Urteilskopf
98 Ib 85
13. Urteil vom 28. April 1972 i.S. X. gegen Regierungsrat des Kantons Zürich.
Regeste
Fremdenpolizeirecht; Widerruf der Aufenthaltsbewilligung (
Art. 9 Abs. 2 lit. b ANAG
).
- Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde; Kognitionsbefugnis des Bundesgerichtes.
- Ob die Voraussetzungen für den Widerruf der Aufenthaltsbewilligung gegeben sind, ist Rechts- und Tatfrage; der Fremdenpolizeibehörde, die den Begriff des "zu schweren Klagen" Anlass gebenden Ausländers auf den Einzelfall anzuwenden hat, ist jedoch ein gewisser Beurteilungsspielraum eingeräumt. Ermessensfrage ist, ob, bei erfüllten Voraussetzungen, die Aufenthaltsbewilligung auch wirklich widerrufen werden soll.
- Die das Massnahmerecht handhabende Behörde hat die Frage, ob ein Fall schwer wiegt, nach fremdenpolizeilichen Gesichtspunkten zu beantworten; sie braucht sich deshalb mit der strafrechtlichen Würdigung des Sachverhaltes nicht zu befassen.
A.-
Der am 22. November 1950 in Miggiano (Italien) geborene Beschwerdeführer ist italienischer Staatsangehöriger. Im Herbst 1969 kam er in die Schweiz, nachdem ihm von der Fremdenpolizei des Kantons Zürich zuvor eine Aufenthaltsbewilligung zugesichert worden war. Er ist in der Nähe von Uster als Hilfsarbeiter tätig.
Am 23. Juli 1970 hielt der mit Badehosen bekleidete Beschwerdeführer auf einem Feldweg ca. 200 m vom Strandbad Uster entfernt die ihm unbekannte 1957 geborene N., welche auf dem Fahrrad fuhr, an. Er sprach auf sie ein, fasste das Mädchen am Kinn, drehte ihr Gesicht gegen sich und gab ihr einen Zungenkuss. Hiernach küsste er das Mädchen auf das Gesicht und am Körper. Er streifte seine Badehosen hinunter, griff unter den Rock des Mädchens und versuchte schliesslich mit ihr den Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Von seinem Vorhaben liess er
BGE 98 Ib 85 S. 87
ab, als das Mädchen sich wehrte. Mit Urteil des Bezirksgerichtes Uster vom 21. Oktober 1970 wurde der Beschwerdeführer der Unzucht mit einem Kinde im Sinne von
Art. 191 Ziff. 1 und 2 StGB
schuldig befunden und mit einem Monat Gefängnis bestraft, wobei der Vollzug der Strafe bedingt aufgeschoben wurde. Das Gericht hielt dem Beschwerdeführer zu gut, dass er sich im Sinne von
Art. 191 StGB
irrtümlich vorgestellt habe, das Mädchen sei mindestens 16 Jahre alt.
B.-
Im Anschluss an dieses Strafurteil widerrief die Fremdenpolizei des Kantons Zürich mit Verfügung vom 20. Januar 1971 die bis zum 31. Juli 1971 gültige Aufenthaltsbewilligung, wobei sie sich zur Begründung auf das Urteil des Bezirksgerichtes Uster berief. Dem Beschwerdeführer wurde zum Verlassen des zürcherischen Kantonsgebietes eine Frist bis zum 15. März 1971 angesetzt. Sein dagegen eingereichter Rekurs wurde mit Beschluss des Regierungsrates des Kantons Zürich vom 7. Oktober 1971 abgewiesen.
Die Eidgenössische Fremdenpolizei dehnte mit Verfügung vom 17. November 1971 die kantonale Wegweisungsverfügung auf das ganze Gebiet der Schweiz aus und erliess gleichzeitig eine bis zum 15. Dezember 1974 geltende Einreisesperre.
C.-
Mit einer gegen den Beschluss des Regierungsrates erhobenen staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV
beantragt der Beschwerdeführer, die Verfügung der Polizeidirektion des Kantons Zürich vom 20. Januar 1972 sei aufzuheben.
