BGE 150 V 334 vom 14. Juni 2024

Dossiernummer: 8C_741/2023

Datum: 14. Juni 2024

Artikelreferenzen:  Art. 66 ATSG, Art. 26 UVG, Art. 27 UVG, Art. 18 UVV, Art. 38 UVV, Art. 390 ZGB, Art. 398 ZGB, Art. 37 IVV, Art. 38 IVV, Art. 42 IVG , Art. 66 Abs. 3 ATSG, Art. 42 Abs. 3 IVG, Art. 38 Abs. 2 UVV, Art. 38 Abs. 1 IVV, Art. 42 Abs. 2 IVG, Art. 42 Abs. 1 IVG, Art. 42 Abs. 3 Satz 1 IVG, Art. 37 Abs. 3 lit. e IVV, Art. 390-398 ZGB, Art. 38 Abs. 3 IVV, Art. 18 Abs. 2 UVV, Art. 26 Abs. 1 UVG, Art. 38 Abs. 2-4 UVV, Art. 37 Abs. 1 IVV, Art. 42 ter IVG

BGE referenzen:  144 V 210, 146 V 129, 146 V 322 , 127 V 113

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

150 V 334


31. Auszug aus dem Urteil der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle Obwalden gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_741/2023 vom 14. Juni 2024

Regeste

Art. 26 f. UVG i.V.m. Art. 38 Abs. 2 UVV ; Art. 42 Abs. 3 IVG (in der seit Januar 2022 geltenden Fassung) i.V.m. Art. 38 Abs. 1 IVV ; Art. 66 Abs. 3 ATSG ; Leistungskoordination zwischen der Invalidenversicherung und der Unfallversicherung; Hilflosigkeit schweren Grades; Anspruch auf Hilflosenentschädigung.
Bei einem Anspruch auf Entschädigung wegen schwerer Hilflosigkeit durch den Unfallversicherer kann keine Kumulation mit einer Hilflosenentschädigung leichten Grades wegen des Bedarfs an lebenspraktischer Begleitung der Invalidenversicherung erfolgen. Die in Art. 66 Abs. 3 ATSG statuierte absolute Prioritätenordnung greift ohne Weiteres (E. 3-6).

Sachverhalt ab Seite 334

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A. Die 1992 geborene A. bezieht aufgrund der Folgen eines am 29. August 2011 erlittenen Verkehrsunfalls seit dem 1. August 2012 eine ganze Rente der Invalidenversicherung. Die Schweizerische Mobiliar Versicherungsgesellschaft AG (Mobiliar) sprach ihr als
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zuständiger Unfallversicherer eine Komplementärrente, eine Integritätsentschädigung sowie eine Entschädigung für schwere Hilflosigkeit zu. Mit rechtskräftiger Verfügung vom 6. Mai 2013 wies die IV-Stelle ein von A. gestelltes Gesuch um Hilflosenentschädigung ab, da die Mobiliar eine Entschädigung für Hilflosigkeit schweren Grades gewähre. Mit Verfügung vom 15. Februar 2023 leistete die Unfallversicherung zusätzlich einen Kostenbeitrag an die Hilfe und Pflege zu Hause nach Art. 18 UVV (SR 832.202).
Die von A. in der Folge bei der Invalidenversicherung beantragte Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades aufgrund des Bedarfs an lebenspraktischer Begleitung wies die IV-Stelle nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 21. April 2023 ab.

B. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden mit Entscheid vom 17. Oktober 2023 teilweise gut, indem es die Sache zu weiteren Abklärungen hinsichtlich des Hilfebedarfs von A. bei der Haushaltsführung an die IV-Stelle zurückwies.

C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt in der Sache die Aufhebung des Entscheids vom 17. Oktober 2023.
A. lässt Antrag auf Abweisung der Beschwerde stellen. Die Vorinstanz beantragt deren Abweisung, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Sozialversicherungen schliesst auf Gutheissung der Beschwerde.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht, namentlich die Koordinationsregeln nach Art. 66 Abs. 3 ATSG verletzt hat, indem sie die Kumulation einer Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung mit derjenigen der Invalidenversicherung als zulässig erachtet und die Sache daher zwecks weiterer Abklärungen hinsichtlich des Hilfebedarfs in der Haushaltsführung an die Beschwerdeführerin zurückgewiesen hat. Der umstrittene Anspruch steht somit einzig hinsichtlich des Bedarfs an lebenspraktischer Begleitung zur Diskussion.
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3.2 Gemäss Art. 66 Abs. 3 ATSG werden Hilflosenentschädigungen nach den Bestimmungen des jeweiligen Einzelgesetzes und in nachstehender Reihenfolge ausschliesslich gewährt:
a. von der Militärversicherung oder der Unfallversicherung;
b. von der Invalidenversicherung oder der Alters- und Hinterlassenenversicherung.

3.3 Volljährige Versicherte mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die hilflos sind, haben Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung ( Art. 42 Abs. 1 IVG ). Es ist zu unterscheiden zwischen schwerer, mittelschwerer und leichter Hilflosigkeit ( Art. 42 Abs. 2 IVG ). Als hilflos gilt ebenfalls eine Person, welche zu Hause lebt und wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist ( Art. 42 Abs. 3 Satz 1 IVG ).

