Urteilskopf
86 IV 97
26. Urteil des Kassationshofes vom 17. Juni 1960 i.S. Morgen- thaler gegen Generalprokurator des Kantons Bern.
Regeste
Art. 238 Abs. 2 StGB
. Störung des Eisenbahnverkehrs.
1. Niveauübergänge, die nicht mit Barrieren, sondern nur mit optischer und akustischer Signalisierung und mit Kreuzsignalen versehen sind, gelten als unbewachte Bahnübergänge im Sinne von Art. 11 Ziff. 2 lit. b der Verordnung betreffend die Signalisierung der Niveaukreuzungen vom 7. Mai 1929.
2. Art. 4 Abs. 2 des Bahnpolizeigesetzes hat den Sinn, dass vor Bahnübergängen die Geschwindigkeit so bemessen wird, dass nötigenfalls vor dem Geleise angehalten werden kann.
A.-
Das Geleise der Biel-Täuffelen-Ins-Bahn verläuft auf der Strecke Nidau-Biel nach der Zihlbrücke auf einem längeren Teilstück geradlinig und übersichtlich und überquert, bevor es überbautes Gebiet erreicht, die gut ausgebaute, an dieser Stelle aus zwei getrennten Fahrbahnen bestehende Bernstrasse. Der Niveauübergang wird durch eine Blinklichtanlage, die mit akustischen Signalen und einem Kreuzsignal versehen ist, kenntlich gemacht.
Der Führer des aus einem Triebmotorwagen bestehenden Zuges, der am 7. Juli 1958 um 08.24 Uhr fahrplanmässig die Station Nidau Richtung Biel verliess, schloss aus dem angeblich einmaligen Aufleuchten der Kontrollampe, die
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Blinklichtanlage, die durch den fahrenden Zug automatisch ausgelöst wird, sei in Betrieb gesetzt worden, während dies infolge eines technischen Versagens in Wirklichkeit nicht der Fall war. Kurz vor dem Niveauübergang erblickte der Zugführer einen Lastwagen, der sich von rechts auf der Bernstrasse mit unverminderter Geschwindigkeit von 40 km/Std. dem Bahngeleise näherte. Trotz sofortiger Notbremsung, durch die der Zug auf rund 20 m zum Stehen gebracht werden konnte, war der Zusammenstoss mit dem Lastwagen nicht mehr zu vermeiden. Der Führer des Lastwagens, Morgenthaler, hatte den Zug so spät bemerkt, dass ein Anhalten vor dem Bahnübergang nicht mehr möglich gewesen wäre. Sein Fahrzeug wurde durch den Triebwagen zwischen Führerkabine und Ladebrücke gerammt, einige Meter weit vor dem Zug hergeschoben und schliesslich nach links abgedreht. Morgenthaler wurde dabei verletzt; der Sachschaden am Lastwagen wird auf Fr. 7000.-- und derjenige am Triebwagen auf Fr. 1300.-- geschätzt.
B.-
Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte Morgenthaler am 25. August 1959 wegen fahrlässiger Störung des Eisenbahnverkehrs gemäss
Art. 238 Abs. 2 StGB
zu Fr. 50.- Busse. Als Fahrrlässigkeit legt es ihm zur Last, er sei unaufmerksam und mit übersetzter Geschwindigkeit auf den unbewachten Bahnübergang zugefahren.
C.-
Morgenthaler führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei freizusprechen, da er keine Pflichtwidrigkeit begangen habe.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Der Beschwerdeführer ist der Meinung, er habe, da die optische und akustische Signalanlage nicht in Betrieb gesetzt worden sei, annehmen dürfen, es nahe kein Zug heran und die Fahrstrecke über den Niveauübergang sei frei. Das ist nicht richtig.
