BGE 97 II 297 vom 11. November 1971

Datum: 11. November 1971

Artikelreferenzen:  Art. 63 Abs. 1 Satz 2 OG

BGE referenzen:  96 II 314, 97 II 193 , 96 II 314, 96 II 317, 90 II 273, 90 II 225, 96 II 324, 95 II 252, 97 II 193, 96 II 323, 96 II 324, 95 II 252, 97 II 193, 96 II 323

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

97 II 297


40. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 11. November 1971 i.S. Vissers gegen Bänninger.

Regeste

Vaterschaftsklage; Beweis der Vaterschaft bzw. Nichtvaterschaft.
Die von den Klägern zum Beweis der Vaterschaft des Beklagten beantragte anthropologisch-erbbiologische Begutachtung darf erst angeordnet werden, wenn alle andern Beweise, welche die Parteien zur Klärung der Frage der Abstammung des Kindes angeboten haben, erhoben worden sind und nicht zu einem schlüssigen Ergebnis geführt haben. Zur Blutuntersuchung gehört die statistische Auswertung des Blutbefundes. Aus der Weigerung des Beklagten, sich der vor Ausschöpfung aller andern Beweismöglichkeinten angeordneten anthropologisch-erbbiologischen Untersuchung zu unterziehen, dürfen keine für ihn nachteiligen Schlüsse gezogen werden.

Sachverhalt ab Seite 297

BGE 97 II 297 S. 297
Aus dem Tatbestand:
Die ledige Schweizerin Bänninger und das von ihr am 16. Februar 1965 geborene Kind leiteten gegen den in Belgien
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wohnhaften Belgier Vissers in Basel, wo sie zur Zeit der Geburt des Kindes Wohnsitz hatten (Art. 312 SGB), eine Vaterschaftsklage auf Vermögensleistungen ein. Durch die von ihnen angerufenen Zeugen konnte nicht bewiesen werden, dass der Beklagte der Mutter in der kritischen Zeit (22. April bis 20. August 1964) beigewohnt hatte. Anderseits ergab sich, dass die Mutter zu Beginn dieser Zeit mit einem Dritten geschlechtlich verkehrt hatte. Der anthropologisch-erbbiologischen Begutachtung, welche die Kläger zum Beweis der Vaterschaft des Beklagten beantragt hatten, entzog sich der Beklagte, obwohl ihm die Kosten der Reise zum Experten nach Basel vergütet worden wären. In Würdigung dieser Weigerung des Beklagten und weiterer Umstände erachtete das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt die Vaterschaft des Beklagten als erwiesen und hiess die Klage gut. Auf Berufung des Beklagten hin weist das Bundesgericht die Sache an die Vorinstanz zurück.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

