BGE 97 II 1 vom 25. März 1971

Datum: 25. März 1971

Artikelreferenzen:  Art. 23 ZGB, Art. 24 ZGB, Art. 25 ZGB , Art. 23 Abs. 1 ZGB, Art. 144 ZGB, Art. 63 Abs. 2 OG, Art. 25 Abs. 1 ZGB, Art. 24 Abs. 1 ZGB

BGE referenzen:  110 II 102, 115 II 120, 119 II 64 , 91 II 326, 85 II 322, 92 I 221, 87 II 10, 91 II 322, 90 II 216, 89 II 114, 96 II 166, 88 III 138, 83 II 499, 82 II 574, 90 I 28, 88 III 139, 91 II 322, 90 II 216, 89 II 114, 96 II 166, 88 III 138, 83 II 499, 82 II 574, 90 I 28, 88 III 139

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

97 II 1


1. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 25. März 1971 i.S. Eheleute Matter.

Regeste

Gerichtsstand der Scheidungsklage ( Art. 144 ZGB ). Massgebend ist der Wohnsitz des klagenden Ehegatten zur Zeit, da die Klage anhängig gemacht wird (Erw. 2).
Wohnsitz ( Art. 23 Abs. 1 ZGB ). Beim Entscheid darüber, ob sich jemand mit der Absicht dauernden Verbleibens an einem bestimmten Ort aufhält, kommt es nicht auf den innern Willen der betreffenden Person, sondern darauf an, auf welche Absicht die erkennbaren Umstände objektiv schliessen lassen (Klarstellung der Rechtsprechung). Tat- und Rechtsfrage (Erw. 3, erster Absatz).
Wohnsitz eines Ehemannes, der den Ort, wo er mit seiner Familie lebte, infolge ehelicher Spannungen verlassen und anderwärts eine Einzimmerwohnung bezogen hat. Vermutung für die Fortdauer des bisherigen Wohnsitzes. Indizien, die gegen die Begründung eines neuen Wohnsitzes sprechen (Erw. 3, zweiter Absatz, und Erw. 4).

Sachverhalt ab Seite 2

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Aus dem Tatbestand:
Die Eheleute Matter wohnten von 1951 an in Wädenswil, wo der Ehemann ein grosses Einfamilienhaus besitzt. Der Ehemann ist freier Mitarbeiter einer international tätigen Handelsgesellschaft in Zürich. 1965 mietete er in Zürich eine Einzimmerwohnung, in die er sich nach seiner Darstellung beim Auftreten ehelicher Spannungen zurückzog. Er lebte jedoch nicht völlig von seiner Ehefrau getrennt, sondern kehrte von Zeit zu Zeit zu ihr zurück. Auf den 1. Oktober 1966 will er die Wohnung in Zürich aufgegeben und das eheliche Zusammenleben wieder aufgenommen haben. Nach einigen Monaten mietete er aber wieder eine Einzimmerwohnung in Zürich. Nach einem Streit an Weihnachten 1967 kehrte er nicht mehr in die eheliche Wohnung zurück.
Am 18. August 1969 klagte der Ehemann beim Bezirksgericht Horgen, in dessen Amtskreis Wädenswil liegt, auf Scheidung der Ehe. Obwohl die Beklagte die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts nicht bestritt, wies dieses die Klage am 6. Mai 1970 von der Hand, weil der Kläger seit 1967 nicht mehr in Wädenswil, sondern in Zürich Wohnsitz habe. Am 24. September 1970 bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich diesen Entscheid.
Auf Berufung des Klägers hin erklärt das Bundesgericht das Bezirksgericht Horgen als zuständig.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Für die Scheidungsklage ist nach Art. 144 ZGB der Richter am Wohnsitz des klagenden Ehegatten zuständig. Massgebend ist dabei der Wohnsitz, den der klagende Ehegatte zu der Zeit hat, da er die Klage anhängig macht ( BGE 91 II 322 E. 3 mit Hinweisen). Wann die Rechtshängigkeit eintritt,
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bestimmt sich nach dem kantonalen Prozessrecht (vgl. den eben angeführten Entscheid und die dort angeführten frühern Entscheide). Nach § 121 der zürcherischen ZPO tritt sie mit dem Einreichen der Weisung des Friedensrichters beim Bezirksgericht ein. Diese Prozesshandlung erfolgte im vorliegenden Falle am 18. August 1969. Es kommt also darauf an, wo der Kläger an diesem Tage Wohnsitz hatte.

