Urteilskopf
99 Ia 97
12. Urteil vom 7. Februar 1973 i.S. Tanner gegen Oberauditor der Armee und Eidgenössisches Militärdepartement.
Regeste
Kompetenzkonflikt nach
Art. 223 MStG
. Gebrauch von Betäubungsmitteln.
Nicht eine Dienstvorschrift, sondern das Gesetz (
Art. 218, 219 MStG
) bestimmt die Kompetenzausscheidung.
A.-
Gegen Robert Tanner führen sowohl das Divisionsgericht 6 wie die Bezirksanwaltschaft Zürich Strafuntersuchung wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. Das bürgerliche Verfahren bezieht sich auf sein Verhalten im Zivilleben und im Militärdienst, das militärgerichtliche Verfahren nur auf letzteres.
B.-
Tanner führt Kompetenzkonfliktsbeschwerde gemäss
Art. 223 MStG
. Er beantragt, die bürgerlichen Behörden ausschliesslich zuständig zu erklären und die militärgerichtliche Untersuchung aufzuheben. Ferner sei ihm selbst für die erstandene Untersuchungshaft und dem Verteidiger für seine Bemühungen eine angemessene Entschädigung zuzusprechen.
C.-
Der Oberauditor beantragt Abweisung der Beschwerde.
D.-
Tanner hat unaufgefordert auf die Beschwerdeantwort repliziert.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Da dem Beschwerdeführer mit der Beschwerdeantwort
BGE 99 Ia 97 S. 98
die Entscheidungsgründe erstmals bekanntgegeben wurden, kann auf seine Replik in analoger Anwendung von
Art. 93 Abs. 2 OG
eingetreten werden, ohne dass es aber einer neuen Anhörung der Beschwerdegegner bedürfte (vgl.
Art. 93 Abs. 3 OG
).
2.
Anstände über die Zuständigkeit der militärischen und der bürgerlichen Gerichtsbarkeit werden nach
Art. 223 Abs. 1 MStG
vom Bundesgericht endgültig entschieden. Im Falle des Beschwerdeführers liegt ein positiver Kompetenzkonflikt vor, da er hinsichtlich der in der Rekrutenschule begangenen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz sowohl von den militärischen wie von den bürgerlichen Strafuntersuchungsbehörden verfolgt wird. Der Beschwerdeführer ist legitimiert, in diesem Konflikt das Bundesgericht anzurufen (
BGE 80 I 256
). Seine Beschwerde, die sich gegen die militärische Strafverfolgung richtet, ist rechtzeitig erhoben worden, denn diese steht erst im Stadium der Voruntersuchung (
BGE 97 I 147
).
3.
Ist die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit für die Widerhandlungen des Beschwerdeführers in der Rekrutenschule zu bejahen, so kann der Bundesrat (bzw. der Oberauditor,
Art. 17 bis lit. k MStV
) nach
Art. 221 MStG
die ausschliessliche Beurteilung aller Handlungen dem militärischen oder dem bürgerlichen Gericht übertragen. Auf diesen Entscheid hat das Bundesgericht keinen Einfluss (
BGE 61 I 130
). Der Oberauditor nimmt die Übertragung auf den bürgerlichen Richter in Aussicht. Am Vorliegen eines Kompetenzkonflikts ändert das nichts, da auch das Verfahren nach
Art. 221 MStG
die Bejahung einer militärgerichtlichen Zuständigkeit voraussetzt.
4.
Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer, als er in der Rekrutenschule anerkanntermassen Drogen konsumierte, in persönlicher Hinsicht nach
Art. 2 Ziff. 1 MStG
dem Militärstrafrecht unterstand. Da dieses jedoch in sachlicher Hinsicht keine abschliessende Regelung enthält, blieb er nach
Art. 7 MStG
für strafbare Handlungen, die im Militärstrafrecht nicht vorgesehen sind, dem bürgerlichen Strafrecht unterworfen. In gleicher Weise regeln die Art. 218 Abs. 1 und 219 Abs. 1 MStG, unter Vorbehalt von Verstössen gegen das Strassenverkehrsgesetz, die gerichtliche Zuständigkeit, indem Personen der Militärgerichtsbarkeit unterliegen, soweit sie dem Militärstrafrecht unterworfen sind, hingegen der bürgerlichen Strafgerichtsbarkeit
BGE 99 Ia 97 S. 99
unterstehen für Handlungen, die im Militärstrafrecht nicht vorgesehen sind.