3.4 Die Hilflosigkeit gilt insbesondere dann als leicht, wenn die versicherte Person trotz der Abgabe von Hilfsmitteln dauernd auf lebenspraktische Begleitung im Sinne von Art. 38 angewiesen ist ( Art. 37 Abs. 3 lit. e IVV [SR 831.201]). Ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung im Sinne von Art. 42 Abs. 3 IVG liegt vor, wenn eine volljährige versicherte Person ausserhalb eines Heimes lebt und infolge Beeinträchtigung der Gesundheit (a.) ohne Begleitung einer Drittperson nicht selbstständig wohnen kann, (b.) für Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung auf Begleitung einer Drittperson angewiesen ist oder (c.) ernsthaft gefährdet ist, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren ( Art. 38 Abs. 1 IVV ). Zu berücksichtigen ist nur die lebenspraktische Begleitung, die regelmässig und im Zusammenhang mit einer der Situationen nach Abs. 1 erforderlich ist; nicht darunter fallen insbesondere Vertretungs- und Verwaltungstätigkeiten im Rahmen von Massnahmen des Erwachsenenschutzes nach den Art. 390-398 ZGB ( Art. 38 Abs. 3 IVV ).

3.5 Die lebenspraktische Begleitung umfasst weder die (direkte oder indirekte) Dritthilfe bei den alltäglichen Lebensverrichtungen noch die dauernde Pflege oder persönliche Überwachung im Sinne von Art. 37 IVV . Vielmehr stellt sie ein zusätzliches und eigenständiges Institut der Hilfe dar. Die Notwendigkeit einer Dritthilfe ist objektiv nach dem Gesundheitszustand der versicherten Person zu beurteilen. Abgesehen vom Aufenthalt in einem Heim ist die Umgebung, in welcher sie sich aufhält, grundsätzlich unerheblich. Bei der lebenspraktischen Begleitung darf es keine Rolle spielen, ob die
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versicherte Person allein lebt, zusammen mit dem Lebenspartner, mit Familienmitgliedern oder in einer der heutzutage verbreiteten neuen Wohnformen. Massgebend ist einzig, ob die versicherte Person, wäre sie auf sich allein gestellt, erhebliche Dritthilfe in Form von Begleitung und/oder Beratung benötigen würde. Von welcher Seite diese letztlich erbracht wird, ist ebenso bedeutungslos wie die Frage, ob sie kostenlos erfolgt oder nicht ( BGE 146 V 322 E. 2.3 mit Hinweisen). Dennoch ist als Frage der Schadenminderungspflicht im Rahmen der lebenspraktischen Begleitung in einem zweiten Schritt auch die tatsächlich erbrachte resp. zumutbare Mithilfe von Familienangehörigen zu prüfen (SVR 2023 IV Nr. 5 S. 16, 8C_241/2022 E. 4.5.2 mit Hinweisen). Die Berücksichtigung von lebenspraktischer Begleitung setzt voraus, dass diese über eine Periode von drei Monaten gerechnet im Durchschnitt während mindestens zwei Stunden pro Woche benötigt wird ( BGE 146 V 322 E. 6.1 mit Hinweisen; Urteil 9C_464/2022 vom 28. August 2023 E. 2.2).

4.

4.1 Die Vorinstanz hat erwogen, die Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung sei weiter gefasst als jene der Unfallversicherung, welche keine Hilflosenentschädigung infolge Bedarfs an lebenspraktischer Begleitung kenne. Es würden somit keine zu koordinierenden kongruenten Leistungen vorliegen, weshalb die Prioritätenordnung gemäss Art. 66 Abs. 3 ATSG nicht anwendbar sei. Bei fehlender Leistungspflicht der Unfallversicherung beim Bedarf an lebenspraktischer Begleitung sei die Invalidenversicherung grundsätzlich hierfür leistungspflichtig.

4.2 Dementgegen vertritt die Beschwerdeführerin die Ansicht, nachdem die Unfallversicherung (nebst einer Integritätsentschädigung [auf der Grundlage eines 100%igen Integritätsschadens], einer monatlichen Komplementärrente und Leistungen für Hilfe und Pflege zu Hause im Sinne von Art. 18 Abs. 2 UVV ) eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit schweren Grades gewähre, sei die Hilflosigkeit der Beschwerdegegnerin vollständig berücksichtigt worden. Art. 66 Abs. 3 ATSG lasse keine Kumulation von Hilflosenentschädigungen verschiedener Sozialversicherer zu. Die Kriterien für eine Hilflosigkeit schweren Grades in der Unfallversicherung ( Art. 26 Abs. 1 UVG i.V.m. Art. 38 Abs. 2 UVV ) stimmten mit jenen der Invalidenversicherung überein. Auch gemäss Art. 42 Abs. 2 IVG seien verschiedene Schweregrade einer Hilflosigkeit nicht kumulierbar,
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was Art. 37 IVV weiter konkretisiere. Es verletze Bundesrecht, wenn die Vorinstanz festgestellt habe, dass eine Hilflosenentschädigung für lebenspraktische Begleitung zusätzlich zur durch die Unfallversicherung ausgerichteten Hilflosenentschädigung für eine Hilflosigkeit schweren Grades zum Zuge kommen könne.

