Urteilskopf
90 I 233
36. Urteil vom 8. Juli 1964 i.S. S. gegen Kanton Solothurn und Rekurskommission des Kantons Solothurn.
Regeste
1. Das Bundesgericht weicht nur dann nicht ohne Not von der Auslegung einer kantonalen Verfassungsbestimmung durch ein kantonales Organ ab, wenn die Bestimmung nicht selber ein Grundrecht gewährleistet, und wenn die Auslegung vom kantonalen Parlament (oder vom Volk) ausgegangen ist (Erw. 3).
2. Dass der Steuerpflichtige gemäss § § 36 und 37 des solothurnischenSteuergesetzes bei der Veräusserung eines ererbten oder ihm geschenkten Gegenstandes des Privatvermögens auch den Mehrwert zu versteuern hat, der während der Besitzesdauer des Rechtsvorgängers angewachsen ist, verstösst nicht gegen Art. 62 der Kantonsverfassung (Erw. 4, 5).
A.-
Nach Art. 62 Abs. 1 der solothurnischen Staatsverfassung (KV) sind "Bestimmungen über direkte Besteuerung und indirekte Abgaben... Sache der Gesetzgebung". Gemäss Abs. 2 sollen alle Steuerpflichtigen "im Verhältnis ihrer Mittel" an die Ausgaben des Staates beitragen (Satz 1); bei der Besteuerung des Einkommens und des Vermögens ist "auf das reine Einkommen und das reine Vermögen" abzustellen (Satz 2); diese Grundsätze gelten sinngemäss auch für die Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen (Satz 3). Am 29. Januar 1961 erhielt Art. 62 KV folgenden neuen Abs. 3:
"Kurzfristig erzielte Grundstückgewinne können einer Zuschlagssteuer unterworfen werden, für welche das Reineinkommensprinzip nach Abs. 2 nicht gilt."
Am selben Tage nahmen die Stimmberechtigten das neue Gesetz über die direkte Staats- und Gemeindesteuer (StG) an. § 30 lit. e des Gesetzes bestimmt, dass zum
BGE 90 I 233 S. 235
steuerbaren Einkommen insbesondere auch Kapitalgewinne auf dem Privatvermögen gehören. Diese werden indes nur besteuert, wenn sie "in Geld oder in Geldwert" realisiert werden (
§ 35 StG
), nicht dagegen im Falle des Erbganges und der Erbteilung (
§ 36 Abs. 1 StG
). Der steuerbare Kapitalgewinn besteht in der Differenz zwischen dem Erlös und den Anlagekosten beim letzten gewinnsteuerpflichtigen Vorgang (
§ 37 Abs. 1 StG
). Liegt dieser mehr als 40 Jahre zurück, so kann der damalige Verkehrswert als Erwerbswert angerechnet werden (
§ 37 Abs. 2 StG
). Nach einer Besitzesdauer von mehr als 5 Jahren ermässigt sich der steuerbare Gewinn um 10 bis 50% (
§ 38 StG
). Auf kurzfristig, d.h. nach einer Besitzesdauer von weniger als 5 Jahren erzielten Grundstücksgewinnen wird demgegenüber eine Zuschlagssteuer erhoben (
§
§ 71-73 StG
).
Nach § 25 Abs. 1 der Vollziehungsverordnung (VV) vom 19. April 1961 zum StG gilt bei der Veräusserung von unentgeltlich erworbenen Vermögenswerten der vom Erblasser, Schenker oder deren Rechtsvorgängern bezahlte oder der ihnen angerechnete Übernahmepreis als Anlagewert. Gemäss § 26 VV unterbrechen Handänderungen, die nach
§ 36 StG
keine Kapitalgewinnsteuerpflicht auslösen, die für die Gewinnermässigung massgebende Besitzesdauer nicht.
B.-
Aus dem Nachlass des 1952 verstorbenen Emil S. übernahm die überlebende Ehefrau gemeinsam mit den 1945 und 1948 geborenen Kindern ein landwirtschaftliches Anwesen in der Gemeinde H. 1961 verkauften sie den Hauptteil des Hofes und 1962 noch einige andere zum Anwesen gehörende Grundstücke. Da die Kinder minderjährig sind, werden ihre Einkünfte (ausser dem Erwerbseinkommen) und ihr Vermögen steuerlich der Mutter als Inhaberin der elterlichen Gewalt zugerechnet (
§ 25 StG
). Die Steuerkommission schätzte den von der Witwe S. für das Steuerjahr 1962 zu versteuernden Kapitalgewinn auf Einsprache hin auf Fr. 162'000.-- ein. Auf Grund
BGE 90 I 233 S. 236
eines Entscheids der kantonalen Rekurskommission vom 16. September 1963 i.S. Mengisen hielt sie
§ 37 Abs. 1 StG
und § 26 VV als mit Art. 62 Abs. 2 KV unvereinbar und daher nicht anwendbar; sie ging demgemäss bei der Berechnung des steuerbaren Gewinns entgegen
§ 37 StG
nicht vom Verkehrswert der ererbten Grundstücke vor 40 Jahren, sondern vom Ertragswert der Liegenschaften zur Zeit des Erbanfalles im Jahre 1952 aus.