9. Die Anordnung eines AEG zum positiven Beweis der Vaterschaft setzt die Erschöpfung aller andern Beweismöglichkeiten voraus (vgl. namentlich BGE 90 II 273 Erw. 3 und - für den negativen Abstammungsbeweis, der in dieser Hinsicht dem positiven gleichsteht - BGE 90 II 225 Erw. 5; ferner BGE 96 II 324 Erw. 6, wo der Grundsatz, dass vor Einholung eines AEG alle andern Beweismittel erschöpft sein müssen, allgemein ausgesprochen wird). Das Bundesgericht hat diese Regel bei der ihm zustehenden Prüfung der Frage aufgestellt, in welchen Fällen von Bundesrechts wegen ein Anspruch auf Einholung eines naturwissenschaftlichen Gutachtens besteht sowie ob und unter welchen Voraussetzungen eine bestimmte Untersuchungsmethode grundsätzlich zum Beweis der Abstammung oder Nichtabstammung taugt. (Zur Kognition des Bundesgerichts auf diesem Gebiete vgl. HEGNAUER, N. 101 zu Art. 314/315 ZGB, mit Hinweisen.) Die erwähnte Regel ist daher als bundesrechtliche Beweisregel zu betrachten und folglich nach Art. 63 Abs. 1 Satz 2 OG im Berufungsverfahren unabhängig von der Begründung der Parteianträge von Amtes wegen anzuwenden (vgl. zur eben genannten Bestimmung BGE 95 II 252 Erw. 3 mit Hinweisen, 361 Erw. 2, 610 Erw. 2).
Der Beklagte hat in seiner Klageantwort ausser einem AEG ein Blutgruppengutachten, ein Gutachten über den Reifegrad
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und "überhaupt sämtliche zur Zeit der Urteilsfindung aner kannten Gutachten über die mangelnde Vaterschaft" beantragt. Eingeholt wurde auf seinen Antrag hin jedoch nur ein Blutgruppengutachten (serologisches Gutachten). Dass der Beklagte auf die Begutachtungen, die er über das Blutgruppengutachten und das von ihm später abgelehnte AEG hinaus beantragt hatte, später verzichtet habe, ist nicht festgestellt. Den Akten ist denn auch nicht zu entnehmen, dass er einen solchen Verzicht ausgesprochen hätte. Vielmehr ist anzunehmen, infolge der Diskussion über das AEG sei in Vergessenheit geraten, dass sein Beweisantrag über die Anordnung eines Blutgruppengutachtens und eines AEG hinausging.
Bei Erlass des Urteils der letzten kantonalen Instanz (30. September 1970) war der Entscheid BGE 96 II 314 ff. (vom 17. Dezember 1970), in welchem sich das Bundesgericht erstmals eingehend mit der statistischen Auswertung serologischer Befunde auseinandersetzte, noch nicht ergangen, doch hatte diese Methode damals im Schrifttum und in Entscheidungen deutscher Gerichte bereits grundsätzliche Anerkennung gefunden (HEGNAUER, N. 156-160 zu Art. 314/315 ZGB, mit Hinweisen; vgl. auch die Hinweise in BGE 96 II 317 ). Der Antrag auf Anordnung aller zur Zeit der Urteilsfindung anerkannten Gutachten schloss also den Antrag auf serostatistische Begutachtung in sich. Seit der grundsätzlichen Anerkennung dieser Methode ist zudem anzunehmen, die statistische Auswertung des Blutbefundes gehöre zur serologischen Begutachtung, wie sie der Beklagte mit dem Antrag auf Blutprobe verlangt hat. Diese Annahme rechtfertigt sich um so eher, als die in Frage stehende Auswertung nur einen verhältnismässig geringen Mehraufwand verlangt.
Die serostatistische Begutachtung dient in erster Linie dem positiven Abstammungsbeweis, der in den Fällen BGE 96 II 314 ff. und BGE 97 II 193 mit diesem Beweismittel angestrebt wurde. Er erlaubt aber unter Umständen auch, die Vaterschaft eines bestimmten Mannes auszuschliessen (vgl. BGE 96 II 317 , wo jedoch unter dem in ersten Satze des letzten Absatzes verwendeten Ausdruck "statistisch belegte Ausschlusswahrscheinlichkeit" nicht etwa die unmittelbar vorher erwähnte Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft nach ESSEN-MÖLLER oder die in Erw. 3 erwähnte Wahrscheinlichkeit, dass ein Nichtvater durch eine bestimmte Untersuchungsmethode als Vater ausgeschlossen
