Urteilskopf
98 IV 199
37. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 18. August 1972 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen X.
Regeste
Art. 191 StGB
.
Nachfolgende Eheschliessung zwischen Täter und Opfer bildet keinen Strafbefreiungsgrund.
A.-
X, geboren 1945, knüpfte im September 1970 ein Freundschaftsverhältnis mit der am 26. August 1955 geborenen Y. an. Die beiden verliebten sich ernsthaft. Als die Mutter des Mädchens anfangs Februar 1971 gegen diese Verbindung auftrat, flüchteten die jungen Leute zusammen nach Frankreich. Dort kam es in der Zeit vom 6. bis 9. Februar 1971 zwischen ihnen dreimal zum Geschlechtsverkehr. Nach der Rückkehr in die Schweiz unterhielten sie weiterhin intime Beziehungen. Am 11. oder 12. Februar hatten sie in Solothurn, am 22./23. Februar in Winterthur und während der Osterfeiertage 1971 im Tessin Geschlechtsverkehr. In der Zeit zwischen dem 14. und 19. Februar 1971 betastete X. das Mädchen anlässlich von gemeinsamen Übernachtungen in Solothurn, Zürich und Basel drei- bis viermal an den nackten Brüsten. Das Mädchen war mit allen beschriebenen Handlungen einverstanden.
Am 21. Oktober 1971 heiratete X. das Mädchen in London. Y. brachte am 19. Januar 1972 einen Knaben zur Welt.
B.-
Das Bezirksgericht Winterthur verurteilte X. am 5. November 1971 wegen wiederholter Unzucht mit einem Kind im Sinne von Art. 191 Ziff. 1 Abs. 1 und Ziff. 2 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 6 1/2 Monaten, teilweise als Zusatzstrafe zum Urteil des Bezirksgerichtes Zürich vom 23. Februar 1971.
Auf Berufung des Angeklagten sprach das Obergericht des Kantons Zürich diesen am 1. Februar 1972 von Schuld und Strafe frei. Von der Frage ausgehend, ob beim Tatbestand der Unzucht mit einem Kinde die nachfolgende Eheschliessung zwischen dem Täter und der Geschädigten ähnlich der in den Art. 196 Abs. 2 und 197 Abs. 2 StGB getroffenen Regelung einen Strafaufhebungsgrund bilde, kam das Obergericht zum Schluss, dass bei
Art. 191 StGB
hinsichtlich des "matrimonium subsequens" eine echte Lücke bestehe, die durch richterliche Rechtsanwendung auszufüllen sei. Der Tatbestand der Unzucht mit Kindern habe den Schutz der sexuellen Integrität des Kindes im Auge. Wenn dessen Liebesbeziehungen zum Täter aber in ein eheliches Verhältnis übergeführt würden, entfalle das Schutzbedürfnis der Geschädigten und der Strafanspruch des Staates habe zurückzutreten. Es liefe auf eine Zerstörung der Ehe hinaus, wollte man den Täter wegen vor der Ehe begangener Unzuchtshandlungen mit seiner nunmehrigen Ehefrau bestrafen. Ein derartiges Ergebnis könne der Gesetzgeber nicht gewollt haben. Aus diesen Gründen sei X. straflos zu erklären.
C.-
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht. Sie beantragt Aufhebung des obergerichtlichen Entscheides und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz, damit diese X. im Sinne von
Art. 191 Ziff. 1 und 2 StGB
schuldig spreche und bestrafe.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Art. 191 StGB
bedroht denjenigen mit Strafe, der ein Kind unter 16 Jahren zum Beischlaf oder zu einer ähnlichen Handlung missbraucht, oder der mit einem Kind unter 16 Jahren eine andere unzüchtige Handlung vornimmt. Dem Wortlaut dieser Bestimmung ist nichts zu entnehmen, was im Falle eines sogenannten "matrimonium subsequens" auf eine Strafloserklärung des Täters schliessen liesse. Der Umstand, dass das Gesetz in
Art 191 StGB
in dieser Hinsicht nichts sagt, bedeutet noch nicht, dass es insoweit eine Lücke aufweist, die vom Richter ausgefüllt werden darf. Hat der Gesetzgeber gewollt darauf verzichtet, bei
Art. 191 StGB
die nachfolgende Ehe zwischen Täter und Geschädigter als Strafbefreiungsgrund zu berücksichtigen, so liegt ein qualifiziertes Schweigen vor. Bieten jedoch das Gesetz und die Materialien keinen Anhaltspunkt dafür, dass eine negative Entscheidung in der betreffenden Frage
BGE 98 IV 199 S. 201
gewollt war, so ist auch damit noch nicht eine Lücke des Gesetzes dargetan. Eine solche ist nur anzunehmen, wenn vom Standpunkt des positiven Rechts aus eine Bestimmung unerlässlich erscheint (MEIER-HAYOZ, N 251 ff. zu
Art. 1 ZGB
,
BGE 92 II 182
).
