Urteilskopf
102 Ib 314
52. Urteil vom 15. Oktober 1976 i.S. Schmidt gegen Schweizerische Bundesbahnen
Regeste
Zulässigkeit der verwaltungsrechtlichen Klage.
Die Beziehungen zwischen dem Mieter eines in einem Bahnhof installierten Schliessfaches und den SBB sind privatrechtlicher Natur; Haftungsansprüche sind vor den Zivilgerichten und nicht mit verwaltungsrechtlicher Klage beim Bundesgericht geltend zu machen.
Im März 1975 liquidierte Karl Schmidt seinen Trödlerladen an der Pfeffingerstrasse in Basel. Dabei beschäftigte er als Hilfskraft René Schmidli, den er kurz zuvor kennengelernt hatte. Während der Woche hatte Schmidt die Geschäftseinnahmen jeweils in seiner Wohnung aufbewahrt; am Samstag, 8. März 1975 jedoch versorgte er den Liquidationserlös von Fr. 16'000.-- bis 16'500.-- nach Ladenschluss in einer Diplomatentasche und deponierte diese auf Anraten Schmidlis und mit dessen Hilfe in einem Schliessfach im SBB-Bahnhof Basel. Als Schmidt am folgenden Tag um 14.15 Uhr das Schliessfach öffnete, stellte er fest, dass der Aktenkoffer verschwunden war. Schmidli hatte ihn am gleichen Morgen um 7 Uhr vom diensttuenden Bahnbeamten Küng herausverlangt. Unter Vorweisung seines Reisepasses hatte er erklärt, er habe den Schlüssel zum Schliessfach verloren, doch habe er die Nummer des Faches notiert. Vom Beamten dazu aufgefordert, gab Schmidli eine Beschreibung des Aktenkoffers und seines
BGE 102 Ib 314 S. 315
Inhaltes, ferner teilte er Küng seine Adresse mit. Der Beamte stellte daraufhin eine "Empfangsbescheinigung und Schadloserklärung" aus, d.h. eine Verpflichtung zur Schadloshaltung der SBB, wenn Dritte aufgrund der Herausgabe des Schliessfachinhaltes die Bahnverwaltung haftbar machen wollten, liess sie von Schmidli unterzeichnen und stellte fest, dass die Unterschriften auf der Schadloserklärung und auf dem Reisepass identisch waren. Schmidli gab an, der Aktenkoffer enthalte einen Geldbetrag von Fr. 2'000.--. Als der Beamte diese Angabe überprüfen wollte, erklärte Schmidli, den Schlüssel zuhause vergessen zu haben. Da der Beamte zögerte, den Koffer ungeöffnet herauszugeben, offerierte Schmidli, seinen Pass zu deponieren; überdies seien ja alle Angaben auf dem "Revers" festgehalten. Da Schmidli Küng vertrauenswürdig schien, gab er ihm den Koffer schliesslich heraus, ohne den Pass zurückzubehalten, dessen Nummer er sich notiert hatte.
Der vorbestrafte Schmidli wurde in der Folge wegen dieses Betruges und anderer Delikte zu einer unbedingten Zuchthausstrafe von zwölf Monaten verurteilt; der Geldbetrag konnte nicht mehr beigebracht werden.
Karl Schmidt hat beim Bundesgericht verwaltungsrechtliche Klage eingereicht mit dem Begehren, die Schweizerischen Bundesbahnen seien zu verurteilen, ihm Fr. 16'500.-- nebst Zins zu 5% seit dem 12. März 1975 als Schadenersatz zu bezahlen.