3. Der Wohnsitz einer Person befindet sich nach Art. 23 Abs. 1 ZGB an dem Orte, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Das Bundesgericht hat diese Bestimmung nicht immer gleich ausgelegt. In mehreren Entscheiden hat die II. Zivilabteilung angenommen, bei der Absicht dauernden Verbleibens an einem Orte handle es sich um ein subjektives, inneres Moment, m.a.W. es sei damit die innere Absicht der betreffenden Person gemeint, an einem Orte dauernd (d.h. nicht bloss vorübergehend) zu verbleiben; die Feststellungen, welche die letzte kantonale Instanz auf Grund der Umstände des Falles über eine solche Absicht treffe, hätten tatsächliche Verhältnisse (den innern Willen der Person) zum Gegenstand und seien daher gemäss Art. 63 Abs. 2 OG für das Bundesgericht als Berufungsinstanz verbindlich; zum subjektiven Moment der Absicht des dauernden Verweilens müsse als objektives Moment die tatsächliche Niederlassung am fraglichen Orte treten; hiefür sei erforderlich, dass die Person den Ort, wo sie sich aufhält, zum Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen mache ( BGE 91 II 326 , BGE 90 II 216 ff. E. 3, 4, BGE 89 II 114 /15 E. 1, BGE 77 II 17 ; vgl. auch BGE 85 II 322 Abs. 1). Zahlreiche andere Entscheide der II. Zivilabteilung, der Staats- und verwaltungsrechtlichen Abteilung und der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer stellen demgegenüber bei Beurteilung der Frage, ob das in Art. 23 Abs. 1 ZGB vorgesehene Erfordernis des Aufenthaltes an einem Orte mit der Absicht dauernden Verbleibens erfüllt sei, einfach darauf ab, ob nach den gesamten Umständen anzunehmen ist, dass die betreffende Person den Ort, wo sie - wenn auch nur kurze Zeit - verweilt, zum Mittel- oder Schwerpunkt ihrer Lebensbeziehungen gemacht hat ( BGE 96 II 166 E. 3, BGE 92 I 221 E. 2a, BGE 88 III 138 /39, BGE 87 II 10 , BGE 83 II 499 /500, BGE 82 II 574 vor lit. b, BGE 77 I 118 , BGE 69 II 276 und 280, BGE 69 I 12 und 14 oben, BGE 64 II 403 , BGE 41 I 453 , BGE 38 I 254 ; vgl. auch BGE 85 II 322 Abs. 2, wo BGE 38 I 254 statt BGE 38 II 254 zitiert sein sollte). Dieser Praxis, die nicht auf den innern Willen, sondern darauf abstellt, auf welche
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Absicht die erkennbaren Umstände objektiv schliessen lassen, ist mit GROSSEN (Schweiz. Privatrecht II S. 350 f.), dem die Vorinstanz im wesentlichen gefolgt ist, der Vorzug zu geben. Wo sich der Wohnsitz einer Person befindet, ist nämlich nicht bloss für diese selbst, sondern vor allem auch für zahlreiche Drittpersonen und Behörden von Bedeutung (vgl. EGGER N. 8 ff. zu Art. 23 ZGB ) und muss sich daher nach Kriterien bestimmen, die für Dritte erkennbar sind. Die Feststellungen der letzten kantonalen Instanz über solche Umstände (zu denen auch das Verhalten der in Frage stehenden Person gehört) sind im Berufungsverfahren gemäss Art. 63 Abs. 2 OG für das Bundesgericht verbindlich. Ob aus den festgestellten Umständen objektiv die Absicht dauernden Verbleibens im Sinne von Art. 23 Abs. 1 ZGB hervorgehe, ist dagegen eine vom Bundesgericht zu prüfende Rechtsfrage.
