BGE 96 I 193 vom 3. Juni 1970

Datum: 3. Juni 1970

Artikelreferenzen:  Art. 8 ZGB, Art. 4 BV , Art. 55 lit. d und Art. 63 Abs. 2 OG, § 345 ZPO, Art. 16 OG, § 345 Abs. 1 ZPO, Art. 43 Abs. 1 OG, Art. 43 Abs. 3 und Art. 63 Abs. 2 Satz 1 OG, Art. 63 Abs. 2 Satz 2 OG

BGE referenzen:  96 II 262 , 87 II 232, 81 II 529, 80 II 295

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

96 I 193


35. Urteil vom 3. Juni 1970 i.S. Brehm gegen Schüep und Kassationsgericht des Kantons Zürich.

Regeste

Berufung. Offensichtlich auf Versehen beruhende Feststellung einer Tatsache ( Art. 55 lit. d und Art. 63 Abs. 2 OG ).
Die Rüge, der kantonale Richter habe die Behauptung einer für die Anwendung des Bundesrechts erheblichen Tatsache versehentlich als unbestritten betrachtet, kann mit der Berufung an das Bundesgericht erhoben werden (und daher gemäss § 345 zürch. ZPO nicht Gegenstand der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde sein).

Sachverhalt ab Seite 193

BGE 96 I 193 S. 193

A.- Architekt Hans Schüep, der für Adolf Brehm tätig gewesen war, belangte diesen mit Klage vom 23. März 1964 auf Bezahlung von Fr. 17'810.60 nebst Zinsen. Das Bezirksgericht Zürich sprach ihm Fr. 9444.25 zu. Das Obergericht des Kantons Zürich, bei dem beide Parteien Berufung einlegten, bestätigte das bezirksgerichtliche Urteil am 9. April 1968.
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Inbezug auf zwei gutgeheissene Posten von Fr. 2345,55 und 1592,60 hatte Brehm in der Berufungsbegründungsschrift geltend gemacht, der Kläger Schüep habe die Vorbereitungen für den Baubeginn so liederlich oder überhaupt nicht getroffen, dass sozusagen alles neu oder überhaupt gemacht werden musste. Zu diesem Einwand führte das Obergericht in seinem Urteil aus, der Kläger habe schon vor erster Instanz behauptet, von seiner Seite seien alle Vorbereitungen für den Baubeginn, soweit sie möglich gewesen seien, getroffen worden, und diese im einzelnen genau substantiierte Behauptung sei in der Berufungsbegründungsschrift nicht bestritten worden; im Vorbringen, Telser habe bezügliche Arbeiten ausführen müssen, liege keine ausreichende Bestreitung der Behauptung, der Kläger habe diese Arbeiten bereits ausgeführt gehabt; dem Kläger könne daher die verdiente Vergütung nicht verweigert werden.

B.- Der Beklagte reichte beim Kassationsgericht des Kantons Zürich eine Nichtigkeitsbeschwerde gemäss § 344 zürch. ZPO ein, mit der er das obergerichtliche Urteil aus verschiedenen Gründen anfocht und dabei u.a. geltend machte, die Annahme des Obergerichts, es fehle inbezug auf die beiden erwähnten Beträge an einer ausreichenden Bestreitung, sei aktenwidrig und willkürlich.
Das Kassationsgericht wies die Beschwerde mit Urteil vom 17. Juli 1968 ab, soweit darauf eingetreten werden konnte. In den Erwägungen führte es aus, dass und weshalb jene Annahme des Obergerichts aktenwidrig sei, doch hätte dies als offensichtliches Versehen bei der Feststellung einer nach Bundesrecht zu beurteilenden Tatsache mit der Berufung ans Bundesgericht geltend gemacht werden können ( Art. 55 lit. d OG ), weshalb das Kassationsgericht auf die Rüge nicht eintreten könne ( § 345 ZPO ).