Die SBB beantragen, die Klage sei abzuweisen resp. es sei auf die Klage mangels Zuständigkeit nicht einzutreten. Eventuell sei die Klage nur in der Höhe von Fr. 1'000.-- zuzusprechen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
a) Die SBB sind keine juristische Person, sondern eine unselbständige Anstalt des Bundes. Sie sind jedoch innerhalb der Schranken der Bundesgesetzgebung verwaltungsmässig unabhängig; insbesondere besitzen sie die Prozessfähigkeit und sind demnach in dieser Sache passivlegitimiert (Art. 1 und 5 des Bundesgesetzes über die Schweizerischen Bundesbahnen vom 23. Juni 1944;
BGE 91 I 228
).
b) Der Kläger ist der Auffassung, die SBB hafteten nach
Art. 3 VG
für den ihm entstandenen Schaden, da ihm der
BGE 102 Ib 314 S. 316
Bahnbeamte Küng in Ausübung seiner amtlichen Tätigkeit widerrechtlich einen Schaden zugefügt habe. Die SBB widersetzen sich dieser Auffassung. Ihres Erachtens sind die Beziehungen zwischen dem Schliessfachbenützer und den SBB privatrechtlicher Natur, und der Bahnbeamte habe als Hilfsperson im Sinne des Zivilrechts gehandelt.
Trifft die Auffassung der SBB zu, so ist bezüglich ihrer Haftung das Verantwortlichkeitsgesetz nicht anwendbar, und die Ansprüche des Klägers sind durch die Zivilgerichte zu beurteilen. Die Zuständigkeitsvorschrift von Art. 41 lit. c zweiter Satz OG ist nicht anwendbar, einerseits da der Streitwert die geforderten Fr. 20'000.-- nicht erreicht, und anderseits da die Beklagte die Zuständigkeit des Bundesgerichtes nicht anerkennt.
Demnach ist vorfrageweise zu prüfen, ob die Beziehungen zwischen dem Schliessfachbenützer und den SBB privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Natur sind.
2.
Gleich wie andere öffentliche Anstalten des Bundes unterstehen auch die SBB teils dem öffentlichen, teils dem privaten Recht. Massnahmen auf dem Gebiete der Bahnpolizei beispielsweise sind öffentlich-rechtlicher Natur, während die Abgabe eines Bahnbillets einen Akt des Privatrechts darstellt, wie überhaupt die Personen-, Gepäck- und Güterbeförderung per Bahn in der Schweiz als privatrechtliche Tätigkeit angesehen wird; sie erfolgt aufgrund bahnrechtlicher Frachtverträge. Dementsprechend stützen sich das Bundesgesetz über den Transport auf Eisenbahnen und Schiffen vom 11. März 1948 (TG) und das Transportreglement (TR) auf
Art. 64 BV
(
BGE 87 II 117
; Kommentar GAUTSCHI, N 3c zu
Art. 455 OR
).
Art. 31 TG
verweist hinsichtlich der Haftungsbeschränkung für befördertes Reisegepäck auf das Transportreglement. Die blosse Aufbewahrung von Handgepäck hinter dem Handgepäckschalter stellt allerdings keine Beförderung dar, ebenso nicht das Zurverfügungstellen eines Schliessfaches; aber auch bei diesen Diensten handelt es sich um privatrechtliche, kommerzielle Tätigkeiten (Kommentar GAUTSCHI, N. 9a zu
Art. 472 OR
). Die SBB treten den Personen, die die Handgepäckaufbewahrung oder ein Schliessfach benutzen, nicht hoheitlich gegenüber, sondern als Vertragspartner im Rahmen eines Rechtsverhältnisses mit Leistung und Gegenleistung. Gleichgültig, ob Handgepäck am Schalter gegen einen
BGE 102 Ib 314 S. 317
Gepäckschein abgegeben wird, oder ob es in einem Schliessfach deponiert wird, in beiden Fällen kommt ein privatrechtlicher Vertrag oder allenfalls eine vertragsähnliche privatrechtliche Beziehung zustande (Kommentar JÄGGI, N 131 und 560 f. zu
Art. 1 OR
). Trifft dies aber zu, so handeln die dabei mitwirkenden Bahnbeamten als privatrechtliche Hilfspersonen der SBB und damit nicht in hoheitlicher Funktion, und entsprechend haften die SBB nach Privatrecht. Das Verantwortlichkeitsgesetz ist nur insofern bedeutsam, als der Geschädigte sich ausschliesslich an die SBB halten muss und nicht den Beamten persönlich belangen darf, auch wenn diesem an sich ein widerrechtliches Verhalten vorgeworfen werden kann (
Art. 11 Abs. 2 VG
; ferner FAVRE/WICK, Das schweizerische Transportrecht für Eisenbahnen und Schiffe, N 7 zu Art. 64 TR).