D.-
Der Regierungsrat des Kantons Zürich beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement schliesst ebenfalls auf Abweisung.
E.-
Mit Präsidialverfügung vom 14. Dezember 1971 wurde dem Gesuch um Gewährung der aufschiebenden Wirkung entsprochen.
F.-
Mit Schreiben vom 17. März 1972 weist die Fremdenpolizei des Kantons Zürich darauf hin, dass der Beschwerdeführer gemäss Strafverfügung vom 4. Februar 1972 mit Fr. 120.-- gebüsst worden sei.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Beim angefochtenen Beschluss des Regierungsrates des Kantons Zürich vom 7. Oktober 1971, mit dem der Rekurs des Beschwerdeführers gegen einen Widerruf der Aufenthaltsbewilligung
BGE 98 Ib 85 S. 88
abgewiesen wurde, handelt es sich um eine letztinstanzliche kantonale Verfügung im Sinne von
Art. 98 lit. g OG
. Ein Unzulässigkeitsgrund gemäss
Art. 100 lit. b OG
ist nicht gegeben. Insbesondere liegt keine Verweigerung einer Bewilligung gemäss
Art. 100 lit. b Ziff. 3 OG
vor. Gegenstand des Verfahrens bildet der Widerrufeiner Aufenthaltsbewilligung, der mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden kann (vgl. Urteil vom 14. Mai 1971 i.S. de S. Erw. 1 lit. b am Ende).
Unter diesen Umständen erweist sich die vom Beschwerdeführer eingereichte staatsrechtliche Beschwerde als unzulässig (
Art. 84 Abs. 2 OG
). Auf seine Rechtsschrift kann jedoch als Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingetreten werden (
BGE 97 I 533
Erw. 1 d, nicht veröffentlicht, und dort zitierte Entscheide).
b) Die Kognitionsbefugnis des Bundesgerichts umfasst im vorliegenden Falle die Rüge der Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens (
Art. 104 lit. a OG
) sowie die Rüge der unrichtigen oder unvollständigen Feststellung des Sachverhaltes (
Art. 104 lit. b OG
). Die Angemessenheit des angefochtenen Entscheides kann das Bundesgericht hingegen nicht prüfen (
BGE 98 Ib 3
Erw. 1;
BGE 97 I 64
Erw. 3,
BGE 96 I 271
).
Art. 104 lit. c OG
lässt die Rüge der Unangemessenheit abgesehen von zwei hier ohnehin nicht in Betracht kommenden Fällen nur zu, "soweit das Bundesrecht sie vorsieht". Dass das Bundesrecht sie vorsehe, ist, dem Sinn der Vorschrift entsprechend, nur anzunehmen, wenn ein bundesrechtlicher Erlass dies ausdrücklich ausspricht. Die Erlasse über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer enthalten keine derartige Bestimmung, weshalb es mit der Kontrolle der Rechtmässigkeit nach Massgabe der lit. a und b des
Art. 104 OG
sein Bewenden haben muss (
BGE 98 Ib 3
).
2.
Streitobjekt des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist der Widerruf der Aufenthaltsbewilligung.
a) Die Aufenthaltsbewilligung kann nach
Art. 9 Abs. 2 lit. b ANAG
widerrufen werden, wenn das Verhalten des Ausländers "Anlass zu schweren Klagen gibt." Ob im Einzelfall die Voraussetzungen für einen Widerruf der Aufenthaltsbewilligung gegeben sind, ist Rechts- und Tatfrage (vgl. Urteil vom 22. Dezember 1971, i.S. P.F., Erw. 1b).