Die Verordnung betreffend den Abschluss und die Signalisierung der Niveaukreuzungen der Eisenbahnen mit
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öffentlichen Strassen und Wegen vom 7. Mai 1929 unterscheidet in Art. 11 Ziff. 2 zwei Arten von Bahnübergängen: einerseits den bewachten Bahnübergang, der mit Barrieren oder mit optischer und akustischer Signalisierung versehen ist und vor dem im Falle des Betriebes der Signalanlage jedes Strassenfahrzeug in einer Entfernung von mindestens 10 m anzuhalten hat (lit. a), und anderseits den unbewachten Bahnübergang, der nur durch Kreuzsignale gekennzeichnet ist und vor dem sich jeder Fahrzeugführer unter eigener Verantwortung selber zu vergewissern hat, ob ein Zug herannahe (lit. b). An dieser Regelung hat die spätere Verordnung über die Strassensignalisation in der ursprünglichen Fassung vom 17. Oktober 1932 (AS 48, 535) nichts geändert. Art. 9 SigV erklärte ausdrücklich, dass mit dem Signal Nr. 4 (bewachter Bahnübergang) Niveauübergänge bezeichnet werden, die mit Barrieren oder mit optischer und akustischer Signalisierung versehen sind (Abs. 2), und dass das Signal Nr. 5 (unbewachter Bahnübergang) Niveauübergänge kennzeichne, die weder mit Barrieren noch mit optischer und akustischer Signalisierung, wohl aber mit Kreuzsignalen versehen sind (Abs. 3).
Diese beiden Absätze des Art. 9 SigV sind durch Bundesratsbeschluss vom 23. November 1934 (AS 50, 1340) aufgehoben und durch neue Bestimmungen ersetzt worden, die eine von der ursprünglichen Fassung abweichende Umschreibung des bewachten und unbewachten Bahnüberganges enthalten. Darnach gilt ein Bahnübergang nur dann als bewacht, wenn er mit Barrieren versehen ist (Abs. 2), während alle anderen Bahnübergänge als unbewacht gelten, seien sie mit optischer und akustischer Signalisierung und mit Kreuzsignalen oder einzig mit Kreuzsignalen gekennzeichnet (Abs. 3). Dieser neuen Ordnung entsprechend, die seit 1. Dezember 1934 in Kraft ist, sind auch die bahnpolizeilichen Vorschriften des Art. 11 Ziff. 2 lit. a und b der Verordnung vom 7. Mai 1929 auszulegen, ansonst der BRB vom 23. November 1934 betreffend die Abänderung des Art. 9 Abs. 2 und 3 SigV zwecklos wäre. Demnach hat
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sich der Fahrzeugführer bei Bahnübergängen, die nur mit optischer und akustischer Signalisierung in Verbindung mit Kreuzsignalen versehen sind, nach der für das Überschreiten unbewachter Bahnübergänge massgebenden Vorschrift des Art. 11 Ziff. 2 lit. b der Verordnung vom 7. Mai 1929 zu verhalten, d.h. er hat sich selber zu vergewissern, ob ein Zug herannahe, und darf sich nicht darauf verlassen, dass der Niveauübergang, wenn die Signalanlage nicht in Betrieb ist, frei sein werde.