Witwe S. zog diese Verfügung an die kantonale Rekurskommission weiter. Sie machte geltend, es verstosse gegen den Grundsatz der Gewaltentrennung und den Anspruch der Steuerpflichtigen auf Anwendung der vom Volk angenommenen Gesetze, wenn die Steuerjustizbehörden diese auf ihre Übereinstimmung mit der kantonalen Verfassung hin überprüften. Sollte die Steuerkommission aber dazu befugt sein, so habe sie zu Unrecht angenommen,
§ 37 Abs. 1 StG
und § 26 VV verletzten Art. 62 Abs. 2 KV. Bei richtiger Gesetzesanwendung berechne sich der steuerbare Kapitalgewinn lediglich auf Fr. 73'500.--.
Die kantonale Rekurskommission hat den Rekurs am 23. März 1963 abgewiesen. Sie hat dazu ausgeführt, sie sei befugt und verpflichtet, die Verfassungsmässigkeit der kantonalen Erlasse zu überprüfen und einem verfassungswidrigen Erlass die Anwendung zu versagen. Nach der Regelung des StG habe der Steuerpflichtige nicht nur den während der Dauer seines Besitzes entstandenen Wertzuwachs der veräusserten Gegenstände als Einkommen zu versteuern, sondern auch den Mehrwert, der während der Dauer des Besitzes des Erblassers angewachsen sei. Diese Lösung halte vor Art. 62 Abs. 2 KV nicht stand. Bei einer Gegenüberstellung von Abs. 2 und 3 dieses Artikels ergebe sich durch Umkehrschluss, dass Kapitalgewinne auf Privatvermögen, soweit nicht die in Abs. 3 genannte Zuschlagssteuer in Frage stehe, nur als Bestandteil des Reineinkommens besteuert werden dürften. Aus Abs. 2 Satz 3 folge, dass Erbschaften und Schenkungen
BGE 90 I 233 S. 237
nicht als Einkommen besteuert werden dürften. Aus Abs. 2 gehe ferner hervor, dass die Einkommenssteuer eine Subjektsteuer sei, die auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen abstelle. Das schliesse die Möglichkeit aus, einen Steuerpflichtigen für ein Einkommen zu besteuern, das nicht er selbst oder eine von ihm in der Steuerpflicht vertretene Person, sondern sein Rechtsvorgänger erzielt habe. Wenn der Steuerpflichtige nach § 37 Abs. 1 in Verbindung mit
§ 36 Abs. 1 und
§ 31 Abs. 1 lit. a StG
auch denjenigen Mehrwert zu versteuern habe, der während der Besitzesdauer seines Rechtsvorgängers (des Erblassers) angewachsen ist, so verstosse das mithin gegen Art. 62 Abs. 2 KV. Ebenso sei § 26 VV verfassungswidrig. Da der unter der Besitzesdauer des Erblassers eingetretene Mehrwert für die Gewinnberechnung nicht herangezogen werden dürfe, könne dieser Zeitraum andererseits auch nicht beim Besitzesdauerabzug im Sinne von § 38 berücksichtigt werden. Aus verfassungsrechtlichen Überlegungen habe somit der wahre Wert des durch Erbschaft erworbenen Privatvermögens im Zeitpunkt des Erbanfalles als dessen Anlagewert zu gelten. Die Steuerkommission sei in ihren Berechnungen richtigerweise von diesem Wert ausgegangen.
C.-
Witwe S. führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, der Entscheid der kantonalen Rekurskommission sei aufzuheben. Sie macht eine Missachtung des in Art. 4 KV gewährleisteten Grundsatzes der Gewaltentrennung, eine unhaltbare Auslegung von Art. 62 Abs. 2 und 3 KV sowie eine Verletzung des
Art. 4 BV
geltend.