C.- Gegen diesen Entscheid des Kassationsgerichts hat Adolf Brehm staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er macht Verletzung des Art. 4 BV geltend und bringt zur Begründung vor: Die Annahme des Kassationsgerichts, dass es auf die Aktenwidrigkeitsrüge wegen Zulässigkeit der Berufung ans Bundesgericht nicht eintreten könne, sei willkürlich und bedeute eine Rechtsverweigerung. Die fragliche Aktenwidrigkeit beziehe sich auf eine Feststellung, die eindeutig vom kantonalen Recht beherrscht werde, denn die Frage, ob ein Beklagter eine Behauptung
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des Klägers in genügender (genügend substantiierter) Weise bestritten habe, sei ohne jeden Zweifel eine prozessrechtliche Frage, die der Kognition des Bundesgerichtes entzogen sei. Das Bundesgericht habe seit jeher festgestellt, dass es nicht zuständig sei, wenn die Aktenwidrigkeitsrüge im Rahmen einer vom kantonalen Recht beherrschten prozessualen Frage erhoben werde, gleichgültig, ob der Rechtsstreit im übrigen dem eidgenössischen materiellen Recht unterliege oder in seinem ganzen Umfange kantonal-rechtlicher Natur sei ( BGE 35 II 145 und vor allemBGE 45 II 357; BIRCHMEIER, Handbuch des OG S. 209). Diese Praxis sei derart alt und eindeutig, dass die angefochtene Entscheidung als willkürlich zu bezeichnen sei.

D.- Der Beschwerdegegner Hans Schüep beantragt Abweisung der Beschwerde. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich beantragt sinngemäss ebenfalls Abweisung und führt aus: Das Obergericht habe die im angefochtenen Entscheid wiedergegebenen Behauptungen des Beschwerdeführers nicht aus Gründen des kantonalen Prozessrechts für unerheblich erklärt, sondern habe sie offensichtlich übersehen und ihnen aus diesem Grunde keine rechtliche Bedeutung beigemessen. Ob ihnen rechtliche Bedeutung zukomme (was offensichtlich der Fall sei), sei eine Frage des Bundesrechts und nicht des kantonalen Prozessrechts. Das Übersehen von wesentlichen Tatsachenbehauptungen sei ein Versehen im Sinne des OG (Urteil der II. Zivilabteilung als Staatsgerichtshof vom 6. Oktober 1960 i.S. Ember c. Schaffner S. 12 unten).

E.- Da die staatsrechtliche Kammer für Beschwerden wegen Verletzung des Art. 4 BV die Frage, wann ein offensichtliches Versehen im Sinne von Art. 55 lit. d und Art. 63 Abs. 2 OG vorliege, entsprechend der Rechtsprechung der I. Zivilabteilung und abweichend von derjenigen der II. Zivilabteilung entscheiden wollte, hat die Vereinigung der staatsrechtlichen Kammer und der beiden Zivilabteilungen am 20. April 1970 hierüber beraten ( Art. 16 OG ). Der dabei gefasste Beschluss ergibt sich aus den nachstehenden Erwägungen.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Nach § 344 Ziff. 8 zürch. ZPO kann gegen einen Entscheid Nichtigkeitsbeschwerde erhoben werden, wenn das Gericht ihn auf aktenwidrige tats ächliche Annahmen gestützt
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hat. Doch ist die Nichtigkeitsbeschwerde nach § 345 Abs. 1 ZPO unzulässig, soweit der angefochtene Entscheid mit der Berufung oder mit der zivilrechtlichen Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht weitergezogen werden kann (GULDENER, Die Nichtigkeitsbeschwerde S. 159 Ziff. I).
Im vorliegenden Falle hat das Kassationsgericht in seinem Urteil ausgeführt, dass und weshalb die im obergerichtlichen Urteil enthaltene Annahme, es fehle an einer ausreichenden Bestreitung eines Klagevorbringens, aktenwidrig sei. Gleichwohl lehnte es das Eintreten auf die Aktenwidrigkeitsrüge ab mit der Begründung, sie hätte als offensichtliches Versehen bei der Feststellung einer nach Bundesrecht zu beurteilenden Tatsache gemäss Art. 55 lit. d OG mit der Berufung ans Bundesgericht geltend gemacht werden können. Diese Betrachtungsweise widerspricht nach Auffassung des Beschwerdeführers der ständigen und eindeutigen Rechtsprechung des Bundesgerichts und verletzt deshalb Art. 4 BV .

