Urteilskopf
93 I 75
10. Urteil vom 17. März 1967 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen Eggenberger und Eidg. Justiz- und Polizeidepartement.
Regeste
Strafrechtliche Verantwortlichkeit des Bundesbeamten.
1.
Art. 15 VG
. Sinn und Zweck des Ermächtigungsverfahrens. Voraussetzungen, unter denen die Ermächtigung zur Strafverfolgung eines Beamten verweigert werden darf (Erw. 1).
2.
Art. 238 Abs. 2 StGB
. Frage offen gelassen, ob der Eisenbahnverkehr durch eine Schnellbremsung des Zuges stets konkret gefährdet werde (Erw. 2).
3.
Art. 15 Abs. 3 VG
. Ob ein leichter Fall vorliege, beurteilt sich nach den gesamten Umständen, die bei der Abwägung des Verschuldens zu berücksichtigen sind (Erw. 3).
A.-
Lina Eggenberger hatte am 22. März 1965 als Aushilfswärterin an einem Bahnübergang beim Bahnhof Richterswil die Barrieren zu bedienen. Um 11.39 Uhr, als ihr durch Glockensignal der Personenzug 1737 angekündigt wurde, unterliess sie, die Schranken zu schliessen, obwohl sie auf ihrem Posten stand. Der Lokomotivführer wurde aus einer Entfernung von etwa 150 m auf die Gefahr aufmerksam; er gab Pfeifsignale und leitete unverzüglich eine Schnellbremsung ein, wodurch er den Zug unmittelbar vor dem Übergang anhalten konnte. Frau Eggenberger holte auf die Pfeifsignale hin das Versäumte sogleich nach; als der Zug anhielt, will sie die Barrieren bereits geschlossen haben.
Die Schnellbremsung verlief sowohl für die Zugsinsassen wie für den Zug selber ohne Schaden, und der Strassenverkehr wurde nach den Aussagen der Wärterin nicht gefährdet, da zur kritischen Zeit sich angeblich weit und breit niemand auf dem Wege zum Bahnübergang befand.
BGE 93 I 75 S. 77
B.-
Frau Eggenberger wurde wegen fahrlässiger Gefährdung des Eisenbahnverkehrs bei der Bezirksanwaltschaft Horgen verzeigt. Diese nahm verschiedene Untersuchungshandlungen vor und ersuchte dann die Bundesbehörden um die Ermächtigung, die Angeschuldigte strafrechtlich verfolgen zu können.
Die Bundesanwaltschaft und das Eidg. Amt für Verkehr hielten dafür, dass es im vorliegenden Falle nicht nur an einer konkreten, sondern auch an einer erheblichen Gefährdung im Sinne von
Art. 238 Abs. 2 StGB
fehle. Nichts in den Akten deute darauf hin, dass der Zug 1737 oder seine Insassen einer solchen Gefahr ausgesetzt gewesen seien. Auch dürfe aus einer Schnellbremsung heute nicht mehr unter allen Umständen auf eine Gefährdung des Bahnverkehrs geschlossen werden, weil die Bremsmittel seit Jahren wesentlich verfeinert worden seien. Die Bundesanwaltschaft empfahl deshalb der kantonalen Untersuchungsbehörde, das Verfahren gegen die Angeschuldigte einzustellen und die Sache zur disziplinarischen Erledigung den Bahnbehörden zu überlassen.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beharrte indes auf der gerichtlichen Beurteilung des Falles, weil nach der Gerichtspraxis eine Schnellbremsung stets den objektiven Tatbestand des
Art. 238 Abs. 2 StGB
erfülle und die kantonalen Untersuchungsbehörden nicht von sich aus im gegenteiligen Sinne entscheiden dürften.
C.-
Auf Antrag der Bundesanwaltschaft verfügte das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement am 5. Oktober 1966, dass die Ermächtigung zur Durchführung eines Strafverfahrens gegen Lina Eggenberger nicht erteilt werde.
D.-
Die Staatsanwaltschaft führt gegen diese Verfügung Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Sie macht vor allem geltend, nach
Art. 15 VG
dürfe die Ermächtigung zur Strafverfolgung eines Beamten nur verweigert werden, wenn sich im Vorverfahren klar herausstelle, dass der Straftatbestand nicht erfüllt sei. Davon könne hier nicht die Rede sein. Lina Eggenberger habe durch ihr pflichtwidriges Verhalten den Lokomotivführer veranlasst, den Zug durch eine Schnellbremsung anzuhalten. In einer solchen Bremsung sei aber nach der bisherigen Rechtsprechung immer eine Gefährdung, zumindest eine solche der Zugsinsassen, zu erblicken. Es lasse sich deshalb nicht sagen, der Tatbestand des
Art. 238 Abs. 2 StGB
sei im vorliegenden Falle offensichtlich nicht gegeben.
