Urteilskopf
81 I 43
8. Urteil vom 9. März 1955 i. S. Vormundschaftsbehörde Meilen gegen Vormundschaftsbehörde der Stadt St. Gallen.
Regeste
Unzulässigkeit der Klage betreffend die Befugnisse und Obliegenheiten der Vormundschaftsbehörde der Heimat, wenn die Weigerung der angegangenen Behörde zum Gegenstand eines ordentlichen Rechtsmittels gemacht werden kann, also insbesondere für den Fall, wo streitig ist, ob die Behörde zur Anordnung von Massnahmen örtlich zuständig ist.
Der in Meilen heimatberechtigte Karl von Tobel ist auf Grund eines Urteils des Kantonsgerichtes von St. Gallen vom 20. April 1953, das ihn zu einer Gefängnisstrafe von 2 Jahren verurteilt hat, am 8. Februar 1954 in die kantonale Strafanstalt St. Gallen eingewiesen worden. Die Anstaltsdirektion gab hievon der heimatlichen Vormundschaftsbehörde Kenntnis mit dem Ersuchen, die notwendigen
BGE 81 I 43 S. 44
Schritte einzuleiten, damit der Eingewiesene unter Vormundschaft gestellt werde. Die Vormundschaftsbehörde von Meilen erachtete sich als unzuständig, weil sich der letzte Wohnsitz von Tobels nicht in Meilen befunden habe. Sie versuchte abzuklären, wo von Tobel zuletzt gewohnt habe. Die darüber befragten Gemeinden bestritten ihre örtliche Zuständigkeit ebenfalls. Auf eine bezügliche Anfrage der Anstaltsdirektion erklärte das Departement des Innern des Kantons St. Gallen, es sei Sache der heimatlichen Behörde, die Zuständigkeitsfrage abzuklären und die Bevormundung durchzusetzen. Meilen ersuchte daraufhin die Vormundschaftsbehörde von St. Gallen, die Vormundschaft in die Wege zu leiten. Die angegangene Behörde lehnte ab, weil sich der letzte Wohnsitz von Tobels nicht in St. Gallen befunden habe (Entscheid vom 15./21. Oktober 1954). Ihr Entscheid blieb unangefochten. Dagegen hat die Vormundschaftsbehörde von Meilen am 2. Dezember 1954 beim Bundesgericht gestützt auf
Art. 83 lit. e OG
Klage erhoben auf Verpflichtung der Vormundschaftsbehörde von St. Gallen, das Entmündigungsverfahren im Sinne von Art. 371, eventuell
Art. 370 ZGB
einzuleiten, eventuell auf Bestimmung der sonst zuständigen Behörde.
Die Vormundschaftsbehörde von St. Gallen beantragt, die Klage abzuweisen; dem eventuellen Begehren wird nicht opponiert. Dieser Antrag wird damit begründet, dass sich der letzte Wohnsitz von Tobels nicht in St. Gallen befunden habe.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Art. 83 lit. e OG
räumt der heimatlichen Vormundschaftsbehörde gegenüber derjenigen des Wohnsitzes einer Person ein Klagerecht ein, wenn über die Befugnisse und Obliegenheiten der ersteren ein Anstand entsteht. Die Vorschrift stammt aus dem Bundesgesetz betreffend die zivilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter vom 25. Juni 1891, das in den Art. 14 und 15 Bestimmungen enthielt über die Befugnisse der Vormundschaftsbehörden
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der Heimat, und das in Art. 16 Streitigkeiten darüber dem Bundesgericht als Staatsgerichtshof übertrug. Dementsprechend bestimmte
Art. 180 Ziff. 4 a OG
, dass Anstände im Sinne der
Art. 14 und 15 NAG
nach dem für staatsrechtliche Entscheidungen vorgeschriebenen Verfahren zu beurteilen sind. Im aoG in der Fassung vom 6. Oktober 1911 wird statt dessen auf die einschlägigen Vorschriften des ZGB, die Art. 377 und 378 verwiesen. Das rev. OG hat diesen Hinweis fallen gelassen, offenbar ohne inhaltlich eine Änderung zu beabsichtigen (vgl. den Bericht Ziegler S. 83, wo ausgeführt wird, die Vorschrift sei etwas unbestimmter gefasst, um es dem Bundesgericht zu gegebener Zeit zu ermöglichen, sich darüber auszusprechen, ob auch die Vormundschaftsbehörde der Heimatgemeinde eines ausserehelichen Kindes befugt sei, die Ernennung eines Beistandes zu verlangen, wenn diese von allen von den mehreren dafür in Betracht fallenden Vormundschaftsbehörden verweigert werde).
