BGE 150 V 257 vom 4. Juni 2024

Dossiernummer: 9C_705/2023

Datum: 4. Juni 2024

Artikelreferenzen:  Art. 8 BV, Art. 9 BV, Art. 29 AHVG, Art. 39 AHVG , Art. 55bis lit. b AHVV, Art. 39 Abs. 1 AHVG, Art. 39 Abs. 3 Satz 2 AHVG, Art. 55bis AHVV, Art. 33bis AHVG, Art. 29bis ff. AHVG, Art. 39 Abs. 2 AHVG, Art. 55bis lit. a AHVV, Art. 55bis lit. d, e und f AHVV, Art. 55bis lit. c und g AHVV, Art. 55ter Abs. 1 AHVV, Art. 39 Abs. 2 und 3 Satz 1 AHVG, Art. 8 Abs. 2 BV

BGE referenzen:  131 V 371, 146 V 271

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

150 V 257


23. Auszug aus dem Urteil der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Ausgleichskasse des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_705/2023 vom 4. Juni 2024

Regeste

Art. 39 Abs. 1 AHVG ; Art. 55 bis lit. b AHVV (je in der vom 1. Januar 1997 bis Ende 2023 geltenden Fassung); Aufschub der Altersrente, die eine Invalidenrente ablöst.
Laut Art. 55 bis lit. b AHVV sind Altersrenten, die eine Invalidenrente ablösen, von der Möglichkeit eines Rentenaufschubs gemäss Art. 39 Abs. 1 AHVG ausgenommen. Die Verordnungsbestimmung verstösst gegen gesetzliche und verfassungsmässige Vorgaben, weshalb ihr die Anwendung versagt wird (E. 3.3-3.5).

Sachverhalt ab Seite 258

BGE 150 V 257 S. 258

A. Der im Dezember 1956 geborene A. bezog eine Viertelsrente der Invalidenversicherung (IV), als er sich im November 2021 zum Bezug einer Altersrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) anmeldete, wobei er gleichzeitig den Aufschub der Altersrente beantragte. Die Ausgleichskasse des Kantons Zürich verweigerte den Aufschub der (grundsätzlich ab dem 1. Januar 2022 geschuldeten) Altersrente mit Verfügung vom 20. Dezember 2021 resp. mit Einspracheentscheid vom 17. Februar 2023.

B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 26. September 2023 ab.

C. A. lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Urteils vom 26. September 2023 sei die Ausgleichskasse zu verpflichten, seine Altersrente aufzuschieben.
Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliessen auf Abweisung der Beschwerde. A. lässt eine weitere Eingabe einreichen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. (...)

3.3

3.3.1 Nach dem deutschen und französischen Wortlaut von Art. 39 Abs. 1 AHVG besteht die Möglichkeit für einen Aufschub nur bei (grundsätzlichem) Anspruch auf eine "ordentliche Altersrente" ("rente ordinaire de vieillesse"); im italienischen Wortlaut ("rendita di vecchiaia") fehlt die Abgrenzung zur ausserordentlichen Altersrente. Der Bundesrat kann laut Art. 39 Abs. 3 Satz 2 AHVG insbesondere "einzelne Rentenarten" ("certains genres de rentes"; "certi generi di rendite") vom Aufschub ausschliessen. Was unter dem Begriff der "Rentenarten" zu verstehen ist, lässt sich Art. 39 AHVG nicht direkt entnehmen. Laut Art. 29 AHVG werden die ordentlichen Renten - nach dem Kriterium der (Un-)Vollständigkeit der Beitragsdauer - in Voll- und Teilrenten unterteilt. Dass die Altersrenten je nach dem, ob sie eine Invalidenrente ablösen oder nicht, von unterschiedlicher "Art" (i.S.v. Art. 39 Abs. 3 Satz 2 AHVG ) sein sollen, ist zwar nicht ausgeschlossen, ergibt sich aber nicht bereits aus dem allgemeinen Sprachgebrauch.

