BGE 150 I 68 vom 1. September 2023

Dossiernummer: 4A_299/2023

Datum: 1. September 2023

Artikelreferenzen:  Art. 30 BV, Art. 47 ZPO, Art. 49 ZPO , Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 47-49 ZPO

BGE referenzen:  134 I 20, 139 III 120, 149 I 14

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

150 I 68


7. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Jaissle und B. (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_299/2023 vom 1. September 2023

Regeste

Art. 30 Abs. 1 BV ; Anspruch auf ein unabhängiges Gericht; Gefährdung der inneren richterlichen Unabhängigkeit durch informelle Hierarchien; verspätete Geltendmachung; Ausstand von Amtes wegen bei offensichtlicher Befangenheit.
Die verspätete Geltendmachung eines Ausstandsgesuchs tritt in den Hintergrund, wenn die Umstände, die den Anschein der Befangenheit bewirken, derart offensichtlich sind, dass der Richter von sich aus hätte in den Ausstand treten müssen. Offensichtlichkeit unter den vorliegenden Umständen verneint: Der leitende Gerichtsschreiber und (nebenamtliche) Ersatzrichter am Bezirksgericht Winterthur brauchte im Nachgang zu BGE 149 I 14 in einem hängigen Zivilverfahren nicht sofort von sich aus in den Ausstand zu treten (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 69

BGE 150 I 68 S. 69

A. Am 10. Mai 2021 reichte A. (Klägerin, Beschwerdeführerin) gegen B. (Beklagter) am Bezirksgericht Winterthur eine Forderungsklage über Fr. 360'000.- ein. Sämtliche in diesem Verfahren ergangenen Verfügungen wurden von Dr. Stefan Jaissle, Leitender Gerichtsschreiber am Bezirksgericht Winterthur, als (nebenamtlicher) Ersatzrichter und Referent erlassen. Dieser leitete auch die Instruktionsverhandlung vom 3. November 2021.

B. Am 12. Dezember 2022 stellte die Klägerin gegen Dr. Stefan Jaissle (Beschwerdegegner) ein Ausstandsgesuch. Sie berief sich auf die Bundesgerichtsurteile 1B_420/2022 vom 9. September 2022 ( BGE 149 I 14 ) und 1B_519/2022 vom 1. November 2022. Damit befand das Bundesgericht, dass die Einsetzung eines Gerichtsschreibers oder einer Gerichtsschreiberin der entscheidenden Kammer des Obergerichts des Kantons Zürich als Ersatzoberrichter bzw. Ersatzoberrichterin in eben dieser Kammer nicht mit dem Anspruch auf ein unabhängiges Gericht zu vereinbaren ist. Auch Einflüsse, die sich aus informellen Hierarchien ergeben könnten, seien geeignet, die interne richterliche Unabhängigkeit zu gefährden.
Mit Beschluss vom 2. Februar 2023 wies das Bezirksgericht Winterthur das Ausstandsgesuch ab.
Dagegen erhob die Klägerin Beschwerde an das Obergericht des Kantons Zürich mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss aufzuheben. Das Ausstandsbegehren sei gutzuheissen und es sei festzustellen, dass Dr. Stefan Jaissle im vorliegenden Verfahren in den Ausstand treten muss.
Mit Urteil vom 3. Mai 2023 wies das Obergericht die Beschwerde ab. Es erwog, die Klägerin habe trotz Tragung der diesbezüglichen Behauptungs- und Beweislast weder die genauen Umstände noch den exakten Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Ausstandsgrunds substantiiert. Es sei daher nicht möglich, die Rechtzeitigkeit des Ausstandsbegehrens zu beurteilen bzw. es könne nicht bejaht werden, dass die Klägerin unverzüglich reagiert habe. Ohnehin sei der Klägerin das Tatsachenfundament, auf das sie ihr Ausstandsbegehren stütze, bereits nach Erhalt der ersten Verfügung im bezirksgerichtlichen Verfahren vom 14. Mai 2021 bekannt gewesen, nämlich die Besetzung des zuständigen Spruchkörpers mit dem Beschwerdegegner als Ersatzrichter und Referenten, der als Leitender
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Gerichtsschreiber am Bezirksgericht Winterthur - nach Auffassung der Klägerin - in einem Subordinationsverhältnis zu allen in Betracht kommenden ordentlichen Mitgliedern des Bezirksgerichts Winterthur stehe. Es ging daher von einem verspäteten Ausstandsgesuch aus und schützte dessen Abweisung durch das Bezirksgericht im Ergebnis.