Aus dieser gesetzlichen Ordnung ergibt sich, dass das Militärstrafrecht in seinem Anwendungsbereich Sonderrecht ist und dem bürgerlichen Strafrecht vorgeht (
BGE 57 I 215
). Daraus folgt aber auch, dass im Zweifel nicht das Sonderrecht, sondern das allgemeine bürgerliche Strafrecht anzuwenden ist (COMTESSE, Kommentar zu
Art. 2 MStG
N. 7; HAFTER, Allg. Teil S. 66; SCHWANDER, Strafrecht S. 43). Entsprechend kommt in Zweifelsfällen der bürgerlichen Strafgerichtsbarkeit der Vorrang vor der Militärgerichtsbarkeit zu (
BGE 61 I 127
,
BGE 71 I 32
).
5.
Das Militärstrafgesetz enthält keine Bestimmungen über Besitz und Genuss von Betäubungsmitteln. Daraus würde folgen, dass derartige Tatbestände ausschliesslich nach bürgerlichem Strafrecht, namentlich nach Art. 19 Betäubungsmittelgesetz (BetMG) zu beurteilen sind und ausschliesslich der bürgerlichen Gerichtsbarkeit unterstehen. Der Oberauditor beruft sich demgegenüber auf eine Dienstvorschrift des Ausbildungschefs der Armee vom 1. Januar 1972, aufgrund welcher derartige Widerhandlungen als Nichtbefolgung von Dienstvorschriften gemäss
Art. 72 MStG
durch die Militärgerichte zu verfolgen seien. Der Beschwerdeführer wendet ein, auf diesem Wege dürfe die gesetzliche Ausscheidung zwischen bürgerlicher und militärischer Gerichtsbarkeit nicht verschoben werden.
a)
Art. 72 MStG
ist eine Blankettnorm, die es zulässt, dass während der Geltungsdauer des Gesetzes durch Erlass von Dienstvorschriften neue Straftatbestände im Sinne dieser Bestimmung geschaffen werden, die der Militärgerichtsbarkeit unterliegen. Unter dem Gesichtswinkel der Kompetenzausscheidung ergeben sich daraus dann Probleme, wenn sich die Dienstvorschrift gegen ein Verhalten richtet, das bereits nach bürgerlichem Strafrecht zu verfolgen ist.
Art. 7 und 219 Abs. 1 MStG
legen die Anwendung des bürgerlichen Strafrechts und die Zuständigkeit der bürgerlichen Strafgerichtsbarkeit fest für strafbare Handlungen, "die in diesem Gesetz nicht vorgesehen sind". Der Gesetzeswortlaut spricht dafür, dass das Gesetz selbst und nicht eine Dienstvorschrift die Kompetenzausscheidung bestimmt. Eine gegenteilige ausdehnende Auslegung liesse sich schwerlich mit dem Grundsatz vereinbaren, in Zweifelsfällen dem bürgerlichen Recht und der
BGE 99 Ia 97 S. 100
bürgerlichen Gerichtsbarkeit den Vorrang einzuräumen. Dienstvorschriften können zudem nicht nur vom Bundesrat oder dem Eidg. Militärdepartement, sondern auch von untergeordneten Dienst- und Kommandostellen erlassen werden (Botschaft BBl 1918 V 368; COMTESSE zu
Art. 72 MStG
N. 2). Es wäre eine kaum verständliche Systemwidrigkeit, wenn dadurch die schwerwiegenden Entscheide über die Anwendung des einen oder andern Strafrechts und die Zuständigkeit der einen oder andern Gerichtsbarkeit bestimmt werden könnten.
Zu dieser Überlegung, die für Dienstvorschriften schlechthin gilt, treten die Besonderheiten des vorliegenden Erlasses.
b) Bei der Blankettnorm des
Art. 72 MStG
handelt es sich um einen allgemeinen Ungehorsamstatbestand ähnlich
Art. 292 StGB
(Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen). Bei der Anwendung dieser Bestimmung steht nach der neuesten Rechtsprechung des Kassationshofes (
BGE 98 IV 108
) dem Strafrichter Verwaltungsverfügungen gegenüber jedenfalls dann freie Prüfung zu, wenn gegen sie nicht die Beschwerde an ein Verwaltungsgericht möglich ist. Diese Rechtsprechung ist hinsichtlich
Art. 72 MStG
umsomehr heranzuziehen, als dem Bundesgericht bei Kompetenzkonflikten in tatsächlicher wie rechtlicher Beziehung freie Kognition zusteht, soweit es für seinen Entscheid von Bedeutung ist (
BGE 97 I 147
, 98 I a 222). Daraus ergibt sich freie richterliche Überprüfung der Dienstvorschrift, deren Nichtbefolgung zur Beurteilung steht.