3.
Die Einwände, die der Kläger gegenüber dieser Betrachtungsweise erhebt, sind nicht stichhaltig.
a) Der Kläger weist in erster Linie darauf hin, dass die "Benutzungsgebühr" hoheitlich durch einen Tarif festgelegt sei. Werde aber die Gebühr nach Grundsätzen des öffentlichen Rechts festgesetzt, so müsse die Verantwortung des Bundes und seiner Beamten für Fehlhandlungen bei solchen Rechtsgeschäften ebenfalls nach öffentlichem Recht beurteilt werden.
Indessen können Tarife sowohl für den hoheitlichen als auch für den privatrechtlichen Tätigkeitsbereich der Verwaltung aufgestellt werden. Der "Tarif" der ETHZ, der bestimmt, zu welchem Preis in der Mensa Mahlzeiten abgegeben werden, betrifft ganz eindeutig eine privatrechtliche Tätigkeit der Verwaltung (
BGE 100 Ib 329
). In ähnlicher Weise schliesst der Umstand, dass Eisenbahntarife hoheitlich festgelegt werden, nicht aus, dass die Beziehungen zwischen Bahn und Benützer, mit Einschluss der Haftung nach EHG, nach unbestrittener Auffassung dem Privatrecht unterstehen. Dies muss, wie erwähnt, auch für die kommerziellen Nebengeschäfte der SBB gelten.
b) Der Kläger glaubt,
Art. 11 VG
komme nur dort zur Anwendung, wo die Beamten rein zivilrechtlich tätig seien, und dies treffe hinsichtlich der hier zu beurteilenden Amtshandlung des Bahnbeamten Küng nicht zu. Wenn die SBB einerseits ihre zivilrechtliche Haftung wegbedingten, und
BGE 102 Ib 314 S. 318
anderseits ihren Beamten mit der Funktion betrauten, bei Schlüsselverlust mit einem Nachschlüssel das Schliessfach zu öffnen, übertrügen sie dem Beamten eine polizeiliche Funktion, und die fehlerhafte Ausübung dieser Funktion beurteile sich deshalb nach dem Verantwortlichkeitsgesetz. Deshalb müsse die SBB für die Handlung des Bahnbeamten Küng gleich wie für andere fehlerhafte bahnpolizeiliche Akte ihres Personals einstehen.
Die SBB selbst qualifizieren die Beziehungen zum Schliessfachinhaber als Mietvertrag, nicht etwa als Hinterlegungsvertrag, da sie den Gegenstand, der im Schliessfach aufbewahrt wird, nicht kennen. Dem ist zuzustimmen (
BGE 95 II 544
; Kommentar OSER/SCHÖNENBERGER, N 13 zu Art. 253; Kommentar GAUTSCHI, Vorbemerkungen zum Hinterlegungsvertrag, N 3c (2), N 9a zu
Art. 472 OR
). Normalerweise haftet der Vermieter nicht für Sachen, die dem Mieter aus der gemieteten Sache weggenommen werden; eine Freizeichnung wäre diesbezüglich nicht erforderlich. Die Besonderheit liegt jedoch im Umstand, dass die SBB zu jedem Schliessfach einen zweiten Schlüssel besitzen und insofern Mitgewahrsam an den eingeschlossenen Gepäckstücken erhalten. Durch die Herausgabe des Schliessfachinhaltes an einen unbefugten Dritten wird an sich durchaus eine adäquate Ursache für den Schaden gesetzt, und die Frage ist berechtigt, wieweit sich die SBB von einer Mitverursachung des Schadens freizeichnen können.
Der Schliessfachinhaber wird im allgemeinen vermuten, die SBB besässen einen Reserveschlüssel, damit das Fach bei Verlust seines Schlüssels geöffnet werden könne. Diese Möglichkeit wird allerdings dem Schliessfachmieter nicht bekanntgegeben. Die Vermutung des Klägers, höchstens die Polizei könne das Schliessfach öffnen, ist deshalb nicht ohne weiteres haltlos, ebenso nicht seine Auffassung, das Öffnen des Faches mit dem zweiten Schlüssel komme einem öffentlich-rechtlichen Eindringen in den von ihm gemieteten Raum gleich.