Ob eine zwingende Notwendigkeit zur Aufnahme einer Bestimmung über die betreffende Rechtsfrage besteht und wie bei Annahme einer echten Lücke diese zu füllen sei, hat der Strafrichter nach anerkannten Auslegungsregeln zu prüfen. Im Strafrecht ist ergänzende Rechtsfindung allerdings im Gegensatz zum Privatrecht insofern unzulässig, als dadurch ohne gesetzliche Grundlage die Strafbarkeit begründet werden soll (GERMANN, Kommentar zum StGB, N 12 7 zu
Art. 1 StGB
).
2.
Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes erlaubt keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob eine negative Entscheidung gewollt war. In den Beratungen der Expertenkommission wurde seinerzeit wiederholt hervorgehoben, dass
Art. 191 StGB
dem im Schutzalter stehenden Kind einen umfassenden Schutz gegen sexuelle Angriffe verleihen solle (2. ExpK III S. 154 ff). Damit ist jedoch noch nicht erwiesen, dass der Gesetzgeber die Frage des "matrimonium subsequens" in diesem Zusammenhang geprüft und in negativem Sinne entschieden hat. Aus dem von der Staatsanwaltschaft angeführten Votum von ZÜRCHER, dass in solchen Fällen die nachfolgende Ehe nicht als Strafausschliessungsgrund angesehen werde, könnte zwar auf eine bewusste negative Entscheidung geschlossen werden. Immerhin ist auch dieses nicht schlüssig, da es sich beim erwähnten Votum um eine Erläuterung zum Vorentwurf des Strafgesetzbuches handelt. Ob der Gesetzgeber selbst sich in der Folge mit der betreffenden Frage tatsächlich beschäftigt hat und durch sein Schweigen die Strafbefreiung ausschliessen wollte, ist zweifelhaft.
3.
Erlauben daher die Materialien keinen entsprechenden Schluss, so ist nach Sinn und Zweck des Gesetzes zu prüfen, ob im Falle von
Art. 191 StGB
bei nachfolgender Ehe zwischen Täter und Geschädigter eine Strafbefreiung unerlässlich erscheint.
Im angefochtenen Entscheid wird ausgeführt, die vom Strafgesetzbuch bezweckte Verbrechensbekämpfung werde ins Gegenteil verkehrt. wenn die Anwendung des Gesetzes die Gefahr neuer Rechtsbrüche schaffe.
Art. 191 StGB
wolle die
BGE 98 IV 199 S. 202
geschlechtliche Integrität des Kindes schützen; gehe dieses eine Ehe mit dem Partner ein, mit dem es intime Beziehungen unterhalten habe, so müsse der Strafanspruch des Staates zurücktreten, da eine solche Ehe durch die Bestrafung des erwachsenen Partners verletzt würde.
Diese Auffassung vermag nicht zu überzeugen.
a) Die Strafe bezweckt in erster Linie eine Resozialisierung des Täters und damit einen Schutz der Gesellschaft vor künftigen deliktischen Handlungen. Dass der nach
Art. 191 StGB
beurteilte Täter nach der Straftat das Opfer heiratet, ist unter diesem Gesichtspunkt ohne Bedeutung.