2. Mit der Berufung an das Bundesgericht kann nur geltend gemacht werden, der angefochtene Entscheid beruhe auf einer Verletzung des Bundesrechts ( Art. 43 Abs. 1 OG ). Durch Feststellungen über tatsächliche Verhältnisse wird das Bundesrecht, sofern sie nicht unter Verletzung bundesrechtlicher Beweisvorschriften zustande gekommen sind, nicht verletzt ( Art. 43 Abs. 3 und Art. 63 Abs. 2 Satz 1 OG ). Vorbehalten bleibt jedoch "die Berichtigung offensichtlich auf Versehen beruhender Feststellungen von Amtes wegen" ( Art. 63 Abs. 2 Satz 2 OG ). Damit im Zusammenhang bestimmt Art. 55 lit. d OG , die Berufungsschrift müsse, wenn "die Feststellung einer nach dem Bundesrecht zu beurteilenden Tatsache durch die kantonale Instanz als offensichtlich auf Versehen beruhend angefochten wird", die genaue Angabe dieser Feststellung und der mit ihr im Widerspruch stehenden Aktenstelle enthalten. Diese Vorschriften traten an die Stelle der Bestimmung in Art. 81 des OG von 1893 (aoG), wonach das Bundesgericht an tatsächliche Feststellungen der Vorinstanz dann ausnahmsweise nicht gebunden war, wenn sie "mit den Akten im Widerspruch" standen (vgl. BIRCHMEIER a.a.O. S. 208 unter Ziff. 9 a).
Offensichtlich auf Versehen beruht eine Feststellung nur dann, wenn sie darauf zurückzuführen ist, dass die Vorinstanz eine bestimmte Aktenstelle übersehen oder unrichtig (nicht in ihrer wahren Gestalt, insbesondere nicht mit ihrem wirklichen Wortlaut)
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wahrgenommen hat ( BGE 87 II 232 /3 mit Hinweisen auf frühere Urteile). Dass dies bei der fraglichen Feststellung des Obergerichts zutrifft, stellt das Kassationsgericht nicht in Abrede. Streitig ist, ob es sich um die Feststellung "einer nach dem Bundesrecht zu beurteilenden Tatsache" im Sinne von Art. 55 lit. d OG handelt. Der Beschwerdeführer bestreitet dies unter Berufung aufBGE 35 II 145undBGE 45 II 357, während es das Kassationsgericht im angefochtenen Entscheid bejaht hat und sich hiefür in der Beschwerdeantwort auf das Urteil der II. Zivilabteilung vom 6. Oktober 1960 i.S. Ember c. Schaffner beruft.