Das Argument dringt trotzdem nicht durch. Richtig ist, dass einem Teil der Bahnbeamten polizeiliche Befugnisse zugewiesen sind, und nach Art. 12 Abs. 2 des Bundesgesetzes betreffend Handhabung der Bahnpolizei vom 18. Februar 1878 stehen die betreffenden Beamten innerhalb des polizeilichen Geschäftskreises den Angehörigen der kantonalen Polizeikorps gleich. Die von den Bahngesellschaften mit derartigen
BGE 102 Ib 314 S. 319
Aufgaben betrauten Beamten und Angestellten haben insbesondere einzugreifen, wenn sich Personen auf Bahnhöfen oder in Zügen ein polizeiwidriges Verhalten zuschulden kommen lassen. Ermöglicht jedoch ein Bahnbeamter mit dem zweiten Schlüssel einem Schliessfachmieter, sein Gepäck trotz Verlust des Schlüssels zu behändigen, dann übt er keine polizeiliche Tätigkeit aus. Vielmehr leistet er dem Schliessfachinhaber einen Dienst, mit dem dieser im Rahmen des privatrechtlichen Vertragsverhältnisses rechnet. Der Schliessfachbenützer kann deshalb lediglich nach privatrechtlichen Grundsätzen fordern, dass die Beamten und Angestellten der Bahngesellschaften den Nachschlüssel vertragskonform verwenden. Dazu gehört insbesondere eine gewisse Prüfungspflicht gegenüber demjenigen, der sich als rechtmässiger Eigentümer des Schliessfachinhaltes ausgibt. Ob der Bahnbeamte Küng seiner Prüfungspflicht genügt hat, ist nach dem Gesagten vom Zivilrichter zu beurteilen.
c) Schliesslich hält der Kläger die öffentlich-rechtliche Haftung für gegeben, weil die SBB die zivilrechtliche Haftung wegbedungen hätten; es könne nicht der Sinn von
Art. 11 Abs. 2 VG
sein, dem Geschädigten den Zugriff auf den schuldigen Beamten zu verwehren, wenn nicht gleichzeitig der Bund die eventuelle Haftung übernehme.
Diese Auffassung trifft nicht zu. Nach dem klaren Wortlaut von
Art. 11 VG
steht dem Geschädigten auch dann kein Anspruch gegen den fehlbaren Beamten zu, wenn der Bund als Subjekt des Zivilrechts auftritt. In diesen Fällen haftet der Bund nach dessen Bestimmungen, d.h. er haftet nach Zivilrecht, soweit ihn nach dessen Normen eine Haftung trifft. Muss der Bund nach
Art. 101 OR
für seine Hilfspersonen nicht einstehen, so rechtfertigt sich auch die Haftungsbefreiung der Beamten und Angestellten.
Die öffentlich-rechtliche und die privatrechtliche Haftungsordnung stehen unabhängig nebeneinander. Deshalb ist ausschliesslich der Zivilrichter zuständig, zu prüfen, ob und wie Sich die Haftung der SBB unter Berücksichtigung eines allfälligen Verschuldens des Beamten und eines Mitverschuldens des Klägers beurteilt, wie weit die Haftung durch eine Freizeichnungsklausel rechtsgültig wegbedungen werden konnte, und ob gegebenenfalls die Haftung der SBB - gleich wie bei der Handgepäckaufbewahrung - auf Fr. 1'000.-- beschränkt ist.
BGE 102 Ib 314 S. 320
Wie immer dieser Entscheid ausfällt, eine öffentlich-rechtliche Haftung aus dem Verantwortlichkeitsgesetz fällt daneben ausser Betracht.
d) Aus diesen Gründen ist auf die Klage nicht einzutreten. Es bleibt dem Kläger unbenommen, seine Ansprüche bei den Basler Zivilgerichten geltend zu machen. Sollte er aus irgendeinem Grunde glauben, die Verjährungsfrist betrage weniger als zehn Jahre, so wäre die Vorschrift von
Art. 139 OR
zu beachten.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Auf die Klage wird nicht eingetreten.