BGE 99 IA 19 vom 21. Januar 1973

Datum: 21. Januar 1973

BGE referenzen:  109 III 93, 129 III 385, 135 III 424, 136 III 51

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

99 Ia 19


3. Auszug aus dem Urteil vom 21. Januar 1973 i.S. X. AG gegen Y. und Appellationshof (III. Zivilkammer) des Kantons Bern

Regeste

Art. 265 Abs. 2 SchKG . Betreibung aufgrund eines Konkursverlustscheins; neues Vermögen.
Arbeitsverdienst als neues Vermögen im Sinne von Art. 265 Abs. 2 SchKG . Verhältnis zum betreibungsrechtlichen Notbedarf im Sinne von Art. 93 SchKG .

Erwägungen ab Seite 19

BGE 99 Ia 19 S. 19
Aus den Erwägungen:

3. a) Nach Art. 265 Abs. 2 SchKG kann aufgrund eines Konkursverlustscheins eine neue Betreibung nur angehoben werden, wenn der Schuldner zu neuem Vermögen gekommen ist. Nach dem Sinn dieser Vorschrift soll sich der Schuldner nach Durchführung des Konkurses eine neue Existenz aufbauen d.h. finanziell erholen können. Das ist erst der Fall, wenn er nach Schluss des Konkurses neue Aktiven erworben hat, denen keine neuen Passiven gegenüberstehen, weshalb unter dem "neuen Vermögen" nur das "Nettovermögen" zu verstehen ist (H. FRITZSCHE, Schuldbetreibung und Konkurs, 2. Aufl., Bd. II, S. 187; ZBJV 75/1939, S. 631/2). Dass Y. kein "Nettovermögen" im engern Sinn besitzt, ist unbestritten.
b) In der Praxis ist seit langem anerkannt, dass auch der Arbeitsverdienst neues Vermögen darstellen kann. Während früher angenommen wurde, dieser bilde erst dann neues Vermögen im Sinne des Art. 265 Abs. 2 SchKG , wenn er kapitalisiert und so zu eigentlichem Vermögen geworden sei, wird er heute allgemein schon insoweit zum neuen Vermögen gerechnet, als er das zur Führung eines standesgemässen Lebens Notwendige übersteigt und Ersparnisse zu machen erlauben würde ( BGE 79 I 115 mit Hinweisen auf Lehre und Rechtsprechung; SJZ 58/1962, S. 320; ZBJV 93/1957, S. 273). Verfügt der Schuldner über das betreibungsrechtliche Existenzminimum, so besitzt er somit noch nicht notwendigerweise neues Vermögen im Sinne von
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Art. 265 Abs. 2 SchKG ( BGE 53 III 27 ). Massgebend ist vielmehr, ob er standesgemäss leben, sich nach dem Konkurs eine neue Existanz aufbauen und zusätzlich Ersparnisse beiseite legen kann. Der Natur der Sache nach liegt der Entscheid darüber weitgehend im Ermessen des Richters.
c) Nach dem angefochtenen Urteil ist auf das Arbeitseinkommen abzustellen, das der Schuldner während Jahresfrist vor Anhebung der Betreibung erzielt hatte. Die Beschwerdeführerin erblickt darin Willkür. Sie macht geltend, diese Betrachtungsweise könne bewirken, dass unter Umständen Einkommensanteile als pfändbar erklärt würden, die allenfalls nicht einmal mehr für eine gewöhnliche Betreibungsforderung gepfändet werden könnten, wenn sich das Einkommen des Schuldners in der Zeit zwischen der Zustellung des Zahlungsbefehls und dem Urteil (bzw. der Pfändung) vermindert habe. Dieser Einwand ist indessen nicht geeignet, den angefochtenen Entscheid als unhaltbar erscheinen zu lassen. Welches Kapital (Reinvermögen) und welcher Teil des Arbeitsverdienstes neues Vermögen darstellen, hat zwar allein der Richter zu entscheiden, und nur in diesem Umfang ist eine gestützt auf einen Konkursverlustschein angehobene Betreibung zulässig ( BGE 79 I 116 ). Anderseits lässt sich sehr wohl die Ansicht vertreten, der Richter befinde nur darüber, welcher Lohnanteil unter dem Gesichtspunkt des Art. 265 Abs. 2 SchKG gepfändet werden könne, während es im Betreibungsverfahren