Urteilskopf
84 IV 171
49. Urteil des Kassationshofes vom 31. Oktober 1958 i.S. Kessler gegen Boltshauser.
Regeste
Art. 249 BStP
. Freie Beweiswürdigung.
1. Dieser Grundsatz gilt für jedes kantonale Verfahren in Bundesstrafsachen, ohne Rücksicht darauf, ob es nach zivil- oder strafprozessualen Vorschriften durchgeführt werde (Erw. 1).
2. Kantonale Vorschriften, wonach bestimmte Personen wegen Befangenheit vom Zeugnis ausgeschlossen sind, verstossen gegen den in
Art. 249 BStP
aufgestellten Grundsatz (Erw. 2-4). Art. 249 PPF. Libre appréciation des preuves.
A.-
Am 14. August 1957 erhob Theresia Leier, die damals mit Ernst Kessler verlobt war und inzwischen mit diesem die Ehe eingegangen ist, beim Bezirksgericht Weinfelden Ehrverletzungsklage gegen Michaela Boltshauser. Zum Beweise des der Beklagten zur Last gelegten Verhaltens berief sich die Klägerin auf das Zeugnis des Kessler. Die Beklagte lehnte diesen Zeugen gestützt auf § 258 Abs. 1 Ziff. 1 der Zivilprozessordnung des Kantons Thurgau (ZPO) ab. Darnach "müssen als befangene Zeugen auf Antrag des Gegners vom Zeugnis ausgeschlossen werden: Verlobte, Ehegatten, die Verwandten (Bluts-, Adoptiv- und Stiefverwandten) und Verschwägerten des Beweisführers in der auf- und absteigenden Linie ohne Unterschied des Grades, die Geschwister, Schwäger und Schwägerinnen".
Die Gerichtskommission Weinfelden entsprach dem Rekusationsbegehren, sah von der Einvernahme des Kessler ab, erachtete, da die Klägerin keine anderen Beweise angeboten hatte, die gegenüber der Beklagten erhobenen Anschuldigungen als nicht erwiesen und wies infolgedessen mit Urteil vom 5. Februar 1958 die Klage ab.
B.-
Das Obergericht des Kantons Thurgau, an das Theresia Leier die Berufung erklärt hatte, bestätigte am 23. Juni 1958 das erstinstanzliche Urteil. Es hielt daran fest, dass Kessler gemäss
§ 258 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO
nicht
BGE 84 IV 171 S. 173
einvernommen werden könne und sah auch von einer persönlichen Befragung der Parteien i.S. der
§
§ 270 ff. ZPO
ab, weil diese Aussagen mit Rücksicht auf die besonderen Umstände des Falles nicht beweiskräftig wären.
C.-
Die Klägerin führt Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, das Urteil des Obergerichtes sei aufzuheben und der Fall an diese Instanz zurückzuweisen, damit sie ein Beweisverfahren durchführe, insbesondere Kessler als Zeugen einvernehme und die persönliche Befragung der Parteien im Sinne der
§
§ 270 ff. ZPO
anordne und die Beklagte verurteile. Zur Begründung wird geltend gemacht, durch den Ausschluss des Zeugen Kessler wegen Befangenheit und durch den Verzicht auf die persönliche Befragung der Parteien in einem Verfahren wegen Ehrverletzung, also in einer Bundesstrafsache, habe das kantonale Gericht
Art. 249 BStP
verletzt, der vorschreibe, dass die entscheidende Behörde die Beweise frei würdige.
D.-
Die Beklagte beantragt, die Nichtigkeitsbeschwerde sei abzuweisen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
In Bundesstrafsachen, die von kantonalen Behörden zu beurteilen sind, richtet sich gemäss
Art. 247 Abs. 3 BStP
und
Art. 365 Abs. 1 StGB
das Verfahren, soweit Bundesrecht nichts anderes bestimmt, nach kantonalem Recht. Damit ist den Kantonen u.a. die Möglichkeit eingeräumt, für alle oder einzelne Antragsdelikte das Privatstrafklageverfahren vorzuschreiben, oder diese Straftaten auf dem Wege des Zivilprozesses verfolgen zu lassen (vgl.