D.-
Der Regierungsrat schliesst auf Gutheissung der Beschwerde; die kantonale Rekurskommission empfiehlt dagegen, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gemäss § 37 Abs. 1 in Verbindung mit
§ 36 Abs. 1 StG
besteht der steuerbare Kapitalgewinn bei der Veräusserung
BGE 90 I 233 S. 238
ererbten oder durch Schenkung erworbenen Privatvermögens aus der Differenz zwischen dem vom Steuerpflichtigen erzielten Erlös und dem vom Erblasser bzw. Schenker bezahlten Erwerbspreis. Der Steuerpflichtige hat demnach den während der Dauer seines Besitzes und den während der Dauer des Vorbesitzes angewachsenen Mehrwert zu versteuern. Die kantonale Rekurskommission hält diese Regelung für verfassungswidrig; sie will den Steuerpflichtigen nur für den während der Dauer seines Besitzes entstandenen Mehrwert besteuern. Das wirkt sich in der Regel im Sinne einer Entlastung des Steuerpflichtigen aus. Die Verhältnisse können aber auch anders liegen. Laut
§ 38 StG
ermässigt sich der steuerbare Gewinn nach einer Besitzesdauer von mehr als 5 Jahren um 10 bis 50%. Gemäss § 26 VV, der die in §§ 36 Abs. 1 und 37 Abs. 1 StG erlassene Ordnung ausführt, wird die Besitzesdauer im Falle der Veräusserung ererbten oder durch Schenkung erworbenen Privatvermögens vom Erwerb durch den Erblasser bzw. Schenker an gerechnet. Nach der Rechtsprechung der Rekurskommission berechnet sich die Besitzesdauer dagegen vom Zeitpunkt des Erbanfalles bzw. der Schenkung an. Das kann zu einer Verminderung der nach
§ 38 StG
vorzunehmenden Abzüge führen, die mitunter die Entlastung, welche die Ausserachtlassung des unter dem Rechtsvorgänger angewachsenen Mehrwerts mit sich bringt, mehr als aufwiegt. Nach den Berechnungen der Beschwerdeführerin, die in diesem Zusammenhang nicht zu überprüfen sind, trifft das im vorliegenden Falle zu: Sie wird ihrer Ansicht nach auf Grund der Rechtsprechung der Rekurskommission zu höheren Steuern herangezogen, als wenn das Gesetz auf sie angewendet worden wäre. Da der behauptete Eingriff der Rekurskommission in die Befugnisse des Gesetzgebers eine Mehrbelastung der Beschwerdeführerin zur Folge gehabt haben soll, ist sie auch in dieser Hinsicht in ihrer persönlichen Rechtsstellung betroffen und deshalb befugt, sich über eine Verletzung des Grundsatzes der Gewaltenteilung
BGE 90 I 233 S. 239
(Art. 4 KV) zu beklagen (vgl.
BGE 89 I 260
Erw. 5). Der Anrufung des
Art. 4 BV
steht bei dieser Sachlage ohnehin nichts entgegen.
Zu Unrecht beantragt die Rekurskommission, auf die Beschwerde insoweit nicht einzutreten, als diese Art. 62 Abs. 3 KV als verletzt bezeichnet. Zwar ist die Beschwerdeführerin nicht auf Grund dieses (die Zuschlagssteuer betreffenden) Verfassungssatzes zu Steuern herangezogen worden. Die Rekurskommission hat sich indes im angefochtenen Entscheid bei der Auslegung des für die Besteuerung der Beschwerdeführerin massgebenden Art. 62 Abs. 2 KV eines Umkehrschlusses aus Abs. 3 bedient. Der Beschwerdeführerin steht es zu, sich mit dieser Beweisführung auseinanderzusetzen und dabei auch die Auslegung des Abs. 3 durch die kantonale Instanz zu beanstanden.
2.
Die kantonale Rekurskommission erachtet sich als zuständig, das Steuergesetz auf dessen Übereinstimmung mit der Kantonsverfassung hin zu überprüfen und Gesetzesbestimmungen, welche dieser widersprechen, die Anwendung zu versagen. Die Beschwerdeführerin erblickt hierin eine Verletzung des in Art. 4 KV aufgestellten Grundsatzes der Gewaltenteilung. Ob diese Rüge begründet sei, kann dahingestellt bleiben. Wie sich im Folgenden ergibt, verstossen die in Frage stehenden Gesetzesbestimmungen nicht gegen den als verletzt bezeichneten Art. 62 Abs. 2 KV, so dass die kantonale Rekurskommission sie auf jeden Fall anzuwenden hatte.
3.