Obwohl die Vorschrift des bisherigen Art. 180 Ziff. 4 aoG bei Anpassung des OG an das ZGB formell keine Änderung erfahren hat, ist sie seit diesem Zeitpunkt in ihrer Tragweite doch eingeschränkt worden. Denn einerseits gewährt das ZGB der Vormundschaftsbehörde der Heimat in Art. 378 Abs. 2 immer dann, wenn diese nach Abs. 1 ebenda die Bevormundung von Angehörigen in einem andern Kanton verlangen kann, ihr also ein Antragsrecht zusteht, ein Beschwerderecht gegenüber der angegangenen Behörde des Wohnsitzes, die die verlangte Bevormundung oder Verbeiständung ablehnt. Anderseits stellte Art. 86 Ziff. 3 aoG gegen letztinstanzliche Entscheide kantonaler Behörden wegen Verletzung von Bundesrecht bei Entmündigung, Stellung unter Beistandschaft oder Aufhebung solcher Verfügungen den Betroffenen den Rechtsbehelf der zivilrechtlichen Beschwerde zur Verfügung, den das rev. OG in Art. 44 lit. c durch das Rechtsmittel der Berufung ersetzt. Es kann nicht die Meinung des Gesetzgebers gewesen sein, insoweit dieses zivilrechtliche
BGE 81 I 43 S. 46
Rechtsmittel offensteht, ausserdem noch den ebenfalls ordentlichen, nicht bloss subsidiären Rechtsbehelf der staatsrechtlichen Klage im Sinne von
Art. 83 lit. e OG
einzuräumen. Denn nach dem System des OG, das ein öffentlichrechtliches Rechtsmittel nur zulässt, wenn nicht ein zivilrechtliches zur Verfügung steht, eine Ordnung, die in
Art. 84 Abs. 2 OG
ihren Ausdruck findet, können nicht in derselben Sache zwei ordentliche Rechtsbehelfe nebeneinander bestehen. Die Klage nach Art. 83 lit. e behält ihre Bedeutung nur insoweit, als das ordentliche Rechtsmittel des Zivilrechts versagt, also z.B. soweit der vorläufige Entzug der Handlungsfähigkeit (
Art. 386 ZGB
), die Abberufung eines Vormundes oder Beistandes, dessen Ersatz durch eine andere Person, überhaupt eine Massnahme in Frage steht, die nicht unter die Art. 369-372 oder 392-395 ZGB fällt, und, was die Vorschrift des
Art. 378 Abs. 1 ZGB
betrifft, soweit der heimatlichen Vormundschaftsbehörde nach den Bestimmungen des Zivilrechts ein Antragsrecht fehlen sollte. Dass
Art. 371 Abs. 2 ZGB
die Strafvollzugsbehörde anweist, der zuständigen Behörde Mitteilung zu machen, sobald ein zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr Verurteilter die Strafe antritt, bedeutet nicht, dass der heimatlichen Vormundschaftsbehörde kein Antragsrecht zukomme. Es handelt sich dabei um eine blosse Ordnungsvorschrift, die dem Antragsrecht der Vormundschaftsbehörde der Heimat des zu Entmündigenden nicht entgegensteht. Vollends kann nicht zweifelhaft sein, dass ein derartiges Antragsrecht bei der Bevormundung nach
Art. 370 ZGB
besteht, nach welcher Vorschrift der Klägerin die Bevormundung ebenfalls als angezeigt erscheint.