Das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement und die Angeschuldigte beantragen, die Beschwerde abzuweisen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Wenn ein Straftatbestand und die gesetzlichen Voraussetzungen der Strafverfolgung als erfüllt erscheinen, so darf die Ermächtigung zur Verfolgung eines Beamten nur in leichten Fällen verweigert werden. Erforderlich ist zudem, dass die Tat nach allen Umständen durch eine disziplinarische Bestrafung des Fehlbaren als genügend geahndet erscheint (
Art. 15 Abs. 3 VG
).
a) Wie das Bundesgericht in
BGE 87 I 84
ausgeführt hat, braucht nach dieser Bestimmung im Vorverfahren, in dem über die Ermächtigung zu entscheiden ist, nicht schon vollständig abgeklärt zu werden, ob ein Straftatbestand und die gesetzlichen Voraussetzungen der Strafverfolgung gegeben sind oder nicht. Das gilt umsomehr, als in diesem Stadium der Untersuchung oft nicht zuverlässig gesagt werden kann, welche Handlungen der Beschuldigte begangen und welche Straftatbestände er allenfalls erfüllt hat. All diese Fragen sind im nachfolgenden Strafverfahren zu prüfen, falls die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt wird. Im Ermächtigungsverfahren ist lediglich eine Vorprüfung vorzunehmen. Ergibt diese Prüfung Anhaltspunkte dafür, dass ein Straftatbestand und die gesetzlichen Voraussetzungen der Strafverfolgung gegeben sein könnten, so ist die Ermächtigung in der Regel zu erteilen. Die Auffassung der Angeschuldigten, dass sowohl der objektive wie der subjektive Tatbestand mit einer gewissen Sicherheit nachgewiesen sein müsse, findet im Gesetz keine Stütze. Nach dem Sinn und Wortlaut von
Art. 15 Abs. 3 VG
genügt, dass ein Straftatbestand als erfüllt erscheint, das Ergebnis der vorangegangenen Untersuchung also darauf hindeutet, ein Beamter habe sich strafbar gemacht. Trifft dies zu, so darf die Ermächtigung nur versagt werden, wenn ein leichter Fall anzunehmen ist und die Tat auch mit einer blossen Disziplinarstrafe genügend geahndet werden kann.
Die Befugnis, in leichten Fällen die Ermächtigung zu verweigern, schliesst in sich, die Strafverfolgung eines Beamten auch dann nicht zuzulassen, wenn überhaupt keine strafbare Handlung vorliegt. Das setzt freilich voraus, dass der Tatbestand, der dem Beamten vorgeworfen wird, im Vorverfahren
BGE 93 I 75 S. 79
bereits feststeht; denn nur dann kann zuverlässig geprüft werden, ob der Vorwurf begründet ist oder nicht. Ist diese Voraussetzung gegeben und stellt sich im Vorprüfungsverfahren heraus, dass ein Straftatbestand offensichtlich nicht vorliegt, so ist daher die Ermächtigung zur Verfolgung des Beamten zu verweigern. Diesfalls erfüllt das Vorverfahren denn auch seinen eigentlichen Zweck, nämlich Bundesbeamte vor unbegründeten, insbesondere trölerischen oder mutwilligen Strafanzeigen zu schützen und dadurch den reibungslosen Gang der Verwaltung sicherzustellen (vgl. Botschaft des Bundesrates, BBl 1956 I 1398).
b) Über die Ermächtigung zur Strafverfolgung eines Beamten entscheidet das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement. In der Frage, wie die dem Beamten vorgeworfenen Tatbestände zu würdigen seien, ist das Departement grundsätzlich frei. Es versteht sich indes von selbst, dass es bei der Anwendung des
Art. 15 Abs. 3 VG
auf die bestehende Rechtsprechung Rücksicht nehmen muss. Wenn es in einer Beamtenstrafsache zu entscheiden hat, die nach der bisherigen Gerichtspraxis einen Straftatbestand erfüllt, so kann das Departement daher die Verweigerung der Ermächtigung nicht damit begründen, es liege offensichtlich keine strafbare Handlung vor; eine Änderung der Rechtsprechung kann nicht durch das Justiz- und Polizeidepartement vorgenommen werden, sondern nur Sache der Gerichte sein. Aus dem gleichen Grunde darf auch die Bundesanwaltschaft, die dem Departement Antrag stellt, den Entscheid über die Ermächtigung nicht dadurch beeinflussen, dass sie eine Strafsache anders beurteilt als die Gerichte. Wo die Ermächtigung deswegen nicht zu umgehen ist, die Bundesanwaltschaft aber auf Grund ihrer besonderen Kenntnisse und Erfahrungen eine Gerichtspraxis für überholt oder anfechtbar hält, kann sie ihre Einwände in den Entscheid des Departementes aufnehmen lassen und auf diese Weise den kantonalen Strafbehörden zur Kenntnis bringen. Und gegen kantonale Strafentscheide stehen der Bundesanwaltschaft in Strafsachen, wie hier, Rechtsmittel zu, die ihr ebenfalls erlauben, auf eine Änderung der Rechtsprechung hinzuwirken (vgl.