Das Bundesgericht ist in der Prüfung der Auslegung und Anwendung des kantonalen Verfassungsrechts grundsätzlich frei. Soweit kantonale Verfassungssätze dem Bürger ein Grundrecht gewährleisten, hält das Bundesgericht an dieser freien Prüfung fest (JdT 1962 I 273; BONNARD, Problèmes relatifs au recours de droit public, ZSR 81 II S. 491 Ziff. 148). In der Prüfung der Auslegung und Anwendung der übrigen kantonalen Verfassungsbestimmungen, insbesondere derjenigen organisatorischer
BGE 90 I 233 S. 240
und programmatischer Natur, hält das Bundesgericht dagegen insofern zurück, als es der Handhabung dieser Verfassungssätze durch das oberste zur Auslegung der Verfassung berufene kantonale Organ ein besonderes Gewicht beilegt und nicht ohne Not davon abweicht (
BGE 83 I 116
;
BGE 88 I 153
Erw. 3;
BGE 89 I 44
c, 375 Erw. 2, 454 je mit Verweisungen). Oberstes zur Auslegung der Verfassung berufenes Organ ist das kantonale Parlament (BGE 19, 501; 22, 718;
BGE 24 I 645
;
BGE 25 I 471
;
BGE 40 I 400
;
BGE 46 I 121
;
BGE 49 I 540
;
BGE 50 I 292
;
BGE 51 I 224
;
BGE 60 I 366
;
BGE 73 I 118
;
BGE 74 I 176
;
BGE 77 I 116
;
BGE 81 I 196
;
BGE 83 I 116
;
BGE 88 I 153
Erw. 3;
BGE 89 I 44
c, 375 Erw. 2). In zahlreichen Urteilen wird daneben auch dem Volk diese Aufgabe zuerkannt (BGE 4, 611; 12, 92;
BGE 29 I 44
;
BGE 30 I 70
;
BGE 32 I 309
/10;
BGE 73 I 118
;
BGE 83 I 116
), und zwar insofern, als es mit der Annahme eines Erlasses sich zugleich für dessen Verfassungsmässigkeit ausspreche, mit seinem Entscheid die Verfassung auslege (
BGE 29 I 44
;
BGE 73 I 118
) und damit die Ansicht der vorberatenden Behörde gutheisse (BGE 12, 92;
BGE 30 I 70
).
Im vorliegenden Fall stehen sich die Auslegung des Art. 62 Abs. 2 KV durch die kantonale Rekurskommission und durch den Kantonsrat gegenüber. Der Stellungnahme der erstgenannten Behörde kommt nach dem Gesagten kein erhöhtes Gewicht zu. Anderes gilt an sich für die Auslegung durch den Kantonsrat, sofern Art. 62 Abs. 2 KV, was dahingestellt bleiben kann, kein Grundrecht gewährleistet, sondern lediglich eine Anweisung an den Gesetzgeber enthält. Unter den hier gegebenen besonderen Verhältnissen stellt sich die Frage allerdings anders. Das Bundesgericht hat in Erw. 2 offen gelassen, ob die Rekurskommission über die Übereinstimmung der Gesetze mit der Kantonsverfassung zu befinden habe, weil die fraglichen Bestimmungen des Steuergesetzes jedenfalls nicht verfassungswidrig seien. Es hat damit den Entscheid der Rekurskommission in materieller Hinsicht überprüft, ohne sich über dessen formelle Voraussetzungen auszusprechen. Sollte der Rekurskommission aber die Verfassungsgerichtsbarkeit,
BGE 90 I 233 S. 241
die sie für sich in Anspruch nimmt, zustehen, so könnte sie diese, wie sie es getan hat, frei ausüben; denn die Rücksicht auf die kantonale Autonomie, derentwegen das Bundesgericht sich die erwähnte Zurückhaltung auferlegt (GIACOMETTI, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 234; VOGT, Die Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichtes bei der Auslegung des kantonalen Verfassungsrechts, S. 32 A. 60; vgl. auch BBl 1856 I 239 f.), kann für die Rekurskommission als kantonale Behörde nicht bestimmend sein. Kommt ihr jedoch, die Befugnis zur Verfassungsrechtsprechung vorausgesetzt, freie Prüfung zu, so muss auch das Bundesgericht frei (d.h. ohne Rücksicht auf die Stellungnahme des Kantonsrates) entscheiden, wenn es über die Richtigkeit der Verfassungsauslegung durch die Rekurskommission zu befinden hat.
4.
a) Die solothurnische Staatsverfassung vom 12. Dezember 1875 ordnete in § 5 Abs. 2 und 3 an:
"Bestimmungen über Besteuerung sind Sache der Gesetzgebung und unterliegen nach § 20 der Genehmigung des Volkes.