3.3.2 Im Zusammenhang mit der auf den 1. Januar 1969 erfolgten Einführung der Aufschubsmöglichkeit hielt der Bundesrat in seiner
BGE 150 V 257 S. 259
Botschaft vom 4. März 1968 zum Entwurf eines Bundesgesetzes betreffend Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung und zum Volksbegehren für den weiteren Ausbau von Alters- und Hinterlassenenversicherung und Invalidenversicherung (7. AHV-Revision) insbesondere Folgendes fest: "Um die verwaltungsmässigen Umtriebe in begrenztem Rahmen zu halten, dürfte es unerlässlich sein, gewisse Vereinfachungen vorzusehen. Vor allem müssten die Teilrenten der unteren Skalen - wie selbstverständlich auch die ausserordentlichen Renten - vom Aufschub ausgeschlossen werden" (BBl 1968 I 636 Ziff. D.I). Weitere Erläuterungen zu den Ausnahmen von der Aufschubsmöglichkeit sind in der Botschaft nicht ersichtlich.
Entgegen der Auffassung des BSV lässt sich die bundesrätliche Kompetenz zum Erlass der hier interessierenden Ausnahmeregelung resp. der der Delegationsnorm von Art. 39 Abs. 3 Satz 2 AHVG zugrunde liegende gesetzgeberische Wille nicht aus den eigenen Erläuterungen des BSV zu den auf den 1. Januar 1984, 1. Januar 1997 resp. 1. Januar 2024 in Kraft getretenen Änderungen von Art. 55 bis AHVV (SR 831.101; ZAK 1983 S. 371; AHI 1996 S. 39; Erläuterungen zu den Verordnungsänderungen anlässlich der AHV 21, www.bsv.admin.ch /bsv/de/home/publikationen-und-service/medieninformationen/nsb-anzeigeseite.msg-id-97550.html; vgl. auch nachfolgende E. 3.4.2) herleiten.

3.3.3 Die Höhe der ordentlichen Altersrente wird nach den Vorgaben der Art. 29 bis ff. AHVG berechnet. Löst die Altersrente eine Invalidenrente ab, bemisst sich deren Höhe nach Art. 33 bis AHVG , der im Wesentlichen eine Besitzstandsgarantie auf der Höhe der bisherigen Invalidenrente enthält (vgl. BGE 131 V 371 E. 3.2). Weshalb diese oder eine andere Bestimmung der Aufschubsmöglichkeit nach Art. 39 Abs. 1 AHVG entgegenstehen soll, leuchtet nicht ein und begründet auch das BSV nicht weiter. Insbesondere erhellt nicht, weshalb Art. 33 bis AHVG durch den Aufschub der Altersrente seines Sinnes entleert würde (wie die Vorinstanz festhält), behält doch die (garantierte) Rentenhöhe auch bei einem Rentenaufschub ihre Bedeutung als Ausgangsgrösse für die Berechnung der nach dem Aufschub zu zahlenden Rente.