3. In den beiden vom Beschwerdeführer erwähnten Urteilen hat die I. Zivilabteilung des Bundesgerichts in Anwendung des Art. 81 aoG entschieden, dass das Bundesgericht als Berufungsinstanz die Übereinstimmung des festgestellten Tatbestandes mit den Akten nicht überprüfen könne, soweit sich diese Feststellungen auf die Anwendung des ausländischen Rechts ( BGE 35 II 145 ; ebensoBGE 41 II 742, BGE 59 II 400 /401) oder des kantonalen Prozessrechts ( BGE 45 II 357 ) beziehen. Demgemäss hat die I. Zivilabteilung unter der Herrschaft des OG von 1943 wiederholt erkannt, dass die Fragen, ob im kantonalen Verfahren ein bestimmtes Anbringen rechtzeitig oder verspätet gemacht, ob eine bestimmte Behauptung aufgestellt oder nicht aufgestellt, ob eine Tatsachenbehauptung rechtzeitig und in der vom Prozessrecht vorgeschriebenen Form bestritten worden sei, dem kantonalen Prozessrecht unterstehen und dass die in diesem Bereich getroffenen Feststellungen der kantonalen Gerichte daher mit der Berufung auch nicht wegen offensichtlichen Versehens angefochten werden können (nicht veröffentlichte Urteile vom 17. September 1955 i.S. Haefeli & Co. c. Rottigni S. 4/5, vom 5. Dezember 1956 i.S. Privat-Kommerzbank AG c. Suwald S. 2/3 und vom 10. Mai 1962 i.S. Immobilien AG c. O. Züllig & Co. S. 4/5; vgl. auch BGE 81 II 529 ). Hieraus würde für den vorliegenden Fall folgen, dass mit der Berufung gegen das obergerichtliche Urteil nicht hätte geltend gemacht werden können, die darin enthaltene Feststellung, es fehle an einer ausreichenden Bestreitung eines Klagevorbringens, beruhe offensichtlich auf einem Versehen. Nun hat aber die II. Zivilabteilung des Bundesgerichts mehrfach erkannt, ein offensichtliches Versehen im Sinne von Art. 55 lit. d und Art. 63 Abs. 2 OG liege auch dann vor, wenn das Versehen zu einer unrichtigen Anwendung des kantonalen Prozessrechts führte, die mittelbar eine Verletzung
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von Bundesrecht zur Folge hat (nicht veröffentlichte Urteile vom 26. September 1963 i.S. Haltiner c. Haltiner S. 4 ff. und vom 11. April 1967 i.S. Weber c. Bâtiment Lux SA S. 7); insbesondere hat sie in dem in der Beschwerdeantwort des Kassationsgerichts angerufenen Urteil vom 6. Oktober 1960 i.S. Ember c. Schaffner S. 12 unten erklärt, dass die Rüge, der kantonale Richter habe die Behauptung einer für die Anwendung des Bundesrechts erheblichen Tatsache versehentlich als unbestritten betrachtet, gemäss Art. 55 lit. d OG mit der Berufung an das Bundesgericht erhoben werden könne. Diese von der II. Zivilabteilung vertretene Auslegung von Art. 55 lit. d (und Art. 63 Abs. 2) OG verdient, wie die Vereinigung der staatsrechtlichen Kammer für Verletzung des Art. 4 BV und der beiden Zivilabteilungen entschieden hat, den Vorzug vor derjenigen der I. Zivilabteilung.
Die beiden Bestimmungen enthalten eine Ausnahme vom Grundsatz, dass das Bundesgericht als Berufungsinstanz an die tatsächlichen Feststellungen der letzten kantonalen Instanz gebunden ist und nur die Rechtsanwendung zu überprüfen hat. Beim richtigen oder unrichtigen Wahrnehmen einer Aktenstelle, sei diese in einer Beweisurkunde oder, wie bei Behauptungen und Bestreitungen, in einer Rechtsschrift enthalten, handelt es sich um einen rein tatsächlichen Vorgang, der mit der Auslegung oder Anwendung des kantonalen Prozessrechts nichts zu tun hat. Es besteht daher kein sachlicher Grund, dass das Bundesgericht in einer nach Bundesrecht zu beurteilenden Streitsache beim Vorliegen einer offensichtlich auf Versehen beruhenden Feststellung des kantonalen Richters nicht auch einschreitet, wenn das Versehen zu einer unrichtigen Anwendung des kantonalen Prozessrechts führt und damit die Anwendung von Bundesrecht nur mittelbar beeinflusst. Die gegenteilige Auffassung gibt namentlich inbezug auf die Frage, ob etwas behauptet oder bestritten sei, zu Abgrenzungen und Unterscheidungen Anlass, die sehr heikel sein können, dem Rechtssuchenden die Wahl des zu treffenden Rechtsmittels übermässig erschweren würden und ihn in allen Zweifelsfällen nötigen würden, gleichzeitig Berufung und kantonale Nichtigkeitsbeschwerde oder, sofern eine solche nicht zur Verfügung steht, staatsrechtliche Beschwerde zu ergreifen. GULDENER nimmt denn auch an, wenn eine Tatsache als feststehend bezeichnet werde, obschon sie bestritten und nicht bewiesen sei, so liege darin eine unrichtige Tatbestandsfeststellung,
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die, sofern sie auf einem offensichtlichen Versehen beruhe, für das Bundesgericht nicht verbindlich sei und mit der Berufung gerügt werden könne (Beweiswürdigung und Beweislast S. 24/5). Das erscheint auch deshalb als zutreffend, weil die versehentliche Annahme, die Behauptung einer erheblichen Tatsache sei unbestritten geblieben, nicht nur mittelbar, sondern unmittelbar Bundesrecht verletzt, nämlich den Art. 8 ZGB , aus dem sich ergibt, dass der Richter eine bestrittene Behauptung nicht ungeprüft seinem Entscheid zugrunde legen darf ( BGE 71 II 127 /8, BGE 75 II 103 , BGE 80 II 295 /6).

4. Wenn die Feststellung des Obergerichts, inbezug auf eine Behauptung des Klägers fehle es an einer ausreichenden Bestreitung des Beklagten, aktenwidrig war, wie das Kassationsgericht angenommen hat, so hätte dies der Beschwerdeführer nach dem Gesagten mit der Berufung ans Bundesgericht rügen können. Die Annahme des angefochtenen Entscheids, dass in diesem Punkte die Berufung zulässig und die Kassationsbeschwerde daher unzulässig sei, erweist sich damit nicht nur als nicht willkürlich, sondern als zutreffend, weshalb die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen ist.

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen.

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