Eine direkte Steuer kann nur auf das reine Vermögen (nach Abzug aller Schulden) und auf das reine Einkommen verlegt werden."
In der Staatsverfassung vom 23. Oktober 1887 lauteten die entsprechenden Abs. 1 und 2 des Art. 62:
"Bestimmungen über direkte Besteuerung und indirekte Abgaben sind Sache der Gesetzgebung.
Eine direkte Steuer kann nur auf das reine Vermögen (nach Abzug aller Schulden) und auf das reine Einkommen verlegt werden."
Dazu trat ergänzend folgender Abs. 3:
"Alle Steuerpflichtigen sollen im Verhältnis ihrer Hilfsmittel an die Ausgaben des Staates beitragen. Zu diesem Behufe ist die Steuer vom Vermögen und vom Einkommen nach dem Grundsatze einer mässigen Progression zu erheben."
Um die verfassungsrechtliche Grundlage des neuen Gesetzes über die Erbschafts- und Schenkungssteuer klarzustellen, wurde Art. 62 KV durch Volksbeschluss vom 3. Juli 1938 revidiert. Die bisherigen Abs. 2 und 3 wurden in den Sätzen 1 und 2 des neuen Abs. 2 zusammengefasst
BGE 90 I 233 S. 242
und durch einen die genannten Steuern betreffenden Satz 3 wie folgt ergänzt:
"Alle Steuerpflichtigen sollen im Verhältnis ihrer Mittel an die Ausgaben des Staates beitragen. Bei der Besteuerung des Einkommens und des Vermögens ist auf das reine Einkommen und das reine Vermögen abzustellen, und es sind die Grundsätze einer angemessenen Progression anzuwenden. Diese Grundsätze gelten sinngemäss auch für die Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen."
Bei der im Jahre 1954 eingeleiteten Revision des Steuergesetzes, die unter anderem eine schärfere Erfassung der Kapitalgewinne durch Schliessung der Lücken in der bisherigen Besteuerung und Einführung einer Zuschlagssteuer auf kurzfristig erzielten Grundstücksgewinnen zum Ziele hatte, wurde der Frage der Verfassungsmässigkeit dieser Steuer besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die kantonsrätliche Kommission holte von Dr. Reitter, Sekretär des kantonalen Finanz-Departementes, der Kantonsrat von alt Bundesrichter Dr. Blocher ein Gutachten über diese Frage ein. Beide Gutachter gelangten zum Ergebnis, soweit Art. 62 Abs. 2 KV von Einkommen spreche, habe er auf Kapitalgewinne keinen Bezug; er stehe schon aus diesem Grunde der Einführung der vorgesehenen Zuschlagssteuer nicht entgegen.
Der Kantonsrat schloss sich dieser Auffassung an. Wenn er gleichwohl eine Revision des Art. 62 KV in die Wege leitete, so lediglich, um einen (allenfalls vorhandenen) "Rest von Zweifeln über die verfassungsmässige Zulässigkeit (der Zuschlagssteuer) durch eine unzweideutige Klarstellung aus der Welt zu schaffen" (Protokoll S. 561). Die Botschaft des Regierungsrates zur Volksabstimmung vom 29. Januar 1961 geht damit zu weit, wenn sie davon spricht, der Kantonsrat habe die "Notwendigkeit" einer Verfassungsrevision im Hinblick auf die Einführung der Zuschlagssteuer bejaht; wie sich aus dem Protokoll der kantonsrätlichen Kommission (S. 515/16) sowie den Ausführungen des Berichterstatters des Regierungsrates und des Kommissionspräsidenten (Protokoll S. 553 ff., insbesondere
BGE 90 I 233 S. 243
S. 556 und 561) ergibt, ging es dem Kantonsrat vielmehr allein darum, jede Diskussion um die Verfassungsmässigkeit der neuen Steuer auszuschalten. Zu diesem Behufe schlug er dem Volke vor, den Art. 62 KV durch die Aufnahme eines neuen Abs. 3 zu ergänzen, der besagt:
"Kurzfristig erzielte Grundstückgewinne können einer Zuschlagssteuer unterworfen werden, für welche das Reineinkommensprinzip nach Abs. 2 nicht gilt."
Das Volk hat diese Verfassungsänderung am 29. Januar 1961 zusammen mit der Steuergesetzesvorlage angenommen.