3.3.4 Ein Rentenaufschub bringt dem Berechtigten keine wirkliche Leistungsverbesserung, sondern sichert ihm lediglich in Rentenform das Äquivalent dessen zu, auf das er während der Aufschubszeit
BGE 150 V 257 S. 260
verzichtet hat (vgl. Art. 39 Abs. 2 AHVG ). Er wahrt dem Rentenanwärter aber eine gewisse Dispositionsfreiheit und gibt ihm die Möglichkeit, durch eine einfache Vorkehr eine höhere rentenmässige Alterssicherung zu erwerben und so den Einkommensabfall beim Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verringern. Er erlaubt, die Alterssicherung (besser) an die individuellen Bedürfnisse anzupassen (BBl 1968 I 635 Ziff. D.I). Auch wenn die Aufschubsmöglichkeit geeignet ist, den altersbedingten Abfall des Erwerbseinkommens abzufedern, bezweckt sie in erster Linie die verbesserte Berücksichtigung der konkreten Gegebenheiten und Wünsche der versicherten Person. Anders als das BSV anzunehmen scheint, ist nicht entscheidend, dass der Aufschub der Altersrente insoweit "Sinn macht", als er einen Einkommensabfall abfedern muss. Dementsprechend ist die gesetzliche Aufschubsmöglichkeit zwar an die Rentenberechtigung im Grundsatz, aber an keine weiteren materiellen Bedingungen geknüpft. Sie besteht insbesondere unabhängig davon, ob vor der Entstehung des Anspruchs auf eine Altersrente eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wurde, und ob während des Rentenaufschubs resp. über das ordentliche Rentenalter hinaus ein Erwerbseinkommen erzielt wird.
Der Ausschluss von der Aufschubsmöglichkeit resp. die Ermächtigung des Bundesrates zur entsprechenden Regelung bezweckt nach den Ausführungen in der Botschaft (vgl. vorangehende E. 3.3.2) einzig die Beschränkung der "verwaltungsmässigen Umtriebe". Welche erheblichen "Umtriebe" der blosse Umstand eines früheren Invalidenrentenbezugs beim Aufschub der Altersrente bewirken soll, leuchtet nicht ein und wird auch nicht ausgeführt.

3.3.5 Nach dem Gesagten überschritt der Bundesrat mit der Ausnahmebestimmung von Art. 55 bis lit. b AHVV die Grenzen der ihm in Art. 39 Abs. 3 Satz 2 AHVG eingeräumten Befugnisse, die ihn insbesondere nicht zum Erlass einer verfassungswidrigen Regelung ermächtig(t)en. Die hier interessierende Bestimmung hält denn auch mit Blick auf die Verfassungsmässigkeit nicht stand, wie sich sogleich (aus E. 3.4) ergibt.

3.4

3.4.1 Was die Gründe für die Auswahl der Ausnahmen von der Aufschubsmöglichkeit anbelangt, so lässt sich der Wegleitung des BSV über die Renten (RWL) in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung dazu nichts entnehmen. Rz. 6312 ff. RWL in der Version 15 (Stand 1. Januar 2021) und Rz. 6082 ff. RWL
BGE 150 V 257 S. 261
in der Version 19 (Stand 1. Januar 2024) wiederholen lediglich die jeweils geltenden einschlägigen Verordnungsbestimmungen.