Dass ein Ehemann den Wohnsitz am Orte, wo er mit seiner Familie gelebt hatte, aufgegeben und anderswo einen neuen Wohnsitz begründet habe, darf nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht leichthin angenommen werden. Diese Annahme kann im Hinblick darauf, dass die Ehefrau nach Art. 25 Abs. 1 ZGB unter Vorbehalt von Art. 25 Abs. 2 von Gesetzes wegen den Wohnsitz des Ehemannes teilt, namentlich dann Bedenken wecken, wenn der Ehemann den bisherigen ehelichen Wohnsitz verlässt und sich an einen andern Ort begibt, ohne Anstalten zu treffen, dort einen neuen ehelichen Wohnsitz zu begründen, d.h. seine Familie bei sich aufzunehmen (vgl. das nicht veröffentlichte Urteil der II. Zivilabteilung vom 3. Oktober 1966 i.S. Eheleute Iselin, E. 2). Bei Prüfung der Frage, wo der Ehemann bei Eintritt der Rechtshängigkeit einer Scheidungsklage Wohnsitz gehabt habe und welches Gericht daher gemäss Art. 144 ZGB für den Scheidungsprozess örtlich zuständig sei, ist aber nach BGE 77 II 17 ausserdem zu berücksichtigen, dass der letzte gemeinsame eheliche Wohnsitz eigentlich der natürliche Gerichtsstand für die Scheidungsklage wäre (vgl. hiezu HINDERLING, Das schweiz. Ehescheidungsrecht, 3. Aufl., S. 189 FN 4, der hiezu unter Hinweis auf § 606 der deutschen ZPO bemerkt, de lege ferenda könnte auch an den Ort des letzten gemeinsamen Aufenthalts gedacht werden). Dass der Scheidungsprozess dort durchführt wird, wo die Parteien zuletzt miteinander gelebt haben, hat in der Tat starke Gründe der Zweckmässigkeit für sich; dies jedenfalls dann, wenn einer
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der Ehegatten noch an jenem Orte lebt und die Ehegatten dort längere Zeit gelebt haben, wie es im vorliegenden Falle zutrifft. Auch deshalb ist die Annahme, der Ehemann habe den Wohnsitz an jenem Orte aufgegeben und anderswo einen neuen Wohnsitz begründet, beim Entscheid über die örtliche Zuständigkeit für den Scheidungsprozess von strikten Voraussetzungen abhängig zu machen. Wenn der Scheidungskläger behauptet, er habe seinen Wohnsitz an jenem Orte beibehalten, besteht, wie in BGE 77 II 17 /18 gesagt, weniger Grund zum Zweifel an seiner Darstellung, als wenn er an einem andern Orte klagen will und zu diesem Zwecke behauptet, den Wohnsitz dorthin verlegt zu haben. "Mangels eines gegenteiligen Nachweises", m.a.W. wenn sich das Gegenteil nicht klar aus den Umständen ergibt, hat der letzte eheliche Wohnsitz "als fortbestehendes Domizil des Klägers im Zeitpunkt der Klageeinreichung zu gelten" ( BGE 77 II 18 oben, BGE 91 II 326 unten; nicht veröffentlichte Urteile vom 5. Mai 1966 i.S. Eheleute Barth, E. 2, vom 3. Oktober 1966 i.S. Eheleute Iselin, E. 3 b, und vom 1. Oktober 1970 i.S. Eheleute Braun, E. 4).