5. Die Bemessung der Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung, der AHV und der Unfallversicherung richtet sich grundsätzlich nach denselben Kriterien (vgl. BGE 127 V 113 E. 1d und 3c; Art. 27 UVG i.V.m. Art. 38 Abs. 2-4 UVV ; MARC HÜRZELER, in: Basler Kommentar, Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts, 2020, N. 29 zu Art. 66 ATSG ). In rechtlicher Hinsicht steht dabei ausser Frage, dass die Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung insofern weiter gefasst ist als diejenige der Unfallversicherung, als sie eine Hilflosigkeit auch bei Bedarf an lebenspraktischer Begleitung kennt (E. 3.3 ff. vorne; vgl. HÜRZELER, a.a.O., N. 30 zu Art. 66 ATSG ; UELI KIESER, Kommentar zum ATSG, 4. Aufl. 2020, N. 36 zu Art. 66 ATSG ; FRÉSARD-FELLAY/FRÉSARD, in: Commentaire romand, Loi sur la partie générale des assurances sociales [LPGA], 2018, N. 42 zu Art. 66 ATSG ).

6.

6.1 Die Beschwerdegegnerin erhält eine Hilflosenentschädigung wegen Hilflosigkeit schweren Grades nach Art. 38 Abs. 2 UVV . Bei einer höchstmöglichen Hilflosenentschädigung erübrigt sich die Frage, ob die Invalidenversicherung im Sinne einer Leistungskumulation für Hilflosigkeit leichten Grades nachrangig leistungspflichtig wird, wie sich aus den nachstehenden Erwägungen ergibt.

6.2 Ist eine Person lediglich dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen, so liegt immer eine leichte Hilflosigkeit vor ( Art. 42 Abs. 3 IVG in der seit 1. Januar 2022 geltenden und hier anwendbaren [vgl. BGE 144 V 210 E. 4.3.1] Fassung). Ist eine versicherte Person jedoch im schweren Grad hilflos ( Art. 37 Abs. 1 IVV ), spricht ihr die Invalidenversicherung unabhängig davon, ob sie zusätzlich auch die Voraussetzungen der lebenspraktischen Begleitung erfüllen würde, eine entsprechende Entschädigung im höchstmöglichen Umfang nach Art. 42 ter IVG zu. Eine zusätzliche Leistung wegen des Bedarfs an lebenspraktischer Begleitung ist nicht zulässig.
Eine mögliche Schlechterstellung gegenüber versicherten Personen, die nicht infolge eines Unfalls, sondern krankheitshalber hilflos werden, liegt jedenfalls bei dieser Sachlage daher nicht vor. Wie bereits
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dargelegt (E. 3.5 vorne), stellt die lebenspraktische Begleitung im Rahmen der Hilflosenentschädigung zwar ein zusätzliches und eigenständiges Institut der Hilfe dar. Bei einem Bedarf an lebenspraktischer Begleitung im Sinne von Art. 42 Abs. 3 IVG i.V.m. Art. 38 Abs. 1 IVV kann aber auch in der Invalidenversicherung nach dem Gesagten kein zusätzlicher Anspruch auf Hilflosenentschädigung (wegen leichter Hilflosigkeit) über einen aufgrund des bereits erreichten schweren Grades der Hilflosigkeit bestehenden Anspruch auf Entschädigung hinaus entstehen, was die Vorinstanz in Verletzung von Bundesrecht verkannt hat.

6.3 Nichts anderes hat in der vorliegenden Konstellation im Zusammenspiel mit der Unfallversicherung zu gelten. Bei der gegebenen schweren Hilflosigkeit der Beschwerdegegnerin mit entsprechendem Anspruch auf Hilflosenentschädigung durch den Unfallversicherer kann keine Kumulation mit einer Hilflosenentschädigung leichten Grades wegen des Bedarfs an lebenspraktischer Begleitung durch die Invalidenversicherung erfolgen. Damit greift die in Art. 66 Abs. 3 ATSG statuierte absolute Prioritätenordnung ohne Weiteres, zumal die Hilflosigkeit der Beschwerdegegnerin ausschliesslich auf den Unfall vom 29. August 2011 zurückzuführen ist.

6.4 Bei der vorliegenden Sach- und Rechtslage besteht somit kein Raum für die Gewährung einer Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung (vgl. BGE 146 V 129 E. 5.4.1 mit Hinweis auf SVR 2014 IV Nr. 36 S. 128, 9C_281/2014 E. 5; ferner SVR 2021 IV Nr. 37 S. 113, 9C_816/2019 E. 5.3.2). Wie es sich beim Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung bei leichter oder mittlerer Hilflosigkeit verhält, kann bei diesem Ergebnis offengelassen werden. Die Beschwerde ist begründet.

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