BGE 88 IV 72 vom 29. Juni 1962

Datum: 29. Juni 1962

Artikelreferenzen:  Art. 220 StPO, Art. 41 StGB, Art. 67 StGB, Art. 89 StGB, Art. 95 StGB, Art. 99 StGB, Art. 333 StGB , Art. 333 Abs. 2 StGB, Art. 67 und 108 StGB, Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 StGB, Art. 89 ff. StGB, Art. 361 StGB, Art. 344, 345 ff. und 349 StGB, Art. 41 Ziff. 1 Abs. 3 StGB

BGE referenzen:  83 IV 174, 83 IV 175

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

88 IV 72


22. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 29. Juni 1962 i.S. Staatsanwaltschaft Graubünden gegen Rudin.

Regeste

Art. 59 Abs. 2 MFG.
Die Bestimmungen der Art. 89 bis 99 StGB stehen der Annahme nicht im Wege, dass wegen Rückfalles bei Führen eines Motorfahrzeuges in angetrunkenem Zustande auch strafbar ist, wer die frühere Verurteilung als Jugendlicher erlitt.

Sachverhalt ab Seite 73

BGE 88 IV 72 S. 73
Aus dem Tatbestand:

A.- Am 10. Juli 1961 gegen Mitternacht setzte sich Rudin in angetrunkenem Zustand ans Steuer seines Personenwagens und fuhr auf der Kantonsstrasse von Chur nach Rhäzüns. Da er sich plötzlich unpässlich und müde fühlte, hielt er sein Fahrzeug auf einem Abstellplatz hinter Rhäzüns an, erbrach sich und schlief ein. Ungefähr drei Stunden später wurde er dort von der Polizei aufgegriffen, die eine Blutentnahme anordnete und Anzeige erstattete.
Am 5. November 1955 war Rudin bereits als Jugendlicher vom Jugendgericht Hinterrhein wegen Widerhandlung gegen Art. 59 Abs. 1 MFG in eine bedingt aufgeschobene Strafe von fünf Tagen Einschliessung nach Art. 95 f. StGB verfällt worden.

B.- Der Kreisgerichtsausschuss Rhäzüns erklärte Rudin am 28. Dezember 1961 des Führens eines Motorfahrzeuges im angetrunkenen Zustand im Sinne des Art. 59 Abs. 1 MFG schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren Strafe von 14 Tagen Haft und zu einer bedingt vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 100.--. Das Gericht nahm an, es liege kein Rückfall vor.
Der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden bestätigte dieses Urteil am 19. Februar 1962.

C.- Die Staatsanwaltschaft Graubünden führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Kantonsgerichtsausschusses sei aufzuheben und die Sache zur Bestrafung Rudins nach Art. 59 Abs. 2 MFG an die Vorinstanz zurückzuweisen.

D.- Rudin beantragt Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

1. Wer in angetrunkenem Zustand ein Motorfahrzeug führt, wird nach Art. 59 Abs. 1 MFG in Verbindung mit Art. 333 Abs. 2 StGB mit Haft bis zu zwanzig Tagen oder mit Busse bis zu tausend Franken bestraft. In schweren Fällen oder "bei Rückfall" wird gemäss Art. 59 Abs. 2
BGE 88 IV 72 S. 74
MFG auf Gefängnis bis zu sechs Monaten oder auf Busse bis zu fünftausend Franken erkannt.
Der Rückfall ist hier nicht allgemeiner Strafschärfungsgrund im Sinne der Art. 67 und 108 StGB , sondern ein das Führen in angetrunkenem Zustande auszeichnendes Tatbestandsmerkmal. Er ist in Art. 59 Abs. 2 MFG zu einem besondern Straftatbestand erhoben und den (sonstigen) schweren Fällen gleichgestellt, welche nach dieser Bestimmung als Vergehen zu ahnden sind ( BGE 74 IV 78 , BGE 77 IV 108 , BGE 83 IV 174 ). Mit Rückfall kann hier nur die Wiederholung der Tat nach einer wegen Führens in angetrunkenem Zustande erfolgten früheren Verurteilung gemeint sein ( BGE 77 IV 109 ).