Der Begriff der "schweren Klagen" ist, wie das Bundesgericht in früheren Urteilen (
BGE 93 I 6
; zitiertes Urteil vom
BGE 98 Ib 85 S. 89
14. Mai 1971, Erw. 2 a) schon festgestellt hat, ein unbestimmter Rechtsbegriff, der seinen Inhalt aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift sowie der Stellung im Gesetz und im Rechtssystem gewinnt. Der Behörde, die einen solchen Begriff auf den Einzelfall anzuwenden hat, ist ein gewisser Beurteilungsspielraum eingeräumt; das Bundesgericht nimmt daher die Überprüfung der Begriffsauslegung nur mit Zurückhaltung vor (
BGE 96 I 369
, mit Hinweisen).
b) Wie das ANAG als Ganzes, ist auch Art. 9 Abs. 2 lit. b seinem Wesen nach polizeilicher Natur (VEBB 25, Nr. 99). Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, die Aufgabe der Polizei ist, obliegt der Behörde von Amtes wegen. Wenn daher die genannte Bestimmung von einem Verhalten spricht, das "Anlass zu schweren Klagen gibt", bedeutet dies, dass nicht primär subjektiv, sondern objektiv, d.h. im Lichte der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, Anlass zu Klagen besteht (
BGE 93 I 7
). Der Kreis, der wegen ihrer Bedeutung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit geschützten Rechtsgüter ist - entsprechend der Zwecksetzung des ANAG - ein weiterer als im Bereiche der allgemeinen Sicherheitspolizei; denn das Fremdenpolizeirecht des Bundes dient der Abwehr der Überfremdung und der Vermeidung einer Störung des Arbeitsmarktes einerseits (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 8. März 1948 über die Abänderung und Ergänzung des ANAG; BBl 1948 I 1293), dem Schutze des Gaststaates und der darin geltenden Ordnung (vgl.
Art. 10 Abs. 1 ANAG
) anderseits. Neben und mit dem Recht umfasst diese Ordnung auch die ihr zu Grunde liegenden sittlichen Werte und gesellschaftlichen Strukturen (vgl.
Art. 16 Abs. 2 ANAV
; zitiertes Urteil vom 14. Mai 1971, Erw. 2 b).
c) Die die Rechtsstellung des Ausländers äusserst stark beeinträchtigende Massnahme des Widerrufs einer Aufenthaltsbewilligung ist nur anzuordnen, wenn das Verhalten des Ausländers zu "schweren Klagen Anlass gibt". Die Gegenüberstellung mit
Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG
, zeigt, dass ein Fall nicht nur dann als schwer zu qualifizieren ist, wenn das Verhalten des Ausländers strafbar ist; umgekehrt ist aber auch nicht jeder Straftatbestand ohne weiteres als Anlass zu schweren Klagen zu betrachten (
BGE 93 I 8
).
Die das Massnahmerecht handhabende Behörde braucht sich deshalb nicht mit der strafrechtlichen Würdigung des Sachverhaltes
BGE 98 Ib 85 S. 90
zu befassen; sie hat die Frage, ob ein Fall schwer wiege, nach fremdenpolizeilichen Gesichtspunkten zu beantworten. Dabei hat sie die Bedeutung des verletzten Rechtsgutes innerhalb der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung des Gastlandes einerseits, die Umstände der Tat sowie die persönlichen Verhältnisse des zu Klagen Anlass gebenden Ausländers anderseits in Betracht zu ziehen.
d) Die Verurteilung des Beschwerdeführers mit Entscheid des Bezirksgerichtes Uster vom 21. Oktober 1970 wegen Unzucht mit einem Mädchen im Sinne von
Art. 191 Ziff. 1 und 2 StGB
stellt ein Verhalten dar, das im Sinne von
Art. 9 Abs. 2 lit. b ANAG
Anlass zu schweren Klagen gibt und zwar unabhängig davon, dass das Verschulden des Beschwerdeführers vom Strafgericht als leicht bezeichnet wurde, und dass er deswegen bloss eine Strafe von einem Monat Gefängis auferlegt erhielt. Der Beschwerdeführer hat sich eines Verbrechens schuldig gemacht und damit einen Tatbestand erfüllt, welcher der Behörde sogar die Möglichkeit zur schwerer wiegenden Massnahme der fremdenpolizeilichen Ausweisung im Sinne von
Art. 10 ANAG
geben könnte. Die Vorinstanz gelangte daher mit Recht zum Schluss, dass die Aufenthaltsbewilligung entzogen werden kann.