Art. 266 und 270 Abs. 6 BStP
sowie BRB über die Mitteilung kantonaler Strafentscheide, AS 1965 S. 1 ff.).
2.
Art. 238 Abs. 2 StGB
setzt voraus, dass der Täter den Eisenbahnverkehr nicht nur konkret, sondern auch erheblich
BGE 93 I 75 S. 80
gefährdet. Konkret gefährdet ist der Eisenbahnverkehr, wenn der Eintritt einer Schädigung von Personen oder Sachen, die an diesem Verkehr teilnehmen oder ihm dienen, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge wahrscheinlich ist, und erheblich gefährdet ist er, wenn solchen Personen oder Sachen eine erhebliche Schädigung droht (
BGE 72 IV 27
,
BGE 78 IV 104
/5).
a) Im vorliegenden Fall vertreten das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement und die Angeschuldigte die Auffassung, dass eine Schnellbremsung heute keine Gefährdung mehr für die Zugsinsassen bedeute. Sie stützen sich dabei vor allem auf ein Gutachten des Zugsförderungsdienstes der SBB aus dem Jahre 1946. Danach stellt eine Schnellbremsung für die Fahrzeuge selber keine Gefahr dar, hingegen könne sie unter gewissen Umständen Insassen gefährden, die auf einen Stoss oder Ruck nicht vorbereitet seien. Immerhin sei diese Gefährdung kaum grösser als bei Rucken, die beim Befahren ablenkender Weichen oder schlecht ausgebauter Kurven auftreten könnten. Die Bundesanwaltschaft hat dieses Gutachten stets so ausgelegt, dass bei einer Schnellbremsung eine Schädigung von Personen oder Sachen zwar immer noch möglich, aber nicht wahrscheinlich ist; das sei jedoch das charakteristische Merkmal der abstrakten, nicht der konkreten Gefährdung.
Die Beschwerdeführerin stellt sich demgegenüber auf den Standpunkt, eine Schnellbremsung erfülle heute noch den objektiven Tatbestand des
Art. 238 Abs. 2 StGB
, weil Zugsinsassen infolge des plötzlichen Anhaltens erhebliche Verletzungen erleiden könnten. Sie beruft sich dabei insbesondere auf Urteile, die in
BGE 54 I 361
und 374,
BGE 58 I 214
,
BGE 87 IV 87
und SJZ 1955 S. 298 veröffentlicht sind. Diese Entscheide beruhen in der Tat auf der Annahme, dass die Bahnpassagiere durch eine Schnellbremsung nicht nur konkret, sondern auch erheblich gefährdet würden. In den beiden letzten Veröffentlichungen, die allerdings Strassenbahnen betreffen, wird zur Begründung vor allem ausgeführt, dass eine Notbremsung eine Blockierung der Räder zur Folge habe und deshalb ein plötzliches und ruckweises Anhalten bewirke; bei einem solchen Manöver liege aber die Gefahr nahe, dass Zugsinsassen, die darauf nicht gefasst seien, zu Fall kommen, gegen feste Gegenstände prallen oder von herabfallenden Gepäckstücken getroffen werden und sich auf diese Weise erheblich verletzen.