Der Art. 62 KV zerfällt dergestalt in einzelne Teile, die verschiedenen Zeiten entstammen, je auf eine bestimmte Fragestellung zugeschnitten sind und begrifflich nicht von einheitlichen Vorstellungen ausgehen. Diesem von der Rekurskommission vernachlässigten Umstand ist bei der Auslegung Rechnung zu tragen. Es verbietet sich daher, aus einzelnen Teilen der Norm ohne Rücksicht auf die verschiedene Entstehungszeit Rückschlüsse auf andere zu ziehen.
b) Art. 62 Abs. 1 KV erklärt, dass "Bestimmungen über direkte Besteuerung und indirekt Abgaben" Sache der Gesetzgebung sind. Dieser Verfassungssatz stellt lediglich formelle, nicht aber materielle Schranken der Besteuerung auf; er erlaubt die Einführung jeder Steuerart, falls dafür der Weg der Gesetzgebung beschritten wird.
Art. 62 Abs. 2-5, Art. 63 und Art. 64 KV führen eine Reihe materieller Steuergrundsätze auf. An der Spitze dieser Aufzählung erscheint in Art. 62 Abs. 2 Satz 1 KV die Forderung, dass "alle Steuerpflichtigen... im Verhältnis ihrer Mittel an die Ausgaben des Staates beitragen" sollen. Es handelt sich dabei um ein Gebot, das sich in ähnlicher Form auch in andern Kantonsverfassungen findet und das letztlich auf den Gleichheitssatz des
Art. 4 BV
zurückzuführen ist, wonach Gleiches nach Massgabe seiner Gleichheit gleich, Ungleiches aber nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln ist (
BGE 86 I 279
Erw. 3a,
BGE 90 I 233 S. 244
BGE 88 I 159
,
BGE 90 I 162
Erw. 2). Art. 62 Abs. 2 Satz 1 KV spricht dabei zweierlei aus: Indem er gebietet, dass "alle" Steuerpflichtigen zu Leistungen an den Staat heranzuziehen sind, stellt er den Grundsatz der Allgemeinheit der Steuer (vgl.
BGE 90 I 162
Erw. 2) auf; wenn er verlangt, dass die Steueraufwendungen von den einzelnen Steuerpflichtigen "im Verhältnis ihrer Mittel" zu erbringen sind, so fordert er eine Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (vgl. REIMANN/ZUPPINGER/SCHÄRRER, Kommentar zum Zürcher Steuergesetz, Bd. 1, S. 4 Nr. 3 zur entsprechenden Bestimmung der Zürcher KV).
Art. 62 Abs. 2 Satz 1 KV schreibt hierbei dem Gesetzgeber lediglich die allgemeine Richtung vor, ohne genaue Anweisungen darüber zu geben, wie die gestellte Aufgabe im einzelnen zu lösen ist (vgl.
BGE 48 I 83
Erw. 4). Insbesondere folgt aus diesem Verfassungssatz nicht, dass der Gesetzgeber nur (unmittelbar auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen abgestimmte) Subjektsteuern, nicht dagegen (an objektive Sachverhalte anknüpfende) Objektsteuern einführen dürfe (REIMANN/ZUPPINGER/SCHÄRRER, a.a.O.). Laut Art. 62 Abs. 1 KV sind Bestimmungen über "direkte Besteuerung" und "indirekte Abgaben" Sache der Gesetzgebung. Welches Merkmal auch dieser Unterscheidung zugrunde gelegt wurde, so sind unter "indirekten Abgaben" stets solche zu verstehen, die auf einen objektiven Tatbestand ausgerichtet sind: Es handelt sich (neben den Gebühren und Beiträgen) um Objektsteuern. Sieht Art. 62 KV dergestalt in Abs. 1 die Schaffung solcher Steuern vor, so kann es nicht der Sinn von Abs. 2 Satz 1 sein, diese Möglichkeit wieder aufzuheben oder von einer besonderen verfassungsmässigen Ermächtigung abhängig zu machen.
c) Welche Steuern zu erheben sind und in welchem Verhältnis die verschiedenen Steuerarten an die Deckung des staatlichen Finanzbedarfs beitragen sollen, ist mithin grundsätzlich dem Gesetzgeber anheimgestellt, dessen Ermessen ein weiter Spielraum verbleibt (
BGE 48 I 84
).
