Urteilskopf
93 II 167
24. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 28. April 1967 i.S. Born und Bohnenblust-Born gegen Burkhalter.
Regeste
Notwegrecht (
Art. 694 ZGB
).
Zur Benützung eines Wohnhauses genügt eine Wegverbindung nur, wenn sie von Fahrzeugen, d.h. nach heutiger Anschauung von Motorfahrzeugen, benützt werden kann.
Die Wegenot gilt vom Berechtigten nicht als verschuldet, wenn die Verhältnisse sich änderten und dies auf objektiven Gründen beruht.
Aus dem Tatbestand:
Burkhalter ist Eigentümer eines Grundstücks in der Landhauszone im Brüschholz, Gemeinde Aarburg, das an keine öffentliche Strasse grenzt. Zugunsten seiner Parzelle und zulasten der westlich davon gelegenen bebauten Nachbarparzellen des Bohnenblust-Born und des Born besteht ein im Grundbuch als Dienstbarkeit eingetragenes Fahrwegrecht über einen circa
BGE 93 II 167 S. 168
drei Meter breiten Feldweg, der ungefähr 130 m längs der südlichen Grenze der belasteten Parzellen führt und in die Brüschholzstrasse mündet. Das Fahrwegrecht diente aber nur landwirtschaftlichen Zwecken, da es zur Bewirtschaftung unüberbauten, landwirtschaftlich genutzten Landes begründet worden war.
Im Jahre 1962 ersuchte Burkhalter um Bewilligung zum Bau eines Einfamilienhauses auf seiner Parzelle. Born und Bohnenblust-Born erhoben dagegen Einsprache, zur Hauptsache mit der Begründung, der Fahrweg diene nur landwirtschaftlichen Zwecken. Die Baubewilligung wurde jedoch am 20. April 1964 erteilt.
Um das Bauvorhaben unverzüglich ausführen zu können, wurde Burkhalter von der Eigentümerin der nördlich an sein Grundstück anstossenden Parzelle, Frau von Arx, gestattet, ihre Parzelle für die Dauer von zwei Jahren als Zugang zu benützen und dort auch Baumaterial abzulagern. Ferner räumten sich die beiden Eigentümer gegenseitig ein Fusswegrecht über ihre Parzellen ein.
Am 21. Juni 1965 reichte Burkhalter gegen Born und Bohnenblust-Born Klage ein und verlangte unter anderem, dass das im Grundbuch eingetragene, drei Meter breite Fahrwegrecht im Sinne eines Notwegrechts zu einem unbeschränkten, auch für das Befahren mit Motorfahrzeugen geltenden Fahrwegrecht auszudehnen sei.
Die kantonalen Gerichte beider Instanzen schützten die Klage in diesem Punkt. Gegen das obergerichtliche Urteil haben die Beklagten Berufung eingereicht mit dem Antrag, das Urteil sei aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Berufung der Beklagten ab.
Aus den Erwägungen:
2.
Gemäss
Art. 694 Abs. 1 ZGB
kann ein Grundeigentümer, der keinen genügenden Weg von seinem Grundstück auf eine öffentliche Strasse hat, beanspruchen, dass ihm die Nachbarn gegen volle Entschädigung einen Notweg einräumen. Im vorliegenden Fall stehen dem Berufungsbeklagten zwei Fusswege zur Verfügung, um von seiner Parzelle aus die öffentliche Strasse zu erreichen. Für die Benützung eines Wohnhauses, auch nur eines Einfamilienhauses sind jedoch Fusswege keine genügende Wegverbindung im Sinne der angeführten Bestimmung.