Da es sich bei
Art. 72 MStG
wie bei
Art. 292 StGB
um einen allgemeinen Straftatbestand gegen administrativen Ungehorsam handelt, kommt der Bestimmung nur subsidiäre Bedeutung zu für Fälle, wo das den Ungehorsam begründende Verhalten nicht bereits vom Gesetz unter Strafe gestellt wird (
BGE 90 IV 207
).
c) Weder im Begleitzirkular des Ausbildungschefs noch vor Bundesgericht ist geltend gemacht worden, dass die umstrittene Dienstvorschrift inhaltlich von den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes abweiche. Soweit die Dienstvorschrift den Besitz von Betäubungsmitteln untersagt, liegt die Übereinstimmung mit
Art. 19 Ziff. 1 Abs. 2 BetMG
auf der Hand. Dass sie überdies den Genuss von Betäubungsmitteln verbietet, geht dem Wortlaut nach über die genannte Bestimmung hinaus. Diese bedroht aber das Besitzen, Aufbewahren und Erlangen
BGE 99 Ia 97 S. 101
von Betäubungsmitteln derart umfassend, dass wohl kein Betäubungsmittelgenuss denkbar ist, der nicht zugleich eine dieser Begehungsformen erfüllte (
BGE 95 IV 182
). Indem die Dienstvorschrift auch den Genuss von Betäubungsmitteln untersagt, hält sie sich jedenfalls nach ihrer praktischen Bedeutung im Rahmen von
Art. 19 Ziff. 1 Abs. 2 BetMG
. Sie untersagt daher ein Verhalten, das nach dieser Bestimmung bereits mit Strafe bedroht ist. Jedenfalls gilt dies für den Besitz und Genuss von Haschisch, welcher dem Beschwerdeführer im militärgerichtlichen Verfahren allein zum Vorwurf gemacht wird. Wie es sich mit Stoffen verhält, die unter
Art. 19 Ziff. 1 Abs. 6 BetMG
fallen (z.B. LSD), braucht daher nicht entschieden zu werden.
d) Der Beschwerdeführer behauptet, der einzige mit dem Erlass der Dienstvorschrift verfolgte Zweck sei der, für Betäubungsmittelvergehen die militärgerichtliche Zuständigkeit zu begründen, und er kann sich dafür auf die Ausführungen des Ausbildungschefs der Armee im Begleitzirkular berufen. Dieses Zirkular wies jedoch auch darauf hin, dass der Drogengebrauch den Dienstbetrieb beeinträchtige und geeignet sei, die Disziplin der Truppe in Frage zu stellen. Im gleichen Sinn macht der Oberauditor geltend, die Dienstvorschrift wolle anders als das Betäubungsmittelgesetz diese Disziplin und nicht die Gesundheit des Volkes schützen. Das ändert indessen nichts daran, dass diese Widerhandlungen durch das bürgerliche Recht bereits unter Strafe gestellt sind, und zwar mit weit schwererer Androhung als derjenigen von
Art. 72 MStG
. Praktische Bedeutung kommt daher der Dienstvorschrift nur in dem Sinne zu, dass damit die Militärgerichtsbarkeit begründet werden sollte. Der Gesetzgeber hat indessen selbst darüber befunden, welche bürgerlichen Straftatbestände er wegen ihrer Bedeutung für den Dienstbetrieb als Vergehen des Militärstrafrechts übernehmen und damit der Militärgerichtsbarkeit unterstellen wollte. Dazu zählt wie gesagt der Gebrauch von Drogen nicht.
e) Dass der Umweg über den Erlass einer Dienstvorschrift und die Anwendung von
Art. 72 MStG
nicht geeignet ist, die Zuständigkeit der Militärgerichte zur Beurteilung von bereits nach bürgerlichem Recht strafbaren Handlungen zu begründen, zeigt auch die Entwicklung in der Behandlung der Verstösse von Militärpersonen gegen Strassenverkehrsregeln. Die Vorschriften über den Motorwagendienst erklärten vorerst die
BGE 99 Ia 97 S. 102
bürgerlichen Verkehrsregeln für Wehrmänner zu Dienstvorschriften nach
Art. 72 MStG
. Bedenken gegen diese Ausweitung von
Art. 72 MStG
führten später zu einer Änderung der Vorschriften in dem Sinne, dass die zivilen Verkehrsregeln nicht mehr zu Dienstvorschriften erklärt wurden, sondern nur ihre Geltung im Dienst vorgeschrieben wurde (dazu und zum folgenden HAEFLIGER, ZStR 81 S. 257; Botschaft BBl 1967 I 592). Damit wurden die Geltung des bürgerlichen Rechts und die bürgerliche Gerichtsbarkeit für Widerhandlungen von Militärpersonen im Strassenverkehr grundsätzlich anerkannt. Da sich aber daraus häufig Konkurrenzfälle mit eigentlichen militärischen Vergehen und daher Verfahren nach
Art. 221 MStG
ergaben und zudem jeweils die Ermächtigung nach
Art. 219 Abs. 2 MStG
einzuholen war, erwies sich diese Regelung als zu umständlich, was 1967 dazu führte, dass durch den neuen
Art. 218 Abs. 3 MStG
die Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz im Dienst der Militärgerichtsbarkeit unterstellt wurden.