BGE 90 I 233 S. 245
Soll das in Art. 62 Abs. 2 Satz 1 KV gesetzte Ziel erreicht und der einzelne Steuerpflichtige nach Massgabe seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuert werden (wobei auf die Gesamtbelastung durch direkte und indirekte, periodische und einmalige Steuern Rücksicht zu nehmen ist), so lässt es sich allerdings nicht umgehen, die Hauptsteuern, die herkömmlicherweise diejenigen auf dem Einkommen und Vermögen sind, als Subjektsteuern auszubilden (REIMANN/ZUPPINGER/SCHÄRRER, a.a.O.). Art. 62 Abs. 2 KV trägt in Satz 2 diesem Sachverhalt Rechnung: Indem er vorschreibt, dass bei der "Besteuerung des Einkommens und des Vermögens" auf das reine Einkommen und das reine Vermögen abzustellen ist, hebt er ein wesentliches Merkmal der Subjektsteuer hervor. Art. 62 Abs. 2 Satz 2 KV verlangt demnach, dass die Steuer auf dem Einkommen und dem Vermögen als Subjektsteuer ausgestaltet werde. Dem Gesetzgeber ist diese Entscheidung abgenommen; er ist insofern nicht mehr frei, wie er den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verwirklichen will.
Festzuhalten ist dabei, dass Art. 62 Abs. 2 Satz 2 KV, der in anderer Form, aber mit gleichem Inhalt, schon in der KV von 1875 enthalten war, den Begriff des Einkommens enger fasst als das auf neuzeitlichen Anschauungen beruhende Steuergesetz. Wie der von der kantonsrätlichen Kommission beigezogene Gutachter Dr. Reitter aufgezeigt hat, herrschte bei Erlass der betreffenden Verfassungsbestimmung die Quellentheorie in der Umschreibung des Einkommens vor. Danach wurde das Vorhandensein einer dauernden Quelle des Güterzuflusses als Begriffsmerkmal des Einkommens aufgefasst (vgl. BLUMENSTEIN, System des Steuerrechts, 2. Aufl., S. 110). Einmalige Einkünfte galten deshalb nicht als Einkommen und unterlagen folglich nicht der Einkommenssteuer. Das traf namentlich auch auf Kapitalgewinne auf dem Privatvermögen zu. Soweit sie steuerlich erfasst wurden (was erst später zutraf), war der genannte Verfassungssatz darauf nicht anwendbar:
BGE 90 I 233 S. 246
Das Prinzip der Reineinkommensbesteuerung galt dafür nicht, und es bestand demnach keine Notwendigkeit, die Abgabe als Subjektsteuer auszubilden.
Die Revisionen des Art. 62 KV rührten nicht an diesen Sachverhalt. Im Jahre 1938 wurde Abs. 2 durch den neuen Satz 3 ergänzt, der "diese Grundsätze" (d.h. die in den Sätzen 1 und 2 umschriebenen Prinzipien) als auf die Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen "sinngemäss" anwendbar erklärt. Diese Ergänzung hätte sich erübrigt, wenn einmalige Einkünfte, wie Erbschaften und Schenkungen (aber auch private Kapitalgewinne) es sind, Einkommen im Sinne der Verfassung darstellen würden. Entgegen der Auffassung der Rekurskommission liess auch die Aufnahme des neuen Abs. 3 im Jahre 1961 den Einkommensbegriff des Art. 62 Abs. 2 KV unberührt. Nach dem in lit. a Gesagten ging es bei dieser Verfassungsrevision nicht um eine Änderung des bestehenden Rechts, sondern um eine Klarstellung desselben: Abs. 3 hält in diesem Sinne fest, dass die gleichzeitig eingeführte Zuschlagssteuer nicht dem Prinzip der Reineinkommensbesteuerung untersteht. Wie dargelegt, wurde damit lediglich ausgesprochen, was nach Art. 62 Abs. 2 KV für die Besteuerung privater Kapitalgewinne ohnehin rechtens war und ist. Wenn die Klarstellung, die mit der Aufnahme des neuen Abs. 3 angestrebt wurde, nur auf die vorgesehene Zuschlagssteuer Bezug nimmt und die bereits eingeführte ordentliche Kapitalgewinnbesteuerung unerwähnt lässt, so geschah das aus Zweckmässigkeitsüberlegungen und nicht, um rechtliche Unterscheidungen zu treffen. Während der Kantonsrat mit einer Anfechtung der neuen Zuschlagssteuer rechnete, zog er eine Diskussion um die ordentliche Kapitalgewinnsteuerung nicht in Betracht. Er erachtete es daher nur im ersten Falle als angezeigt, der Erhebung des Vorwurfs der Verfassungswidrigkeit durch eine klarere Fassung des Wortlauts von Art. 62 KV vorzubeugen.
d) Zusammengefasst ergibt sich, dass die ordentliche Kapitalgewinnbesteuerung so wenig wie die Zuschlagssteuer dem in Art. 62 Abs. 2 Satz 2 KV aufgestellten
BGE 90 I 233 S. 247
Prinzip der Reineinkommensbesteuerung untersteht. Die in Art. 62 Abs. 2 Satz 1 KV niedergelegten Grundsätze der Allgemeinheit der Steuer und der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sind dagegen auf die Kapitalgewinnbesteuerung anwendbar; sie lassen dem gesetzgeberischen Ermessen aber einen weiten Spielraum.