BGE 69 IV 93
, 157). So bestimmt § 7 Abs. 3 des thurgauischen Gesetzes betreffend die Einführung des Schweizerischen Strafgesetzbuches, dass in Ehrverletzungssachen, ausser bei Amtsehrverletzungen, das Verfahren sich nach den Bestimmungen der Zivilprozessordnung richte.
Das ändert nichts daran, dass auch bei der Beurteilung dieser Vergehen der Vorbehalt des
Art. 249 BStP
gilt, wonach die entscheidende Behörde die Beweise frei würdigen
BGE 84 IV 171 S. 174
soll und nicht an gesetzliche Beweisregeln gebunden ist. Die Bestimmungen des Dritten Titels des Bundesgesetzes über die Bundesstrafrechtspflege (BStP), und damit auch Art. 249, werden in
Art. 365 Abs. 2 StGB
für jedes kantonale Verfahren in Bundesstrafsachen vorbehalten, ohne Rücksicht darauf, ob es nach zivil- oder strafprozessualen Vorschriften durchgeführt wird. Für eine solche Unterscheidung bestände auch kein sachlicher Grund.
2.
Der
Art. 249 BStP
mag, wenn lediglich auf dessen Wortlaut abgestellt wird, dahin verstanden werden, dass die entscheidende Behörde bei der Würdigung der erhobenen Beweise an keine gesetzlichen Regeln gebunden sei, sondern unabhängig davon ihre Überzeugungskraft zu prüfen habe. Diese enge Auslegung verträgt sich jedoch nicht mit dem Sinn und Zweck der Bestimmung, die - wie die ihr jedenfalls dem Sinne nach entsprechenden
Art. 20 EHG
,
Art. 38 ElG
,
Art. 289 SchKG
, Art. 46 MFG und
Art. 158 Ziff. 4 ZGB
- erlassen worden ist, um eine gleichmässige Handhabung des Bundesstrafrechtes in allen Kantonen zu erreichen, was u.a. davon abhängt, "dass der Tatbestand, soweit möglich, nach gleichen Grundsätzen festgestellt wird" (Botschaft des Bundesrates zum BG über die Bundesstrafrechtspflege, BBl. 1929 II S. 631/2). Dem stehen nicht nur Regeln über die Würdigung der erhobenen Beweise, sondern auch jene Vorschriften der kantonalen Verfahrensrechte im Wege, nach denen in bestimmten Fällen gewisse Beweise deshalb, weil der Gesetzgeber ihnen keine Überzeugungskraft beimisst, vom Richter, sei es von Amtes wegen oder auf Antrag der Gegenpartei des Beweisführers, überhaupt nicht durchzuführen sind (vgl. für das Bundeszivilrecht: GULDENER, Zivilprozessrecht, I S. 288 f.; SCHURTER u. FRITZSCHE, Zivilprozessrecht, I S. 506 ff.). Ob der kantonale Gesetzgeber der urteilenden Behörde vorschreibt, dass sie auf bestimmte Beweise nicht abstellen dürfe, oder ob er diese Beweismittel wegen ihrer präsumtiven Wertlosigkeit zum voraus vom Verfahren ausschliesst, kommt aufs gleiche hinaus. Beide Vorschriften
BGE 84 IV 171 S. 175
enthalten eine formale schematische Regelung der Beweiskraft und verstossen daher gegen den in
Art. 249 BStP
aufgestellten Grundsatz der freien Beweiswürdigung, nach dem die entscheidende Behörde selber die Überzeugungskraft der einzelnen Beweismittel von Fall zu Fall anhand der konkreten Umstände zu prüfen und zu bewerten hat.
In diesem Sinne hat das Bundesgericht bereits mit Bezug auf den - inhaltlich mit
Art. 249 BStP
übereinstimmenden - Vorbehalt des
Art. 158 Ziff. 4 ZGB
entschieden. indem es feststellte, dass von freier, durch keine gesetzlichen Regeln eingeschränkter Beweiswürdigung nur die Rede sein könne, wenn die Beweiskraft der angerufenen Beweismittel in jedem einzelnen Falle anhand der konkreten Umstände geprüft werde (
BGE 77 II 23
Erw. 2; in gleichem Sinne BÜHLER in ZSR 1955 S. 366 a mit Zitaten). Überdies entspricht diese Auslegung auch der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 11 des BG betreffend die Haftpflicht der Eisenbahnen und Dampfschiffunternehmungen (in der Fassung vom 1. Juli 1875), der für die Beurteilung von Ansprüchen aus diesem Gesetz gleichfalls den Grundsatz der freien Beweiswürdigung aufstellt (BGE XVIII S. 807; XIX S. 189 f. Erw. 5;
BGE 23 I 634
).