C. Die Beschwerdeführerin beantragt dem Bundesgericht mit Beschwerde in Zivilsachen, das Urteil des Obergerichts vom 3. Mai 2023 sei aufzuheben und "es sei festzustellen, dass der Referent, Ersatzrichter Dr. Stefan Jaissle, Leitender Gerichtsschreiber am urteilenden Bezirksgericht, im vorliegenden Verfahren befangen ist und in den Ausstand treten muss". Eventualiter ersucht sie um Rückweisung an das Obergericht zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen. (...)
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4.

4.1 Zu prüfen bleibt, ob die verspätete Geltendmachung deshalb in den Hintergrund tritt und die Vorinstanz das Ausstandsgesuch dennoch hätte prüfen müssen, weil die betroffene Gerichtsperson, mithin der Beschwerdegegner, den Ausstand von sich aus hätte nehmen müssen.
Die Rechtsprechung nimmt dies dann an, wenn die Umstände, die den Anschein der Befangenheit bewirken, derart offensichtlich sind, dass der Richter von sich aus hätte in den Ausstand treten müssen (nicht publ. E. 2.3; BGE 139 III 120 E. 3.2.2; BGE 134 I 20 E. 4.3.2). Offensichtlichkeit und damit ein schwerer Verstoss gegen die Ausstandspflicht erblickte das Bundesgericht zum Beispiel in einem Fall, in dem der betroffene Richter gegen die Partei kürzlich eine Strafanzeige wegen Ehrverletzung und Anspruch auf Genugtuung gestellt hatte ( BGE 134 I 20 E. 4.3.2), oder in dem eine Richterin gegen eine Gesellschaft Klage erhoben hatte, deren einziger Verwaltungsrat zugleich einziger Verwaltungsrat der Prozesspartei war (Urteil 4A_576/2020 vom 10. Juni 2021 E. 3.2), aber nicht wegen des Umstands, dass die Richterin in einem Strafprozess gegen den Bruder der Prozesspartei als Zeugin ausgesagt hatte (Urteil 4A_278/2021 vom 26. August 2021 E. 3.4).

4.2 Die Beschwerdeführerin meint, die Konstellation, die den beiden angerufenen Bundesgerichtsentscheiden zugrunde lag, bestehe auch
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im vorliegenden Verfahren zwischen den Parteien vor erster Instanz. Mit der Veröffentlichung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sei der Anschein der Befangenheit des als Referenten eingesetzten Leitenden Gerichtsschreibers offensichtlich auf der Hand gelegen, weswegen er von sich aus hätte in den Ausstand treten müssen, was er aber nicht getan habe. Dieser Verfahrensmangel wiege schwerer als eine eventuelle Verspätung des Ablehnungsgesuchs. Dementsprechend habe die Vorinstanz die Art. 47-49 ZPO verletzt, indem sie das Ablehnungsgesuch als verwirkt betrachtet und die Befangenheit nicht geprüft habe.

4.3 Dem kann nicht gefolgt werden. Den beiden Bundesgerichtsentscheiden zum Beizug von Obergerichtsschreibern als Ersatzoberrichter in der gleichen Kammer bei der Entscheidung von Haftbeschwerden lag nicht exakt die gleiche Konstellation zugrunde, wie sie vorliegend betreffend die Mitwirkung des Leitenden Gerichtsschreibers am Bezirksgericht Winterthur in einem Zivilprozess beanstandet wird. Jedenfalls ist solches im angefochtenen Urteil nicht festgestellt, ebenso wenig, dass für den Leitenden Gerichtsschreiber am Bezirksgericht Winterthur die gleiche gerichtsorganisatorische und personalrechtliche Regelung gilt wie diejenige, welche das Bundesgericht in den erwähnten Fällen betreffend das Obergericht Zürich beurteilt hat. Trotz möglicherweise gegebenen Parallelen kann daher nicht gesagt werden, dass die bundesgerichtliche Beurteilung in jenen Präjudizien zwingend die gleiche Beurteilung der Mitwirkung des Leitenden Gerichtsschreibers im vorliegenden, zur Zeit der beiden Bundesgerichtsentscheide seit mehr als 1 1/2 Jahren hängigen Zivilprozess am Bezirksgericht Winterthur indizierte. Jedenfalls erscheint dies nicht derart offensichtlich, dass gesagt werden muss, der Beschwerdegegner hätte im Nachgang zu den besagten Bundesgerichtsentscheiden im vorliegenden Verfahren von sich aus in den Ausstand treten müssen.