b) Der
Art. 191 StGB
innewohnende, besondere Zweckgedanke besteht darin, Kinder vor verfrühten sexuellen Erlebnissen zu schützen. Das Gesetz geht davon aus, dass sexuelle Erlebnisse im Kindesalter, besonders zu Beginn der Pubertät, die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes ernsthaft schädigen können. Da Kinder deswegen geschützt werden sollten, weil ihnen die geistig-charakterliche Reife und die Kenntnisse der möglichen Gefahren abgehen, sodass sie das intensive sexuelle Erlebnis innerlich noch nicht sachgerecht verarbeiten können, wurde mit
Art. 191 StGB
eine besonders einschneidende Strafnorm geschaffen. Der Gegensatz in der Voraussetzung und in der Zielsetzung zwischen dieser Bestimmung einerseits und den
Art. 183, 196 und 197 StGB
anderseits ist offensichtlich. Diese drei Normen betreffen Straftaten gegenüber Personen, die an sich für geschlechtliche Erlebnisse reif erscheinen. Geschützt wird hier nicht die ungestörte Entwicklung eines Kindes, das von verfrühtem geschlechtlichen Kontakt ferngehalten werden soll, sondern die Willensfreiheit der Frau, insbesondere in ihrem Entschlusse darüber, ob und mit wem sie geschlechtliche Beziehungen aufnehmen will. Sie soll nicht gegen ihren freien Willen entführt (
Art. 183 StGB
) oder in Ausnützung jugendlicher Unerfahrenheit oder des Vertrauens (
Art. 196 StGB
) oder eines Abhängigkeitsverhältnisses (
Art. 197 StGB
) zur geschlechtlichen Hingabe veranlasst werden, die sie bei völlig freiem Willensentschluss nicht gewährt hätte. Es ist folgerichtig, dass in diesen Fällen die nach der Tat freiwillig vom Opfer mit dem Täter abgeschlossene Ehe als Heilung des früheren Angriffs auf den freien Willen gedeutet wird, begibt sich die Frau damit doch in eine Schicksals- und Geschlechtsgemeinschaft mit dem Täter. Da Schutzobjekt des
Art. 191
BGE 98 IV 199 S. 203
StGB
nicht die Willensfreiheit des Kindes ist, der Täter im Gegenteil selbst dann bestraft wird, wenn das Kind die treibende Kraft zur Begehung der Tat war, lässt sich jedenfalls nicht behaupten, eine Strafbefreiung erscheine hier ebenso unerlässlich für den Fall, dass sich der Wille des Opfers schliesslich auch noch im Eheschluss mit dem Täter äussert. Ob ein 15-jähriges Mädchen sich unter Umgehung schweizerischer Rechtsvorschriften im Ausland trauen lässt und nachher fortgesetzt mit dem erwachsenen Ehemann geschlechtlichen Umgang hat oder ob es dasselbe in einem festen Liebesverhältnis ohne Ehe tut, macht für die psychische und physische Entwicklung des Kindes, die durch
Art. 191 StGB
geschützt werden soll, keinen Unterschied. Aus derselben Überlegung hat das Bundesgericht in 86 IV 213 die Strafbarkeit des Geschlechtsverkehrs zwischen einem Ehemann und seiner 15 1/2-jährigen Ehefrau nicht etwa deshalb verneint, weil durch die Eheschliessung die Schutzaltersgrenze hinfällig oder der Zweckgedanke des
Art. 191 StGB
gegenstandslos geworden wäre, sondern weil damals angenommen wurde, Unzucht unter Eheleuten sei begrifflich ausgeschlossen.
c) Würde in Fällen wie dem vorliegenden im "matrimonium subsequens" ein Strafbefreiungsgrund erblickt, dann könnten künftige Täter versucht sein, das von ihnen missbrauchte Kind zu einer überstürzten Eheschliessung zu verleiten, um selber der Strafverfolgung zu entgehen. Solche Ehen sind unerwünscht, weil jedenfalls das noch im Entwicklungsalter stehende Kind durch die eingegangene Verbindung und eine allfällige Mutterschaft überfordert wird. Zudem stehen sie im Widerspruch zu dem vom schweizerischen Gesetzgeber geschaffenen Institut der Ehe, das eine innige Lebensgemeinschaft zweier verantwortungsbewusster Menschen im Auge hat.
d) Im angefochtenen Entscheid wird ausgeführt, der Gesetzgeber habe bei Schaffung von
Art. 191 StGB
die Strafbefreiung bei nachfolgender Ehe zwischen dem Täter und der Geschädigten deshalb nicht aufgenommen, weil er nicht an die Möglichkeit der Verheiratung eines noch nicht 16-jährigen Kindes gedacht habe. Diese Auffassung stellt eine blosse Vermutung dar und findet weder in den Materialien noch in Lehre und Rechtsprechung eine Stütze.
Wieso aber die Bestrafung des Beschwerdegegners die Gefahr neuer Rechtsbrüche schaffen soll, nachdem das von ihm geheiratete
BGE 98 IV 199 S. 204
Mädchen inzwischen die Schutzaltersgrenze überschritten hat, ist schlechterdings nicht einzusehen. Die Vorinstanz gibt denn auch keine Begründung für diese Behauptung.
Unbehelflich ist ferner das Argument des Obergerichts, dass sich eine nachträgliche Bestrafung von X. zum Nachteil der Ehefrau und des Kindes auswirke. Diese an sich unerwünschte Folge tritt mit jeder Verurteilung eines Familienvaters zu einer unbedingten Freiheitsstrafe ein. Die Vorinstanz verkennt, dass in
Art. 191 StGB
das Schutzobjekt und der staatliche Strafanspruch nicht davon abhängen, wie sich die Beziehungen zwischen dem Täter und der Geschädigten nach der Tat gestalten.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.