Ist für den Fall, dass ein Begehren im Sinne von
Art. 378 Abs. 1 ZGB
gestellt wird, schon die Frage streitig, ob die angegangene Behörde örtlich zuständig sei, die verlangte Massnahme zu treffen, so steht ebenfalls die Anwendung von Bundesrecht in Frage, nämlich diejenige von
Art. 376 ZGB
über die zur Einleitung des Verfahrens zuständige Vormundschaftsbehörde. Wäre dafür die Berufung verschlossen
BGE 81 I 43 S. 47
(
Art. 376 ZGB
ist in
Art. 44 lit. c OG
nicht besonders genannt), so könnte doch die Verletzung der eidgen. Zuständigkeitsvorschrift nach
Art. 68 lit. b OG
gerügt werden. Indes steht nach dem Meinungsaustausch mit der 2. Zivilabteilung vom 21./31. Januar 1955 auch in diesem Falle die Berufung offen, was nach dem bereits Ausgeführten die staatsrechtliche Klage ausschliesst. Übrigens könnte diese Frage den Gegenstand der Klage deshalb nicht bilden, weil das Urteil darüber nur die Frage betreffen könnte, welches materiell die Befugnisse und Obliegenheiten der Vormundschaftsbehörde der Heimat sind und ob die Weigerung der Wohnsitzbehörde, diese anzuerkennen und die verlangten Vorkehren zu treffen, auf eininer Verkennung der Rechte der Heimatbehörde beruhe. Die Beur teilung der Zuständigkeitsfrage könnte allenfalls bloss als Vorfrage in Betracht fallen, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt wären. Daran würde es hier - die Zulässigkeit der Klage vorausgesetzt -, schon deshalb fehlen, weil die Vormundschaftsbehörde des angeblichen Wohnsitzes über ihre Zuständigkeit bereits entschieden hätte, was deren vorfrageweise Behandlung durch das Bundesgericht ausschlösse (BIRCHMEIER, Organisation zu Art. 96 S. 411).
2.
Die beklagte Vormundschaftsbehörde stellt in Abrede, dass der zu Entmündigende in St. Gallen den letzten Wohnsitz gehabt habe, und bestreitet aus diesem Grunde ihre örtliche Zuständigkeit, vormundschaftliche Massnahmen zu treffen. Sie hat ihre Zuständigkeit bereits im Beschlusse vom 15. Oktober 1954 verneint. Jener Entscheid hätte nach
Art. 378 Abs. 2 ZGB
an die obere kantonale Vormundschaftsbehörde und deren die Klägerin allfällig abweisender Entscheid mit der Berufung an das Bundesgericht weitergezogen werden können. Die staatsrechtliche Klage ist daher ausgeschlossen.
3.
Eventuell wird beantragt, das Bundesgericht wolle die zur Anordnung der Vormundschaft sonst örtlich zuständige Behörde bestimmen, wobei es offenbar die Meinung
BGE 81 I 43 S. 48
hat, dass anhand der Akten oder eines noch durchzuführenden Beweisverfahrens festzustellen sei, wo der zu Entmündigende zuletzt gewohnt hat. Ein derartiges Begehren ist sowohl als Berufungsantrag gegenüber einem letztinstanzlichen kantonalen Entscheid, als auch als Klagebegehren im Sinne von
Art. 83 lit. e OG
unzulässig. Die zuständige Vormundschaftsbehörde kann verbindlich nur gegenüber einer als Partei ins Recht gefassten Behörde festgestellt werden. Eine blosse Feststellung in den Urteilsmotiven, dass eine bestimmte dritte, nicht am Verfahren beteiligte Behörde örtlich zuständig sei, brauchte von dieser mangels einer verbindlichen Entscheidung in diesem Punkt nicht beachtet zu werden. An der Unzulässigkeit dieses Antrages vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass die Beklagte sich ihm nicht widersetzt.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Auf die Klage wird nicht eingetreten.