Der Beschwerdeführer war somit bei der Annäherung an die Niveaukreuzung der BTI-Bahn mit der Bernstrasse auch ohne Funktionieren der Signalanlage verpflichtet, das Geleise nach beiden Seiten hin zu beobachten und es erst zu überqueren, nachdem er sich die Gewissheit verschafft hatte, dass keine Gefahr drohte. Nach der verbindlichen Feststellung des Obergerichtes hatte der Beschwerdeführer 50 m vor dem Bahnübergang freie Sicht auf den von links herannahenden Triebwagen; er hätte ihn daher bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit so frühzeitig wahrnehmen können, dass er in der Lage gewesen wäre, auch bei einer Geschwindigkeit von 40 km/Std. sein Fahrzeug vor dem Geleise anzuhalten. Da er den Zug erst unmittelbar vor dem Überqueren des Geleises bemerkte, war er pflichtwidrig unaufmerksam. Dass der Beschwerdeführer seine Aufmerksamkeit in erster Linie nach vorne auf die Blinklichtanlage und die vor ihm fahrenden Fahrzeuge richten und ausserdem die nahe vor dem Bahnübergang von rechts einmündende Strasse beobachten musste, vermag ihn nicht zu entlasten. Abgesehen davon, dass diese Seitenstrasse eine Stopstrasse ist und dem Beschwerdeführer die örtlichen Verhältnisse bestens bekannt waren, nahm ihn die Beobachtung des Verkehrs und der Signalanlage nicht derart in Anspruch, dass es zeitlich unmöglich gewesen wäre, schon 50 oder 40 m vor dem Bahnübergang zwischenhinein rasch einen Blick nach links auf den entfernteren Teil des Geleises zu werfen. Dem Motorfahrzeugführer muss zugemutet werden, dass er je nach den Umständen
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innert kürzester Zeit nach verschiedenen Seiten beobachte und nötigenfalls seine Geschwindigkeit herabsetze, damit er zur Erfüllung seiner Beobachtungspflicht imstande ist (vgl.
BGE 84 IV 116
).
2.
Neben diesem Mangel an Aufmerksamkeit, der den Hauptteil des Verschuldens ausmacht, ist dem Beschwerdeführer auch vorzuwerfen, dass er sich mit übersetzter Geschwindigkeit dem Bahnübergang genähert hat. Art. 4 Abs. 2 des Bahnpolizeigesetzes vom 18. Februar 1878 schreibt vor, dass Fahrzeuge bei der Überquerung von Bahnlinien im Schrittempo zu fahren haben. Mag beim Erlass dieser Vorschrift mitgespielt haben, dass früher die Geleise höher als das Strassenniveau lagen, ein Umstand, der heute kaum mehr anzutreffen ist, so ist deswegen die Bestimmung nicht gegenstandslos geworden. Das ergibt sich schon daraus, dass sie in Art. 11 Ziff. 2 lit. c der Verordnung vom 7. Mai 1929 ausdrücklich übernommen wurde und auch in Art. 25 Abs. 1 MFG ihren Niederschlag gefunden hat, wonach der Führer bei Bahnübergängen den Lauf zu mässigen und nötigenfalls anzuhalten hat. Zwar ist der Ausdruck "im Schritt" mit Rücksicht auf die technische Vervollkommnung moderner Motorfahrzeuge nicht mehr wörtlich zu nehmen; der Sinn der Geschwindigkeitsvorschrift des Bahnpolizeigesetzes besteht aber immer noch darin, dass der Führer bei der Annäherung an Bahnübergänge eine erhöhte Sorgfalt walten lässt und seine Geschwindigkeit so bemisst, dass er wenn nötig vor dem Geleise anhalten kann (
BGE 57 II 430
;
BGE 69 II 156
;
BGE 71 II 120
). Der Beschwerdeführer war dazu ausserstande, weil er mit unverminderter Geschwindigkeit von 40 km/Std. auf den Bahnübergang zugefahren ist. Die 170 m vorher aufgestellte Signaltafel, welche die Höchstgeschwindigkeit allgemein auf 40 km/Std. beschränkt, enthebt den Führer nicht der Pflicht, je nach den Umständen noch langsamer zu fahren, und berechtigt ihn auf keinen Fall, die an Bahnübergängen von Gesetzes wegen geltende Geschwindigkeitsbeschränkung zu überschreiten.
3.
Dass der Beschwerdeführer den Verkehr der BTIBahn gestört und dadurch Leib und Leben von Bahninsassen und fremdes Eigentum gefährdet hat, ist unbestritten. Er ist daher zu Recht wegen fahrrlässiger Störung des Eisenbahnverkehrs gemäss
Art. 238 Abs. 2 StGB
bestraft worden.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.