Sache des Betreibungsbeamten sei, den Betrag gestützt auf Art. 93 SchKG niedriger anzusetzen, wenn wegen des inzwischen gesunkenen Einkommens in das Existenzminimum eingegriffen würde (vgl. BGE 65 III 25 : "all'infuori dei beni previsti degli art. 92 e 93 LEF"; H. FRITZSCHE, a.a.O. S. 188; ZR 46/1947, S. 58 ff.). Diese Lösung scheint sich aufzudrängen, weil es sonst, etwa im Falle eintretender Invalidität des Schuldners und damit verbundenen starken Einkommensrückgangs zur Pfändung des ganzen Lohnes kommen könnte, was dem Sinn des Gesetzes offenbar widersprechen würde. Der Entscheid des Richters über das Vorhandensein neuen Vermögens schliesst demnach die Anwendung der Art. 92 und 93 SchKG im Betreibungsverfahren nicht notwendigerweise aus. Deshalb geht auch der Einwand der Beschwerdeführerin fehl, dem Schuldner stünden keine Rechtsmittel zur Verfügung, wenn in der Betreibung in seinen Notbedarf eingegriffen würde. Er könnte sich wegen Verletzung von Art. 93 SchKG mit der betreibungsrechtlichen Beschwerde zur Wehr setzen.
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Im übrigen ist zu beachten, dass nach dem Wortlaut von Art. 265 Abs. 2 SchKG die Betreibung nur angehoben werden kann, wenn der Schuldner zu neuem Vermögen gelangt ist. Wenn in ausdehnender Auslegung dieser Vorschrift in bestimmtem Umfang auch der Arbeitsverdienst als "Vermögen" behandelt wird, so kann dies offenbar nur in dem Sinne geschehen, dass jener Teil des früheren Einkommens als "Vermögen" angesehen wird, den der Schuldner als Ersparnis hätte zurücklegen können. Das neue Vermögen muss mit andern Worten bei Anhebung der Betreibung bereits vorhanden sein (H. FRITZSCHE, a.a.O., S. 188). Konnte der Schuldner aus seinem Einkommen vor Anhebung der Betreibung Ersparnisse zurücklegen, so setzt der Richter den entsprechenden, als neues Vermögen in Betracht fallenden Betrag fest. Dieser kann - wie erwähnt - unter Vorbehalt der Art. 92 und 93 SchKG gepfändet werden. Diese Rechtsauffassung, die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegt, lässt sich mit sachlichen Gründen vertreten (vgl. ZBJV 108/1972, S. 321; ZR 46/1947, S. 58 ff.; 54/1955, S. 319). Wenn der Schuldner bei den finanziellen Verhältnissen (Einkommen und Auslagen), wie sie vor Anhebung der Betreibung bestanden, Ersparnisse hätte zurücklegen können, wird es so gehalten, wie wenn er tatsächlich zu neuem Vermögen gekommen wäre (SJZ 56/1960, S. 209 Nr. 194). Alsdann kann aufgrund des Konkursverlustscheines eine neue Betreibung angehoben werden. Wie erwähnt, kann in dieser freilich nur gepfändet werden, was der Richter als neues Vermögen bezeichnet hat, allenfalls nicht einmal das, wenn Art. 93 SchKG entgegensteht.
Die Rechtsprechung zu Art. 265 Abs. 2 SchKG kann allerdings nicht als gefestigt und klar bezeichnet werden. Es scheint, dass in der Praxis vielfach auf das Einkommen abgestellt wird, das der Schuldner im Zeitpunkt des richterlichen Entscheids über die Frage des neuen Vermögens erzielt ( BGE 53 III 27 : "laufendes Einkommen"; H. FRITZSCHE, a.a.O. S. 188, 2. Abs.; vgl. SJZ 58/1962, S. 320 f.). Das mag sich aus den praktischen Schwierigkeiten erklären, die sich ergeben können, wenn auf Einkommen und Auslagen einer zeitlich zurückliegenden Periode abgestellt wird. Wie ausgeführt, lässt sich indessen mit guten Gründen annehmen, nur mit früherem, nicht mit dem laufenden Einkommen habe der Schuldner neues Vermögen bilden können, so dass es folgerichtig sei, auf jenes abzustellen.

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