BGE 92 I 480 vom 8. Juni 1966

Datum: 8. Juni 1966

Artikelreferenzen:  Art. 113 BV , §§ 123 ff. StG, § 69 StG, Art. 113 Abs. 3 BV

BGE referenzen:  82 I 219, 90 I 239

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

92 I 480


78. Auszug aus dem Urteil vom 8. Juni 1966 i.S. Ackermann gegen Luzern, Kanton und Regierungsrat.

Regeste

Befugnis einer Kantonsregierung, kantonale gesetzgeberische Erlasse auf ihre Verfassungsmässigkeit zu prüfen:
1. Die Verfassung des Kantons Luzern (insbesondere § 53 Abs. 6) überträgt dem Regierungsrat keine solche Befugnis (Erw. a).
2. Eine solche Befugnis lässt sich auch nicht aus einem allgemeinen Grundsatz des schweizerischen Staatsrechtes ableiten (Erw. b).

Sachverhalt ab Seite 480

BGE 92 I 480 S. 480
Dr. August Ackermann ist Eigentümer des Grundstücks Nr. 2033 des Grundbuchs Luzern, linkes Ufer, mit einer Bodenfläche von 955,7 m2 und einem Wohnhaus. Der bisherige Katasterwert betrug Fr. 64 000.--; er wurde mit Wirkung ab 1. Januar 1965 auf Fr. 70 400.-- erhöht. Eine Einsprache gegen die Erhöhung wurde vom Schatzungsamt des Kantons Luzern am 8. Juli 1965 abgewiesen. Dr. Ackermann erhob darauf Rekurs an den Regierungsrat des Kantons Luzern mit der Begründung, die Erhöhung der Katasterschatzung seines Grundeigentums sei verfassungswidrig, weil das Dekret des Grossen Rates vom 21. Dezember 1964 entgegen § 41 der Kantonsverfassung (KV) in Kraft gesetzt worden sei und weil für einen Erlass von dieser Tragweite ein blosses Dekret "offenbar" nicht genüge (§ 11 KV).
Der Regierungsrat ist auf den Rekurs nicht eingetreten (Entscheid vom 11. November 1965). Diesen Entscheid ficht Dr. Ackermann mit staatsrechtlicher Beschwerde an. Das Bundesgericht weist sie ab.
BGE 92 I 480 S. 481

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. .....