b) Das Bundesgericht hat die Schweizerischen Bundesbahnen
BGE 93 I 75 S. 81
im vorliegenden Verfahren um Angaben darüber ersucht, wieviele Fälle von Schnellbremsungen jährlich festgestellt werden und welches allenfalls deren Auswirkungen seien. Der Antwort der Bundesbahnen ist zu entnehmen, dass sie solche Fälle nicht zahlenmässig erfassen. Ihre Nachforschungen für die Jahre 1964 bis 1966 ergaben, dass Schnellbremsungen zwar ab und zu vorkamen, dass aber nur in wenigen Fällen der Zug (z.B. durch Abschleifen der Radsätze) beschädigt oder Reisende verletzt wurden. Diese Erfahrungen sprechen eher gegen als für eine allgemeine Annahme einer konkreten Gefährdung. Dies gilt umsomehr, als nach der Auffassung der Bundesbahnen eine erhebliche Dunkelziffer besteht, was offenbar nur heissen kann, das Zugspersonal messe einer blossen Schnellbremsung in vielen Fällen so wenig Bedeutung bei, dass es sie gar nicht meldet. Die Bundesbahnen fügen freilich bei, wenn Personen- oder Sachschäden auch verhältnismässig selten seien, so könne eine Gefährdung praktisch doch nie ganz ausgeschlossen werden. Sie halten dafür, dass die Bundesanwaltschaft die technischen Verbesserungen an den Luftbremsen überschätze, da diese auch heute das gefährlichste Ereignis bei der Schnellbremsung, nämlich den Halteruck, fast nicht vermeiden liessen. Dass schädigende Auswirkungen auf die Zugsinsassen oder auf das Rollmaterial nach ihren Erfahrungen stets wahrscheinlich seien, sagen sie jedoch nicht; wenn solche Schäden verhältnismässig selten sind, so deutet dies gegenteils darauf hin, dass sie nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge auch nicht nahe liegen.
Die umstrittene Frage braucht hier indes nicht weiter erörtert zu werden, da es nicht Aufgabe der Verwaltungsrechtlichen Kammer sein kann, darüber zu befinden, ob die Rechtsprechung in Eisenbahnstrafsachen zugunsten des Angeklagten zu lockern oder gar zu ändern sei. Das ist vielmehr Sache der Strafgerichte, in letzter Instanz also Aufgabe des Kassationshofes. Unter diesen Umständen konnte daher die Ermächtigung zur Durchführung eines Strafverfahrens gegen die Beschuldigte nicht mit der Begründung versagt werden, es liege offensichtlich kein Straftatbestand vor.
3.
Eine andere Frage ist, ob ein leichter Fall im Sinne von
Art. 15 Abs. 3 VG
gegeben sei und, wenn ja, die Ermächtigung zur Strafverfolgung der Angeschuldigten aus diesem Grunde verweigert werden dürfe. Der Entscheid über diese Fragen ist dem Eidg. Justiz- und Polizeidepartement und auf Beschwerde
BGE 93 I 75 S. 82
hin der Verwaltungsrechtlichen Kammer des Bundesgerichtes vorbehalten.
Was unter einem leichten Fall zu verstehen ist, sagt das Gesetz nicht, ergibt sich jedoch aus der Rechtsprechung zu zahlreichen Strafbestimmungen, vor allem des MStG, in denen der Begriff ebenfalls verwendet wird. Danach beurteilt sich die Rechtsfrage, ob ein Fall leicht sei, nach den gesamten Umständen, die bei der Abwägung des Verschuldens zu berücksichtigen sind, wie z.B. Art und Schwere der Verfehlung, Beweggründe und persönliche Verhältnisse des Beschuldigten (vgl. statt vieler
BGE 73 IV 114
;
BGE 76 IV 169
, 173; MKGE 3 Nr. 25 Erw. D; 6 Nr. 81 Erw. 5, Nr. 83 Erw. 3).
Dass die Angeschuldigte durch ihre Unterlassung den Strassenverkehr gefährdet habe (
Art. 237 StGB
), ist nach den Akten nicht anzunehmen und wird auch von keiner Seite behauptet. Und bei der Eisenbahnverkehrsgefährdung, die ihr vorgeworfen wird, handelt es sich dem objektiven Tatbestande nach und sofern überhaupt eine Gefährdung im Sinne von
Art. 238 Abs. 2 StGB
vorliegt, jedenfalls um einen Grenzfall. Auch subjektiv wiegt die Unterlassung leicht. Die Angeschuldigte stand auf ihrem Posten, hatte den Hebel zur Bedienung der Barrieren in der Hand und wartete auf das Glockensignal, das aber vermutlich mit der Durchfahrt eines Zuges aus der Gegenrichtung zusammenfiel und ihr deshalb entging. Dazu kommt, dass die Angeschuldigte einen guten Leumund geniesst, nicht vorbestraft ist und als Aushilfswärterin ihre Pflicht während 23 Jahren getreu erfüllt hat. Alle diese Umstände lassen ihr Verschulden als leicht erscheinen; da es zudem mit einer Disziplinarstrafe genügend geahndet werden kann, ist auch die weitere Voraussetzung für die Verweigerung der Ermächtigung erfüllt, der angefochtene Entscheid im Ergebnis also nicht zu beanstanden.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.