Wie es Sache des Gesetzgebers war, der durch die starke Motorisierung der Armee geschaffenen neuen Lage durch Gesetzesänderung Rechnung zu tragen, muss es ihm auch überlassen werden, die Zuständigkeit hinsichtlich der Betäubungsmittelvergehen neu zu regeln, falls daran ein militärisches Interesse besteht.
6.
Die Auslegung des Militärstrafgesetzes und die Überprüfung der strittigen Dienstvorschrift führen somit zum Schlusse, dass mit ihr die Verfehlungen des Beschwerdeführers nicht zu militärischen Vergehen wurden, welche die militärgerichtliche Zuständigkeit zu begründen vermöchten.
Damit erweist sich die Beschwerde in ihrem Hauptantrag als begründet. Das militärische Untersuchungsverfahren ist daher nach
Art. 223 Abs. 2 MStG
aufzuheben und es sind die bürgerlichen Strafgerichte auch für die Beurteilung der Widerhandlungen in der Rekrutenschule ausschliesslich zuständig zu erklären. Vorbehalten bleibt die vom bürgerlichen Gericht einzuholende Ermächtigung durch die Eidg. Militärverwaltung nach
Art. 219 Abs. 2 MStG
in Verbindung mit
Art. 17 lit. d MStV
.
7.
Mit der Beschwerde wird überdies beantragt, es sei dem Beschwerdeführer für die vom unzuständigen militärischen
BGE 99 Ia 97 S. 103
Untersuchungsrichter angeordnete Untersuchungshaft eine Entschädigung zuzusprechen bzw. es seien die Militärbehörden in diesem Sinne anzuweisen. Im Kompetenzkonfliktsverfahren ist indessen für eine solche Anordnung kein Raum. Es braucht auch nicht entschieden zu werden, ob nach der Aufhebung der militärischen Untersuchung die Militärbehörden gemäss Art. 122ter MStGO noch über ein solches Begehren zu entscheiden hätten. Dazu bestände im vornherein nur Anlass, wenn, wie der Beschwerdeführer meint, eine Anrechnung der militärischen Untersuchungshaft durch den nunmehr zuständigen bürgerlichen Richter ausgeschlossen wäre, doch geht diese Ansicht fehl. Wird im Kompenzkonfliktsverfahren ein bereits ergangenes Urteil aufgehoben, so wird nach
Art. 223 Abs. 3 MStG
die bereits vollzogene Strafe auf eine nach dem neuen Urteil zu erstehende Strafe angerechnet. Diese Bestimmung gilt freilich nach dem Wortlaut nicht für die Anrechnung der Untersuchungshaft. Diese ist jedoch übereinstimmend von
Art. 69 StGB
wie
Art. 50 MStG
vorgesehen. Soweit die Voraussetzungen dieser Bestimmungen gegeben sind, wäre es unbillig, dem Verurteilten die Anrechnung im einen Verfahren zu versagen, nur weil die Untersuchungshaft im andern Verfahren angeordnet wurde; ebenso unangemessen wäre es aber, ihn nur deshalb für eine Untersuchungshaft, die nicht angerechnet werden kann, zu entschädigen, weil diese im andern Verfahren angeordnet worden ist. Der Beschwerdeführer wird sich nach dem Ausgang des Kompetenzkonflikts vor dem bürgerlichen Richter auch für jene Verfehlungen verantworten müssen, die er in der Rekrutenschule begangen hat und die zur militärischen Untersuchungshaft führten. Diese kann deshalb auf die auszufällende Strafe angerechnet werden (SCHWANDER, Strafgesetzbuch S. 236; vgl.
BGE 97 IV 160
betreffend Anrechnung der Auslieferungshaft). Ob auch im übrigen die Voraussetzungen von
Art. 69 StGB
erfüllt sind, wird das urteilende Gericht zu entscheiden haben.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, und das militärische Untersuchungsverfahren aufgehoben; die bürgerlichen Strafgerichte werden zur Verfolgung auch der
BGE 99 Ia 97 S. 104
dem Beschwerdeführer für die Zeit der Rekrutenschule zur Last gelegten Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz als ausschliesslich zuständig erklärt.