2. Davon geht auch die Vorinstanz aus. Sie hält aber dafür, im Entscheid eines Jugendgerichtes sei keine strafrechtliche Verurteilung im Sinne dieser Rechtsprechung zu erblicken. Das Strafgesetzbuch spreche in den für Jugendliche geltenden Bestimmungen der Art. 89 bis 99 nirgends von einer Verurteilung, sondern bloss in Art. 90 von der Beurteilung des Jugendlichen. Dieser werde gemäss Art. 95 StGB nicht für schuldig, sondern für fehlbar befunden. Auch würden ihm Strafen in Aussicht gestellt, welche mit Ausnahme der Busse von denen für Erwachsene der Art nach verschieden seien (Verweis, Einschliessung, erzieherische Massnahme). Das Strafgesetzbuch - wie übrigens auch Art. 220 StPO - vermeide denn auch den strengen Ausdruck Urteil und gebrauche das farblosere Wort Entscheid. Dazu komme, dass das Bundesgericht in BGE 79 IV 1 die Einschliessung nicht zu den Freiheitsstrafen zähle, die für den Fall, dass sie während der letzten fünf Jahre vor Verübung der Tat verbüsst wurden, den bedingten Strafvollzug nach Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 StGB ausschlössen. Sie sei wohl Strafe, dürfe aber mit den für das Erwachsenenstrafrecht vorgesehenen Sanktionen nicht auf eine Ebene gehoben werden.
Mit dieser Begründung lässt sich das angefochtene Urteil nicht aufrechterhalten. Es trifft zwar zu, dass in den
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Art. 89 ff. StGB nicht ausdrücklich von einer Verurteilung die Rede ist. Sachlich liegt aber nichtsdestoweniger eine solche immer vor, wenn die zuständige Behörde den Jugendlichen wegen einer vom Gesetz mit Strafe bedrohten Tat "fehlbar" findet und über ihn eine Massnahme verhängt oder ihn bestraft. Die Verhängung einer Massnahme setzt wie die Bestrafung voraus, dass der Betroffene wegen einer strafbaren Handlung schuldig befunden werde; auch wird die Massnahme wie die Strafe samt dem Schuldspruch ins Strafregister eingetragen ( Art. 361 StGB ) und unter den gleichen Voraussetzungen wie diese gelöscht ( Art. 99 StGB ). Es ist namentlich bei der Bestrafung nach Art. 95 nicht einzusehen, dass eine Einschliessung keine strafrechtliche Verurteilung sein soll. Art. 95 vermeidet zwar das Wort "schuldig" und weist stattdessen die zuständige Behörde an, den Jugendlichen mit Verweis, Busse oder Einschliessung zu strafen, wenn sie ihn "fehlbar" findet. Allein Fehlbarkeit ist nichts anderes als Schuld (vgl. HAFTER, Allg. Teil, S. 475; SCHWANDER, Das schweizerische StGB, S. 228 Nr. 497), die übrigens nach allgemeinem für das Schuldstrafrecht geltendem Grundsatz erst Strafe rechtfertigt. Von strafrechtlicher Verurteilung zu sprechen, ist umsomehr am Platz, als das Gesetz selbst den mit Einschliessung oder Busse bestraften Jugendlichen in Art. 96 Abs. 1 als Verurteilten bezeichnet. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass in Art. 97 das Wort Entscheid anstelle von Urteil verwendet wird. Jedenfalls kommt dem Entscheid dann der Charakter einer Verurteilung zu, wenn nachträglich eine Massnahme verhängt oder eine Strafe ausgefällt werden muss. Ebensowenig führt zu einem andern Schluss, dass Art. 90 von der Beurteilung des Jugendlichen spricht. Diese Bestimmung betrifft lediglich die Untersuchung, deren Aufgabe es ist, insbesondere den objektiven Sachverhalt festzustellen und die persönlichen Verhältnisse des Täters zu erforschen, soweit das der Entscheid über die zweckmässige Behandlung des Jugendlichen erfordert. Niemals kann es
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aber Sache der Untersuchung sein, diesen Entscheid durch eine Verurteilung vorwegzunehmen (vgl. hiezu Art. 344, 345 ff. und 349 StGB ).
Nicht einzusehen ist sodann, dass der Grundgedanke des Jugendstrafrechts der Berücksichtigung der früheren Verfehlung entgegenstehen und damit die Annahme eines Rückfalles im Sinne des Art. 59 Abs. 2 MFG verwehren sollte. Die schärfere Bestrafung des Rückfälligen hat ihren Grund einzig darin, dass der Täter sich durch die Vorstrafe nicht genügend abschrecken liess und neuerdings Schuld auf sich geladen hat (HAFTER, Allg. Teil, S. 368). Dies trifft unbekümmert darum zu, ob er die Tat als Jugendlicher oder als Erwachsener wiederholte.
Schliesslich lässt sich auch aus BGE 79 IV 1 ff. nichts für eine andere Betrachtungsweise ableiten. Damals war die Frage zu beurteilen, ob die Einschliessung eine Freiheitsstrafe sei, die den bedingten Strafvollzug nach Art. 41 Ziff. 1 Abs. 3 StGB ausschliesse. Darum geht es hier nicht. Zu entscheiden ist vielmehr, ob die Wiederholung einer gemäss Jugendstrafrecht geahndeten Tat nach Erreichung des 18. Altersjahrs den besondern Straftatbestand des Rückfalles im Sinne des Art. 59 Abs. 2 MFG begründe. Dies aber ist aus den angeführten Gründen zu bejahen. Zu Bedenken besteht umsoweniger Anlass, als der Strafrahmen des Art. 59 Abs. 2 MFG erlaubt, den Besonderheiten des Einzelfalles und auch Billigkeitsgründen, wo sich solche stellen ( BGE 77 IV 109 , BGE 83 IV 175 ), in weitem Masse Rechnung zu tragen.

Dispositiv

Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Kantonsgerichtsausschusses von Graubünden vom 19. Februar 1962 aufgehoben und die Sache zur Bestrafung des Beschwerdegegners nach Art. 59 Abs. 2 MFG an die Vorinstanz zurückgewiesen.

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