abs. 1 RPG
), ohne die Änderung, Erweiterung oder den Wiederaufbau zu erwähnen, die nach
Art. 24c Abs. 2 RPG
gestattet sind, oder auf diese Bestimmung zu verweisen.
Art. 24c RPG
erlaubt lediglich Ausnahmen vom Erfordernis der Zonenkonformität. Bauten im Gewässerraum sind aber gewässerschutzrechtlich widerrechtlich, und zwar unabhängig davon, ob sie in der Landwirtschaftszone zonenkonform oder zonenwidrig sind. Dementsprechend fehlt eine raumplanungsrechtliche Regelung für zonenkonforme Bauten im Gewässerraum.
Gegen einen erweiterten Besitzstandsschutz nach
Art. 24c Abs. 2 RPG
im Gewässerraum spricht der erhöhte Schutz vor Überbauung, den dieser im Vergleich zur Landwirtschaftszone geniesst: Nach
Art. 41c Abs. 1 GSchV
genügt die Standortgebundenheit in der Landwirtschaftszone nicht, sondern Bauten und Anlagen müssen auf einen Standort im Gewässerraum angewiesen sein (vgl. BAFU, Erläuternder Bericht, S. 14; FRITZSCHE, a.a.O., N. 114-116 zu
Art. 36a GSchG
) und im öffentlichen Interesse liegen. Dies belegt das gewichtige öffentliche Interesse an der Freihaltung der Gewässerräume, welche die natürlichen Funktionen der Gewässer (
Art. 36a Abs. 1 lit. a GSchG
; vgl. dazu
BGE 140 II 428
E. 2.1 S. 430 f.) und die für den Hochwasserschutz notwendige Abflusskapazität gewährleisten (
Art. 36a Abs. 1 lit. b GSchG
und Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 21. Juni 1991 über den Wasserbau; SR 721.100). Uferbereiche sind überdies als wichtiger Lebensraum für Tiere und Pflanzen sowie als Vernetzungskorridor besonders schutzwürdig
BGE 146 II 304 S. 308
(Art. 18 Abs. 1
bis
des Bundesgesetzes vom 1. Juli 1966 über den Natur- und Heimatschutz [NHG; SR 451]; Art. 14 Abs. 3 lit. e der Verordnung vom 16. Januar 1991 über den Natur- und Heimatschutz [NHV; SR 451.1]; vgl. auch
Art. 21 NHG
zur Ufervegetation). Die Freihaltung der Ufer ist schliesslich Voraussetzungen für eine spätere Revitalisierung der Gewässer (
Art. 38a GSchG
).
Zwar trifft es zu, dass
Art. 41c Abs. 2 GSchV
den Besitzstandsschutz im Unterschied zu
Art. 24c RPG
lediglich auf Verordnungsstufe regelt (so Urteil 1C_345/2014 vom 17. Juni 2015 E. 4.1.3, in: URP 2015 S. 706; RDAF 2016 I S. 394). Das spricht aber nicht gegen einen restriktiveren Besitzstandsschutz: Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er auch für die nach
Art. 36a GSchG
geschützten Gewässerraume einen erweiterten Besitzstandsschutz einräumen will. Mangels einer gesetzlichen Regelung gilt nur (aber immerhin) der aus der Eigentumsgarantie und dem Vertrauensschutz abgeleitete verfassungsrechtliche Besitzstandsschutz (so auch zit. Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen, a.a.O., E. 5.1).
Dieser umfasst den Bestand, die Weiternutzung und den Unterhalt von Bauten. Zulässig dürften - unter Berücksichtigung des Normzwecks und des Verhältnismässigkeitsprinzips - auch Umbauten sein, welche die Funktionen des Gewässerraums nicht berühren, wie die im Entscheid 1C_345/2014 vom 17. Juni 2015 streitige Installation von Solarzellen auf einer bestehenden Baute (diese ist heute nach
Art. 18a Abs. 1 RPG
in der Regel sogar ohne Baubewilligung zulässig). Dagegen dürfen zonenwidrige Bauten ausserhalb der Bauzone im Gewässerraum weder erweitert noch wiederaufgebaut werden, weil dadurch der gewässerrechtswidrige Zustand verstärkt und über die Lebensdauer der ursprünglich bewilligten Baute hinaus perpetuiert würde. Dies würde das Ziel von
Art. 36a GSchG
, die Gewässerräume zumindest auf längere Sicht von Bauten und Anlagen freizuhalten, vereiteln.
9.3
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der ohne Baubewilligung erfolgte Wiederaufbau der altrechtlichen Baute auf Parzelle Nr. a im Gewässerraum auch nachträglich nicht bewilligt werden kann. Daran ändert der Einwand der Beschwerdeführer nichts, dass die Saaser Vispa heute verbaut ist und die Bauten auf der angrenzenden Parzelle GBV Nr. e einer Revitalisierung zumindest kurzfristig entgegenstehen.