Wird ein unentgeltlich erworbener Gegenstand weiter veräussert, so stellt sich das Problem, ob nur die während der Zugehörigkeit der Sache zum Vermögen des Steuerpflichtigen eingetretene Wertsteigerung zu besteuern sei oder auch der während der Besitzesdauer des Rechtsvorgängers angewachsene Mehrwert. Im ersten Falle entgehen namhafte Werte der Besteuerung. Es fragt sich, wie die mit dieser Lösung verbundene Diskontinuität der Erfassung des Wertzuwachses mit dem steuerpolitischen Ziel der Kapitalgewinnsteuer, der Abschöpfung des nicht durch den Bereicherten selbst geschaffenen Mehrwerts. (GUHL, Die Spezialbesteuerung der Grundstückgewinne in der Schweiz, S. 17), und mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Steuer vereinbar sei. Es kann daher gerade im Blick auf Art. 62 Abs. 2 Satz 1 KV als tunlich erscheinen, nach einer andern Regelung zu suchen. Die sich diesfalls anbietende zweite Lösung bringt es mit sich, dass die Kapitalgewinnsteuer als Objektsteuer ausgebildet werden muss. Nach dem unter lit. b Gesagten schliesst Art. 62 Abs. 2 KV an sich (es sei denn für das periodische Einkommen und das Vermögen) die Erhebung von Objektsteuern nicht aus. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass sich eine aufwendige Objektsteuer nicht ohne weiteres in das System der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einfügen lässt. Was die Erfassung des während der Besitzesdauer des Rechtsvorgängers angewachsenen Mehrwerts anbelangt, liegen indes besondere Verhältnisse vor. Der betreffende Mehrwert kommt dem Steuerpflichtigen unentgeltlich zu; der Wertzuwachs bildet bei der Realisierung, welche die Besteuerung auslöst (
§ 35 StG
), einen Bestandteil des Vermögens des Steuerpflichtigen. Es erscheint darum vom Standpunkte der wirtschaftlichen
BGE 90 I 233 S. 248
Leistungsfähigkeit aus als statthaft, Vermögen und Einkommen des Erblassers und des Erben, des Schenkers und des Beschenkten als Einheit anzusehen (vgl. GUHL, a.a.O., S. 74).
Es lässt sich somit entgegen der Meinung der Rekurskommission nicht sagen, der Gesetzgeber habe bei der Ausgestaltung der Kapitalgewinnbesteuerung den verfassungsmässigen Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit aus den Augen verloren und die Grenzen des ihm auf diesem Gebiete zustehenden Ermessens überschritten. Die Beispiele, welche die Rekurskommission in der Vernehmlassung erwähnt, sind nicht geeignet, diesen Schluss zu widerlegen. Härten der Besteuerung lassen sich kaum je ganz vermeiden. Weil die angeführten Unzukömmlichkeiten sich nur in seltenen Anwendungsfällen einstellen werden, es hier aber um die Verfassungsmässigkeit der Ordnung als Ganzes geht, fallen sie für das Urteil ausser Betracht.
5.
Die in den § 36 Abs. 1 und 37 Abs. 1 StG aufgestellte Regelung hält sich mithin im Rahmen der Verfassung. Da die Vollziehungsverordnung nicht über die gesetzliche Ordnung hinausgeht und sie mit ihr im Einklang steht, ist sie ihrerseits verfassungsmässig. Die Rekurskommission hatte sich deshalb, auch falls sie die kantonalen Gesetze auf deren Übereinstimmung mit der KV hin zu prüfen hat, an die betreffenden Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen zu halten. Wenn sie diese Vorschriften im angefochtenen Entscheid nicht angewendet hat, so verstösst das gegen den in Art. 62 Abs. 1 KV gewährleisteten Grundsatz der Gesetzmässigkeit der Steuer und darüber hinaus gegen
Art. 4 BV
. Der Entscheid ist, weil insofern verfassungswidrig, aufzuheben.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil der kantonalen Rekurskommission Solothurn vom 23. März 1964 wird aufgehoben.