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werden kann, sondern entsprechend dem zum Beleg angeführten Zitat aus dem Lehrbuch von PONSOLD der Grad der Zuverlässigkeit eines Vaterschaftsausschlusses zu verstehen ist; BGE 96 II 323 lit. c: "serostatistischer Ausschlussbefund", und lit. d, wo ebenfalls auf die Möglichkeit eines serostatistischen Vaterschaftsausschlusses Bezug genommen wird; vgl. ferner HUMMEL, Die medizinische Vaterschaftsbegutachtung mit biostatistischem Beweis, 1961, S. 8 Mitte, 15, 18, 20 Ziff. 2 Abs. 1, 35 Ziff. 3 Abs. 3; HUMMEL in PONSOLD, Lehrbuch der Gerichtlichen Medizin, 1967, S. 552 links unten und 555-557; BEITZKE im selben Lehrbuch S. 582 rechts oben und 583 rechts oben; HEGNAUER, N. 156 zu Art. 314/315 ZGB). Beweiskräftige biostatistische Vaterschaftsausschlüsse sind freilich sehr selten (HUMMEL, Die medizinische Vaterschaftsbegutachtung ..., S. 20 Ziff. 2 Abs. 1; HARRASSER, Der gegenwärtige Stand des erbbiologischen Vaterschaftsgutachtens, Neue Juristische Wochenschrift, 1. Halbband 1962, S. 661 rechts; HUMMEL, Der Stand der medizinischen Wissenschaft in der Abstammungsbegutachtung und die Frage: Vaterschaftsfeststellung ohne Beweisregel?, in Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 1969 S. 21 links unten). Der Umstand, dass der serostatistische Beweis dem Beklagten nur geringe Chancen bietet, ist jedoch kein zureichender Grund, ihm diese Beweismöglichkeit vorzuenthalten.
Im vorliegenden Fall haben im übrigen die Kläger in der Replik "zum positiven Vaterschaftsbeweis" ihrerseits die Blutgruppenbestimmung beantragt. Zum positiven Beweis der Abstammung ist nicht schon die Bestimmung der Bluteigenschaften als solche, sondern erst die statistische Auswertung des Blutbefundes tauglich. Der wiedergegebene Beweisantrag der Kläger ist daher vernünftigerweise auf die serostatistische Begutachtung zu beziehen.
Hatte diese Begutachtung als beantragt zu gelten, so hätte sie nach der erwähnten bundesrechtlichen Beweisregel durchgeführt werden sollen, bevor die anthropologisch-erbbiologische Begutachtung angeordnet wurde.
Vor der Anordnung eines AEG hätte aber auch das vom Beklagten zum Beweis seiner Nichtvaterschaft beantragte Gutachten über den Reifegrad eingeholt werden sollen. Wenn das Kind bei der Geburt die Zeichen normaler Reife aufwies, war eine Zeugung in dem von der Mutter angegebenen Zeitpunkte
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(Nacht vom 20. auf den 21. Mai 1964), d.h. 272 Tage vor der Geburt, allerdings ohne weiteres möglich. Über den Reifegrad liegen jedoch keine Feststellungen vor, obwohl das Frauenspital Basel, wo die Geburt erfolgt war, die nötigen Angaben zweifellos hätte liefern können. Die Einholung eines Reifegutachtens liess sich daher nicht von vornherein als zwecklos betrachten.
Durften die kantonalen Instanzen die anthropologischerbbiologische Begutachtung mangels Ausschöpfung der Beweismöglichkeiten, welche die statistische Auswertung des Blutbefundes und das Reifegutachten boten, bisher noch gar nicht anordnen, so war es ihnen auch nicht gestattet, aus dem Umstand, dass der Beklagte sich weigerte, sich dieser Begutachtung zu unterziehen, dem Beklagten nachteilige Schlüsse zu ziehen. Aus diesem Grunde ist das angefochtene Urteil als bundesrechtswidrig aufzuheben. Die Sache ist zur Durchführung der versäumten Beweiserhebungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sollten diese Erhebungen nicht zu einem schlüssigen Ergebnis führen, so wäre die anthropologischerbbiologische Begutachtung von neuem anzuordnen. Da die bereits erfolgte Anordnung dieser Massnahme gegen eine bundesrechtliche Beweisregel verstiess und folglich unzulässig war, darf aus der Tatsache, dass der Beklagte es abgelehnt hat, sich der angeordneten Untersuchung zu unterziehen, nicht geschlossen werden, die neue Anordnung einer solchen Untersuchung sei zwecklos und habe daher zu unterbleiben. Dass der Beklagte das AEG auch dann vereitelt hätte, wenn vorher das serostatistische Gutachten und das Reifegutachten eingeholt worden wären, steht nicht von vornherein fest, sondern es ist möglich, dass die Ergebnisse dieser Gutachten seine Stellungnahme zum AEG beeinflusst hätten. Aus seinem bisherigen Verhalten darf daher nicht auf sein künftiges Verhalten geschlossen werden. Vielmehr ist er im Falle, dass die erwähnten übrigen Gutachten die streitige Abstammungsfrage nicht klären, anzufragen, ob er nunmehr bereit sei, zu einem AEG Hand zu bieten. Sollte er sich von neuem weigern, so hätte er ernstlich damit zu rechnen, dass er auf Grund dieser Weigerung und der übrigen Umstände des Falles von neuem verurteilt würde, und könnte er kaum hoffen, der Vollstreckung des Urteils in seinem Heimatstaat zu entgehen.

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