2. Der Regierungsrat hat das Eintreten abgelehnt, weil er nicht befugt sei, das Dekret des Grossen Rates auf seine Verfassungsmässigkeit zu überprüfen.
a) Der Beschwerdeführer will diese Pflicht des Regierungsrates aus § 53 Abs. 6 KV herleiten, wonach der Grosse Rat den Regierungsrat und das Obergericht sowie deren Mitglieder wegen Verletzung der Verfassung und der Gesetze zur Verantwortung ziehen kann. Daraus folgt eine gewisse Unterordnung von Regierungsrat und Obergericht unter den Grossen Rat, keineswegs aber umgekehrt eine Befugnis dieser Behörden, ihrerseits den Grossen Rat zu überwachen. Ebensowenig ergibt sich eine solche Befugnis des Regierungsrates aus § 66 Abs. 1 des Organisationsgesetzes vom 8. März 1899, wonach er letztinstanzlich alle Verwaltungsstreitigkeiten beurteilt. Denn dieser Generalklausel folgt in Absatz 2 eine umfangreiche Aufzählung, die u.a. in lit. e auch "Steuern" und "Abgaben" erwähnt, gleichviel, ob diese Streitsachen "die Pflicht oder das Mass der Besteuerung oder Belastung" betreffen. Diese Vorschrift ist zwar durch das in den § § 123 ff. StG geordnete Rekursverfahren vor einer besonderen Rekurskommission ( § 69 StG ) im wesentlichen überholt worden, doch ist nach § 31 des Schatzungsgesetzes immer noch der Regierungsrat "Rekursschatzungsbehörde". Als solche ist er angerufen worden. Dass er in dieser Eigenschaft befugt sei, die Erlasse des Grossen Rates auf ihre Übereinstimmung mit der Kantonsverfassung zu überprüfen, folgt weder aus dem Organisationsgesetz noch aus dem Schatzungsgesetz. Dass sich diese Befugnis aus anderen Erlassen des kantonalen Rechts ergebe, behauptet auch der Beschwerdeführer nicht.
b) Zu untersuchen ist weiter, ob die Befugnis des Regierungsrates, das Dekret des Grossen Rates auf seine Verfassungsmässigkeit zu überprüfen, aus einem allgemeinen Grundsatz des Rechtsstaates folge.
Auf eidgenössischer Ebene gilt: Was das Volk ausdrücklich oder stillschweigend auf Grund des fakultativen Referendums beschlossen hat, ist mangels ausdrücklicher Bestimmung von keiner Behörde zu überprüfen (vgl. Art. 113 Abs. 3 BV ). Im Urteil der staatsrechtlichen Kammer des Bundesgerichtes
BGE 92 I 480 S. 482
vom 9. September 1953 in Sachen Graber, Frey-Fürst und Lütolf gegen Grossen Stadtrat von Luzern wird ausgeführt, nach der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre ( BGE 48 I 596 , BGE 68 I 29 ; GIACOMETTI, Staatsrecht der Kantone, S. 63-65 und die dort angeführte weitere Literatur) seien die kantonalen rechtsanwendenden Behörden (Gerichte und Verwaltungsbehörden) allgemein an die formell rechtsgültig zustandegekommenen kantonalen Gesetze als Akte einer ihnen übergeordneten Gewalt gebunden. Dies gelte auch für den Kanton Luzern. An dieser Betrachtungsweise ist hinsichtlich der Befugnis des Regierungsrates uneingeschränkt festzuhalten, da die Regierung bei ihrer starken Beteiligung an der Gesetzgebung andernfalls fast als Richter in eigener Sache urteilen müsste. Das seither ergangene Schrifttum hat nichts hervorgebracht, was die bisherige Auffassung als überholt erscheinen liesse. Im Gegenteil bemerkte IM HOF (Die Entscheidungsbefugnisse des basel-städtischen Verwaltungsgerichts, 1954, S. 110), die Verfassung erlaube es der Verwaltung nicht, Gesetze unvollzogen zu lassen, die sie für verfassungswidrig halte.
Richtig ist allerdings, dass die kantonalen Gerichte und Verwaltungsbehörden kantonale Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit dem Bundesrecht zu prüfen haben (vgl. BGE 82 I 219 , Urteil der staatsrechtlichen Kammer vom 7. Juli 1965 i.S. Hofmann gegen Regierungsrat des Kantons Zug, Erw. 1). Dies ergibt sich jedoch aus der Natur des Bundesstaates und dem Vorrang des Bundesrechtes vor dem kantonalen (vgl. BRIDEL, Précis de droit constitutionnel et public suisse, II/21).
Richtig ist auch, dass einzelne Gerichte verschiedener Kantone die Befugnis für sich in Anspruch nehmen, die kantonalen Gesetze akzessorisch aufihre Übereinstimmung mit der Kantonsverfassung zu prüfen. Dies trifft beispielsweise für die Cour de justice civile des Kantons Genf (vgl. BGE 34 I 343 ; BIERT N., Die Prüfung der Verfassungsmässigkeit der Gesetze durch den Richter, S. 60/1), für die Steuerrekurskommission des Kantons Solothurn (vgl. BGE 90 I 239 ) und - mit Vorbehalten - für das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich (vgl. ZBl 1965 S. 335 und 1966 S. 176) zu. Dieselbe Ansicht vertreten GYGI und STUCKI für die Gerichte des Kantons Bern (Handkommentar zum bernischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege, 1962, N. 6 zu Art. 16/II) und IMBODEN für die des Kantons Basel-Land (Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, 2. Aufl. 1964, S.
BGE 92 I 480 S. 483
342, Bemerkung I). Mag sich die Lage somit hinsichtlich der Gerichte wandeln, so ergibt sich bezüglich der Verwaltungsbehörden nichts Abweichendes.

3. .....

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