4. Im vorliegenden Falle war unstreitig Wädenswil der letzte gemeinsame Wohnsitz der Parteien. An Weihnachten 1967 hat der Kläger diesen Ort verlassen und ist seither nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Er hält sich seither in Zürich auf und arbeitet dort, sofern er sich nicht auf Geschäftsreisen im Ausland befindet. Er hat jedoch in Zürich nicht etwa eine Familienwohnung bezogen und dementsprechend die Beklagte auch nicht aufgefordert, zu ihm zu ziehen. Vielmehr bewohnt er dort nur eine Einzimmerwohnung, wie er es, um den ehelichen Spannungen auszuweichen, schon früher zeitweise getan hatte. Das grosse Haus in Wädenswil, wo die Beklagte wohnt, gehört heute noch ihm. Dass er nach einer allfälligen Scheidung dorthin zurückkehren werde, steht nach den Feststellungen der Vorinstanz freilich nicht fest. Anderseits kann aber mit Rücksicht auf seinen bisherigen Lebensstandard nach der Lebenserfahrung nicht angenommen werden, dass er sich auf die Dauer mit einer - möblierten - Einzimmerwohnung begnügen wird, in der er weder Freunde noch Geschäftskunden in angemessener Weise empfangen und bewirten kann. Er hat sich also in Zürich bloss provisorisch niedergelassen. Dass dieser Zustand bei Eintritt der Rechtshängigkeit der Scheidungsklage bereits mehr als anderthalb Jahre gedauert hatte und dass seine
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Einzimmerwohnung mit einem Telephonanschluss versehen ist, ändert am provisorischen Charakter dieser Niederlassung nichts. Nach den Umständen zu schliessen, will er sich die Wahl einer nicht bloss als vorübergehend gedachten neuen Niederlassung - sei es an seinem Arbeitsorte Zürich, sei es in der Umgebung dieser Stadt oder anderwärts - bis zur Klärung seines ehelichen Verhältnisses vorbehalten. Selbst wenn man annehmen will, er habe durch den Wegzug und das seit Ende 1967 andauernde Fernbleiben von Wädenswil den dortigen Wohnsitz aufgegeben, lässt sich also auf jeden Fall nicht sagen, aus den Umständen ergebe sich mit der nach der Rechtsprechung erforderlichen Klarheit, dass er Zürich zum Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen gemacht und deshalb dort Wohnsitz habe, sondern ist anzunehmen, der Wohnsitz in Wädenswil habe, obwohl faktisch aufgegeben, bei Einleitung der Scheidungsklage mangels Begründung eines neuen Wohnsitzes gemäss Art. 24 Abs. 1 ZGB fortbestanden.
Dass der Kläger Zürich zum Lebensmittelpunkt gemacht habe, kann um so weniger angenommen werden, als er Vorkehren unterlassen hat, die in diesem Falle nahegelegen hätten. Er hat sich bei der Einwohnerkontrolle von Wädenswil nicht abgemeldet und erfüllt demgemäss seine Steuerpflicht immer noch in Wädenswil, obwohl der Steuersatz in den letzten Jahren in Zürich merklich niedriger war als in Wädenswil. Wo die Ausweisschriften hinterlegt sind und die Steuern bezahlt werden, ist zwar für die Beurteilung der Wohnsitzfrage nicht allein entscheidend ( BGE 92 I 221 E. 2a, BGE 90 I 28 /29, BGE 88 III 139 E. 1 a.E., BGE 87 II 10 , BGE 69 I 13 /14, BGE 41 I 454 ). Es kann darin aber immerhin ein Indiz liegen, das bei Prüfung der Frage, wo eine Person ihren Lebensmittelpunkt habe, neben andern Umständen in Betracht gezogen werden darf (vgl. BGE 77 I 119 ). Im vorliegenden Falle bildet die Tatsache, dass der Kläger seinem finanziellen Interesse zuwider in Wädenswil gemeldet und steuerpflichtig geblieben ist, in Verbindung mit den bereits gewürdigten Umständen ein beachtliches Indiz gegen die Annahme, er habe seinen Wohnsitz nach Zürich verlegt. Das gleiche gilt auch für die Tatsache, dass er in Horgen geklagt hat, obwohl es für ihn und für seinen Anwalt bequemer gewesen wäre, in Zürich zu prozessieren.
Die von den kantonalen Gerichten erwähnte Äusserung des Klägers bei der persönlichen Befragung durch das Bezirksgericht,
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er sei wegen der Steuern noch in Wädenswil gemeldet, habe aber sonst keine Beziehungen mehr zu diesem Ort, vermag am Ergebnis der bisherigen Erwägungen nichts zu ändern. Die Beziehungen des Klägers zu Wädenswil beschränkten sich nach seiner unbestrittenen Darstellung stets darauf, dass er dort eine Villa besass, mit seiner Familie dort wohnte und dort Steuern zahlte; mit der Bevölkerung und den Dorfvereinen hatte er nie Kontakt. Mit seinem Wegzug hat sich also an seinen Beziehungen zu Wädenswil abgesehen davon, dass er sein dortiges Haus nicht mehr benützte, nichts geändert.
Der Wohnsitz des Klägers befand sich nach alledem bei Eintritt der Rechtshängigkeit seiner Scheidungsklage nicht in Zürich, sondern Wädenswil hatte immer noch als sein Wohnsitz zu gelten. Die Klage ist daher zu Recht beim Bezirksgericht Horgen angebracht worden.

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