4.4 Ein Weiteres kommt hinzu: Die vom Bundesgericht gerügte Konstellation wurde an den Zürcher Gerichten bekanntermassen seit langem praktiziert, ohne dass dies von den Rechtssuchenden oder bis zu jenen Entscheiden vom Bundesgericht beanstandet worden wäre. Die Rede ist von einer "bewährten Institution im zürcherischen Gerichtswesen" (MATTHIAS SCHWAIBOLD, Das Ende einer Institution, forumpoenale 2/2023 S. 148 ff., S. 148; vgl. auch MARCO WEISS, Informelle Hierarchien an einem Gericht, Besprechung von BGer, 1B_420/2022, 9.9.2022, AJP 2023 S. 378 ff.). Vor diesem
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Hintergrund wäre die weitere Mitwirkung des Leitenden Gerichtsschreibers als Ersatzrichter im vorliegenden, schon seit längerem anhängigen Zivilprozess (bejahendenfalls) nicht als derart gravierenden Mangel zu betrachten, dass er im Nachgang zu den beiden Bundesgerichtsurteilen sofort zum Ausstand des Beschwerdegegners von Amtes wegen hätte führen müssen.

4.5 Der Ausstand kann immer nur im konkreten Einzelfall verlangt werden. Dies gilt auch, wenn der Ausstandsgrund einzig auf einer gerichtsorganisatorischen Regelung beruht. In solchen Fällen entfaltet das Bundesgerichtsurteil allerdings in dem Sinn Appellwirkung, dass der kantonale Gesetzgeber bzw. die betroffenen Gerichte angesprochen sind, die erforderlichen Abhilfemassnahmen zu treffen, um die Bundesgerichtsrechtsprechung generell umzusetzen. So hielt das Bundesgericht im einschlägigen Präjudiz fest, der Anschein der fehlenden Unabhängigkeit des Spruchkörpers ergebe sich aus den gewählten organisatorischen Gegebenheiten und könne und müsse daher auch durch geeignete organisationsrechtliche Massnahmen verhindert werden. Welche konkreten Massnahmen dies seien, sei eine Frage der grundsätzlich den Kantonen obliegenden Gerichtsorganisation ( BGE 149 I 14 E. 5.3.5 in fine S. 23; siehe etwa die Vorschläge bei SCHWAIBOLD, a.a.O., S. 153; vgl. auch WEISS, a.a.O., S. 381).
Auch mit Blick auf diese Gegebenheit, dass der vom Bundesgericht beanstandete Anschein der Befangenheit einzig in einer gerichtsorganisatorischen Institution gründet, welcher vorab durch organisationsrechtliche Massnahmen abzuhelfen ist, kann dem Leitenden Gerichtsschreiber am Bezirksgericht Winterthur nicht zum Vorwurf gereichen, dass er im Nachgang zu den erwähnten Bundesgerichtsurteilen nicht von sich aus im hängigen Zivilprozess in den Ausstand trat. Offensichtlichkeit im Sinne der zitierten Rechtsprechung kann bei dieser Situation nicht angenommen werden.
Damit ist aber nicht gesagt, dass Entsprechendes auch dann noch gilt, wenn bei Ausbleiben der erforderlichen organisationsrechtlichen Massnahmen die gerügten Doppelfunktionen weiterhin auftreten sollten.

4.6 Da der Leitende Gerichtsschreiber am Bezirksgericht Winterthur im vorliegenden Fall den Ausstand nicht von Amtes wegen zu nehmen hatte, bleibt es bei der verspäteten Geltendmachung des Ausstandsgrunds, wie dies von der Vorinstanz zu Recht erkannt wurde.

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