BGE 93 II 167 S. 169
Als genügend kann nur ein Weg bezeichnet werden, der von Fahrzeugen benützt werden darf. Dabei steht nicht die Frage im Vordergrund, ob dem Grundeigentümer durch die Gewährung des Notweges die Möglichkeit zu verschaffen sei, mit einem bloss zur Bequemlichkeit oder zum Vergnügen gehaltenen Auto auf sein Grundstück zu fahren, obschon dieser Umstand dann schon zur Einräumung eines Notwegs Anlass geben könnte, wenn dem Ansprecher sonst überhaupt keine Zufahrt zur Verfügung steht (
BGE 84 II 620
). Es geht vielmehr darum, dass nach heutigen Anschauungen die Verbindung von einem bebauten Grundstück zur öffentlichen Strasse ungenügend ist, wenn nicht ein Weg zur Verfügung steht, der mit Fahrzeugen befahren werden kann, sei es auch nur für den Zubringerdienst (Lieferanten, Taxis, Besucher, Krankenautos, öffentliche Dienste usw.). Dabei gilt heute als selbstverständlich, dass es sich bei den Verkehrsmitteln, mit denen ein Fahrwegrecht ausgeübt werden darf, um Motorfahrzeuge handelt (vgl. LIVER, N. 33 zu
Art. 737 ZGB
). Dementsprechend hat das Bundesgericht in seinem nicht veröffentlichten Urteil vom 17. Dezember 1965 i.S. Kürsteiner c. Beglinger und Grass ausgeführt, es sei heutzutage - zumindest im Bereich von Ortschaften (die dem Motorfahrzeugverkehr offen stehen) - eine Selbstverständlichkeit, dass ein Grundstück, auf dem Wohn- oder Ferienhäuser stehen, mit Motorfahrzeugen erreicht werden könne.
Der Einwand der Berufungskläger, es sei dem Berufungsbeklagten zuzumuten, entweder sein Auto auf dazu geeigneten Stellen an der Brüschholzstrasse abzustellen und sein Haus zu Fuss zu erreichen oder überhaupt auf die Benützung eines Autos zu verzichten, da er bis zum Arbeitsplatz in Aarburg nur zehn bis fünfzehn Minuten benötige, geht deshalb am Kern der Sache vorbei. Auch die Berufung auf Hanglagen, wo die Häuser oft über längere Treppen erreicht werden müssen, schlägt in erster Linie deswegen nicht durch, weil in solchen Fällen die topographischen Verhältnisse die Schaffung genügender Wegverbindungen verhindern, obschon die weiteren Voraussetzungen zur Gewährung eines Notwegs gegeben wären. Es ist übrigens sogar in Hanglagen meistens möglich, die Fahrstrasse wenigstens bis an die Parzellengrenze am Rand des Hanges zu führen. Dass unmittelbar vor die Haustüre gefahren werden kann, ist nicht erforderlich.
3.
Es kann im weitern keine Rede davon sein, dass der Berufungsbeklagte die Wegenot selbst verschuldet habe, weil er auf dem früher landwirtschaftlich genutzten Land ein Einfamilienhaus gebaut habe. Die betreffende Gegend gehört seit einiger Zeit unbestrittenermassen zur Landhauszone der Stadtgemeinde Aarburg. Der Berufungsbeklagte durfte deshalb 1961 in guten Treuen eine Bauparzelle erwerben und darauf ein Einfamilienhaus erstellen, sobald ihm die baupolizeiliche Bewilligung dazu erteilt worden war. Die Änderung der Verhältnisse, d.h. die Entwicklung der Gegend von Brüschholz aus einer landwirtschaftlichen Region zum Baugebiet erfolgte ohne Zutun des Berufungsbeklagten und beruht auf objektiven Gründen. Es ist ihr somit Rechnung zu tragen (
BGE 85 II 397
Erw. 1 lit. a und dortige Hinweise). Dem Berufungsbeklagten steht ein Notweganspruch zu, weil er sein Grundstück überbauen durfte. Die Berufungskläger stellen die Dinge auf den Kopf, wenn sie erklären, weil keine genügende Wegverbindung bestehe, hätte nicht gebaut werden dürfen (vgl. nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 27. Oktober 1964 i.S. Kopp c. Wermelinger). Die Frage des Selbstverschuldens, resp. willkürlicher Schaffung der Wegnot, stellt sich vorliegend überhaupt nicht (vgl. dazu HAAB, N. 19 zu Art. 694-696).
4.
Der Gewährung des Notwegs steht auch nicht entgegen, dass das bestehende Fahrwegrecht nur landwirtschaftlichen Zwecken dient und dass demzufolge den Berufungsklägern gemäss
Art. 739 ZGB
eine Mehrbelastung mit dem Motorfahrzeugverkehr, der durch ein Einfamilienhaus bedingt wird, nicht zugemutet werden darf. Wenn die Voraussetzungen eines Notweganspruchs gegeben sind, kann der Wegberechtigte die Erweiterung des beschränkten Fahrwegrechts durch Einräumung einer Legalservitut im Sinne von
Art. 694 ZGB
verlangen und auf diese Weise einer Unterlassungs- oder Beseitigungsklage der Belasteten zuvorkommen (LIVER, N. 39 und 48 zu
Art. 739 ZGB
).