Dagegen werden von
Art. 249 BStP
Beweisbeschränkungen nicht betroffen, die sich daraus ergeben, dass das kantonale Recht aus anderen Gründen als der Beweiswürdigung gewisse Beweismittel nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässt (vgl.
BGE 42 II 392
und für das Bundesstrafverfahren die Art. 75-79, 164 Abs. 2 und
Art. 169 Abs. 2 BStP
).
Art. 249 BStP
berührt daher auch nicht kantonale Verfahrensbestimmungen, die mit Rücksicht auf sonstige schützenswerte öffentliche oder private Interessen, wie z.B. zur Vermeidung von Gewissenskonflikten oder zur Erhaltung des Familienfriedens, durch Ausschluss von Zeugen und Sachverständigen oder durch Einräumung des Zeugnisverweigerungsrechts der Beweiserhebung Grenzen setzen.
3.
Die Vorinstanz hat die Einvernahme des Zeugen Kessler gestützt auf
§ 258 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO
abgelehnt, wonach u.a. Verlobte und Ehegatten des Beweisführers auf Antrag des Gegners vom Zeugnis ausgeschlossen seien. Diese Vorschrift hält vor
Art. 249 BStP
nicht stand, da sie auf der Überlegung beruht, dass dem ausgeschlossenen Beweismittel keine Überzeugungskraft zukomme. Das ergibt sich schon aus ihrer Stellung im Gesetz im Titel über "Befangenheit" und aus der auf diesen abgestimmten Fassung des Abs. 1, wonach die in Ziff. 1-4 angeführten Personen "als befangene Zeugen", also aus Misstrauen in die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen, ausgeschlossen werden. Wären andere Gründe für den Ausschluss massgebend (z.B. Vermeidung von Gewissenskonflikten, Erhaltung des Familienfriedens), so wäre er nicht in das Ermessen des Gegners der beweisführenden Partei gestellt worden, da dieser an der Ablehnung einer der in
§ 258 Abs. 1 Ziff. 1-4 ZPO
angeführten Personen als Zeugen nur dann ein schutzwürdiges Interesse haben kann, wenn er deren Aussagen nicht für glaubwürdig hält, von dem insbesondere nicht zu erwarten ist, dass er einen von der Gegenpartei angerufenen Zeugen ablehnen wird, weil er diesem Gewissenskonflikte ersparen oder weil er den Frieden in der Familie der Gegenpartei nicht gefährden möchte.
4.
Anders als die Einvernahme des Zeugen Kessler hat das Obergericht die persönliche Befragung der Parteien im Sinne von
§
§ 270 ff. ZPO
nicht mit der Begründung abgelehnt, dass eine Vorschrift des kantonalen Rechts oder ein allgemeiner Grundsatz des Beweisrechts der Abnahme dieses Beweises entgegenstehe. Es stellt im angefochtenen Urteil vielmehr ausdrücklich fest, dass das Parteiverhör - sei es auf Antrag einer Partei oder von Amtes wegen - auch im Privatstrafklageverfahren angeordnet werden könne. Gestützt auf besondere Umstände des zur Beurteilung stehenden Falles, die im Urteil angeführt werden, ist das Gericht jedoch zur Überzeugung gelangt, dass die persönliche Befragung der Parteien zu keiner zuverlässigen
BGE 84 IV 171 S. 177
Abklärung des der Beklagten zur Last gelegten Verhaltens führen würde und daher nicht anzuordnen sei. Das ist vorweggenommene, freie Würdigung der Überzeugungskraft des Beweismittels anhand der konkreten Umstände, die mit der Nichtigkeitsbeschwerde nicht angefochten werden kann (
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP
).
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird dahin teilweise gutgeheissen, dass das Urteil der Rekurs-Kommission des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 23. Juni 1958 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.