3.4.2 Aufschlussreicher sind die Erläuterungen zu Art. 55 bis AHVV und zu dessen Änderungen, auf die sich das BSV beruft. In der ursprünglichen, auf den 1. Januar 1969 in Kraft getretenen Version von Art. 55 bis AHVV (AS 1969 130) schloss der Bundesrat insbesondere (in lit. a der Bestimmung) sämtliche Teilrenten, weil "mit unverhältnismässigen Umtrieben verbunden" (ZAK 1969 S. 17) resp. "aus administrativen Gründen" (ZAK 1983 S. 371), von der Aufschubsmöglichkeit aus. Die Ausnahme für Altersrenten, die eine Witwen- oder Invalidenrente ablös(t)en (lit. b), wurde darauf zurückgeführt, dass der Aufschub "der Zweckbestimmung" - die nicht näher identifiziert wurde - widerspreche. Auch "andere Fälle" (lit. c-g) "eigne(t)en sich wegen ihrer Besonderheiten" nicht für den Aufschub (ZAK 1969 S. 17). Nachdem eine 1979 erfolgte Verschärfung des Teilrentensystems zu einer Erhöhung des Anteils der Teilrentner führte, wurde der Ausschluss dieser Gruppe von der Aufschubsmöglichkeit als stossend empfunden und deswegen Art. 55 bis lit. a AHVV auf den 1. Januar 1984 ersatzlos aufgehoben (ZAK 1983 S. 371 f.). Auf den 1. Januar 1997 wurden weitere Ausnahmetatbestände aufgehoben ( Art. 55 bis lit. b AHVV teilweise, Art. 55bis lit. d, e und f AHVV vollständig). Seit diesem Zeitpunkt können auch folgende Altersrenten aufgeschoben werden: Renten, die eine Witwenrente ablösen - weil die Altersrente einer Witwe neu nicht mehr gleich wie die Witwenrente berechnet wird; Renten, die erst nach Erreichen des AHV-Rentenalters mit der Begründung eines Wohnsitzes in der Schweiz entstehen - weil kein Grund besteht, in solchen Fällen den Aufschub nicht zu gewähren; Renten eines Ehegatten, auch wenn für den anderen Ehegatten noch kein Anspruch besteht oder die sofortige Auszahlung verlangt wird - weil alle Altersrenten neu individuell im Splitting-System berechnet werden. Altersrenten, die eine Invalidenrente ablösen, blieben weiterhin von der Aufschubsmöglichkeit ausgeschlossen - weil "die IV-Renten weiterhin auf den gleichen Beitragsgrundlagen festgesetzt werden wie die Altersrente" (AHI 1996 S. 39). Auf den 1. Januar 2024 wurde Art. 55 bis AHVV insoweit modifiziert, als neu ein Aufschub der Altersrente bei vorherigem Bezug einer Teilrente der Invalidenversicherung im Umfang des prozentualen Anteils, der nicht der Invalidenrente entspricht, möglich ist - weil neu auch ein Teilbezug der Altersrente möglich ist (Erläuterungen des BSV zu den Verordnungsänderungen anlässlich der AHV 21, S. 9).
BGE 150 V 257 S. 262

3.4.3 Weshalb eine Altersrente, die (resp. soweit sie) eine Invalidenrente ablöst, von der Aufschubsmöglichkeit ausgeschlossen sein soll, lässt sich nicht aus den verbleibenden Ausnahmetatbeständen von Art. 55 bis lit. c und g AHVV (vgl. nicht publ. E. 2.2) herleiten. Soweit ersichtlich beruht der hier interessierende Ausschluss somit einzig auf der besonderen Berechnungsweise der Altersrente (vgl. vorangehende E. 3.4.2). Dass sie mit besonderen Umtrieben verbunden sein soll, ist jedoch nicht erkennbar. Jede Altersrente ist individuell festzusetzen, und der Rentenzuschlag zufolge eines Aufschubs bemisst sich proportional zur Aufschubsdauer (vgl. Art. 55 ter Abs. 1 AHVV i.V.m. Art. 39 Abs. 2 und 3 Satz 1 AHVG ). Der blosse Umstand, dass die Altersrente eine Invalidenrente ablöst, ist kein ernsthafter resp. vernünftiger Grund dafür, den betroffenen versicherten Personen den Aufschub ihrer Altersrente und die damit verbundene Dispositionsfreiheit und Flexibilität zu versagen. Die Regelung von Art. 55 bis lit. b AHVV ist somit willkürlich im Sinne von Art. 9 BV . Ob sie zudem, weil sie an das Kriterium des Invalidenrentenbezugs anknüpft, das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV und allfällige weitere Bestimmungen verletzt, kann offenbleiben.

3.5 Zusammenfassend ergibt sich, dass Art. 55 bis lit. b AHVV gegen gesetzliche und verfassungsmässige Vorgaben verstösst, weshalb der Bestimmung die Anwendung versagt wird (vgl. BGE 146 V 271 E. 8.1). Die Vorinstanz hat Bundesrecht verletzt, indem sie dem Beschwerdeführer den Aufschub seiner Altersrente verweigert hat. Die Beschwerde ist begründet.

Diese Seite ist durch reCAPTCHA geschützt und die Google Datenschutzrichtlinie und Nutzungsbedingungen gelten.

Feedback
Laden