3.
a) Ob dem Ausländer bei Vorliegen schwerer Klagen die Aufenthaltsbewilligung gemäss
Art. 9 ANAG
auch wirklich entzogen werden soll, ist Ermessensfrage (vgl. zitiertes Urteil vom 22. Dezember 1971). Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann deshalb - wie in Erw. 1b bereits festgestellt worden ist - ausser der Rüge unrichtiger oder unvollständiger Tatbestandsfeststellung und der Verletzung von Bundesrecht nur der Einwand erhoben werden, die Behörde habe das ihr zustehende Ermessen überschritten oder missbraucht. Dabei ist davon auszugehen, dass die Behörde bei der Handhabung ihres Ermessens dem Interesse der Öffentlichkeit, das für den gesetzlich möglichen Widerruf der Aufenthaltsbewilligung spricht, im Sinne des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit polizeilicher Massnahmen das Interesse des Wegzuweisenden am Verbleiben in der Schweiz gegenüberzustellen hat.
Für die Beurteilung der Angemessenheit sind namentlich die Schwere des Verschuldens des Ausländers, die Dauer seiner Anwesenheit in der Schweiz sowie die ihm und seiner Familie drohenden Nachteile wichtig. Die in
Art. 16 Abs. 3 ANAV
BGE 98 Ib 85 S. 91
erwähnten Richtlinien finden beim Widerruf einer Aufenthaltsbewilligung analoge Anwendung (
BGE 93 I 10
Erw. 4).
b) Der Beschwerdeführer wurde der Unzucht mit einem Kinde unter 16 Jahren im Sinne von
Art. 191 Ziff. 1 und 2 StGB
schuldig erklärt. Die Schwere der Verfehlung in objektiver Hinsicht ergibt sich aus der vom Strafgesetzbuch angedrohten Strafe von Zuchthaus oder Gefängnis nicht unter 6 Monaten wie auch aus der Art des verletzten Rechtsgutes. Der Beschwerdeführer hat ein 13-jähriges Mädchen zu beischlafsähnlichen und andern unzüchtigen Handlungen missbraucht und sich in nicht leicht zu nehmender Weise gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit vergangen.
In subjektiver Hinsicht ist zu seinem Verhalten festzustellen, dass er sich bewusst war, mit seinem Vorgehen die Rechtsordnung zu verletzen. Es kann ihm einzig zugute gehalten werden, dass er nach den Feststellungen des Strafgerichtes in der irrigen Vorstellung handelte, das 13-jährige Mädchen sei mindestens 16 Jahre alt. Er hat die Unzuchtshandlungen für das Kind überraschend, ohne von ihm in Versuchung geführt worden zu sein, begangen. Dass das Mädchen vorerst keinen Widerstand leistete und sich erst zur Wehr setzte, als der Beschwerdeführer zudringlicher wurde, vermag ihn nicht wesentlich zu entlasten.
Unter fremdenpolizeilichen Gesichtspunkten stellt dieses Verhalten des Beschwerdeführers als Ganzes eine schwerwiegende Verletzung der Rechtsordnung dar. Daran ändert nichts, dass das strafrechtlich relevante Verschulden vom Bezirksgericht Uster als leicht bezeichnet wurde (vgl. vorne Erw. 2 c). Zu berücksichtigen ist ferner, dass der Beschwerdeführer am 12. Dezember 1971 sein Auto ohne Führerausweis gelenkt hat und wegen Nichtbeherrschen des Fahrzeuges beim Überholen eines andern Personenwagens eine Kollision verursachte. Er ist deswegen mit Strafverfügung des Statthalteramtes Uster mit Fr. 120.-- gebüsst worden.
Schliesslich fällt für die Frage des Widerrufes der Aufenthaltsbewilligung ins Gewicht, dass der junge und ledige Beschwerdeführer sich erst seit Mitte 1969 in der Schweiz aufhält und für ihn die Rückkehr nach Italien keine besondere Härte bedeutet.
c) Bei der Würdigung der eben erwähnten Umstände ist die Vorinstanz zum Schluss gekommen, das Interesse der Schweiz
BGE 98 Ib 85 S. 92
von dem Beschwerdeführer als unerwünschtem Ausländer befreit zu werden, sei entscheidend. Mit ihrem Entscheid hält sie sich im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens und hat somit Bundesrecht nicht verletzt.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen.