Urteilskopf
110 II 494
93. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 30. November 1984 i.S. Fürsorgestiftung für das Personal des Schweizerischen Serum- und Impfinstituts gegen Aral (Schweiz) AG (Berufung)
Regeste
Erhöhung indexierter Mietzinse: Formularzwang, Rückwirkung, widersprüchliches Verhalten.
Formularzwang für die Erhöhung indexierter Mietzinse gestützt auf
Art. 18 Abs. 2 BMM
in Verbindung mit
Art. 13 Abs. 2 VMM
bejaht (Bestätigung der Rechtsprechung); Zulässigkeit rückwirkender Erhöhung verneint (E. 2).
Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens schliesst nicht aus, dass der Mieter sich nach der Zahlung des erhöhten Mietzinses auf die Nichtigkeit der Erhöhung berufen kann (
Art. 2 ZGB
); Begründungspflichten des Berufungsklägers im Zusammenhang mit
Art. 63 Abs. 2 und
Art. 64 Abs. 1 OG
(E. 4).
A.-
Am 6. Juni 1966 vermietete die Fürsorgestiftung für das Personal des Schweizerischen Serum- und Impfinstituts der Esso-Standard eine Tankstelle, Wohnungen und Service-Station auf
BGE 110 II 494 S. 495
ihrem Grundstück in Lyss zu einem jährlichen Zins von Fr. 20'000.--. Der Vertrag ist erstmals kündbar auf den 31. Dezember 1987, und der Mietzins konnte frühestens nach Ablauf der ersten zehn Kalenderjahre der Entwicklung des Schweizerischen Index der Konsumentenpreise angepasst werden, sofern der Durchschnittsindex eines vollen Kalenderjahres sich mindestens um sechs Punkte verändert hatte. 1971 trat die Aral (Schweiz) AG in den Mietvertrag ein.
Die Fürsorgestiftung forderte ab 1979 gestützt auf die Indexklausel erhöhte Mietzinse; die Aral AG bezahlte sie bis und mit 1981. Am 13. Dezember 1982 teilte die Vermieterin die Mietzinserhöhungen erstmals auf amtlichem Formular mit, und zwar für die Jahre 1981, 1982 und 1983.
Vor der Schlichtungsstelle focht die Mieterin die Erhöhungen an, ohne dass indes eine Einigung zustande gekommen wäre.
B.-
Daraufhin klagte die Fürsorgestiftung auf Feststellung, dass die Mietzinse von Fr. 35'280.-- für das Jahr 1981, von Fr. 37'600.-- für das Jahr 1982 und von Fr. 39'660.-- für das Jahr 1983 nicht missbräuchlich seien. Die Aral AG verlangte widerklageweise Feststellung, dass die Mietzinserhöhungen für die Jahre 1979 bis 1982 nichtig und ausserdem gleich wie die Erhöhung für 1983 missbräuchlich seien.
Der Gerichtspräsident von Aarberg wies die Klage ab und stellte in Gutheissung der Widerklage die Nichtigkeit der Mietzinserhöhungen für die Jahre 1979 bis 1983 fest.
Auf Appellation der Klägerin hin wies der Appellationshof des Kantons Bern am 27. Februar 1984 die Widerklage zurück. Die Mietzinserhöhung für das Jahr 1983 erkannte er als nicht missbräuchlich, wobei er sich am 14. März 1984 dahin berichtigte, dass die Klage "soweit weitergehend" abgewiesen werde.
C.-
Die Klägerin hat Berufung eingelegt mit dem Antrag festzustellen, dass die Mietzinserhöhungen für 1981 und 1982 nicht missbräuchlich seien.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es auf sie eintritt.
Aus den Erwägungen:
2.
Der Gerichtspräsident, dessen Erwägungen der Appellationshof übernahm, fand, dass die am 13. Dezember 1982 mit amtlichem Formular mitgeteilte Mietzinserhöhung nicht auf die
BGE 110 II 494 S. 496
Jahre 1981 und 1982 zurückwirken könne und deshalb verspätet und nichtig sei. Die Klägerin erblickt darin eine Verletzung von
Art. 9 und 18 BMM
, weil Mitteilungen von Mietzinserhöhungen durchaus nachgeholt werden könnten; ausserdem bewirke bei indexierten Mietzinsen die Nichtverwendung des amtlichen Formulars keine Nichtigkeit der Erhöhung, sondern verhindere bloss, dass die Anfechtungsfrist zu laufen beginne.
a) Die Frage, ob die Erhöhung indexierter Mietzinse auf amtlichem Formular anzuzeigen ist, wurde in
BGE 103 II 270
E. 2 gestreift, jedoch nicht eindeutig beantwortet. Einerseits erwähnte das Bundesgericht den Grundsatz, dass gemäss
Art. 18 Abs. 2 BMM
der Vermieter Zinserhöhungen mittels amtlichen Formulars geltend zu machen habe (E. 2), anderseits warf es die Frage auf, ob die Mietzinserhöhung ohne besondere Ankündigung eintrete (E. 4). Der Formularzwang ergibt sich indes aus
Art. 18 Abs. 2 BMM
in Verbindung mit
Art. 13 Abs. 2 VMM
. In
BGE 108 II 323
wurde das erstmals klar festgehalten, und auch die Lehre bejaht ihn (RENÉ MÜLLER, Der Bundesbeschluss über Massnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen vom 30. Juni 1972, Diss. Zürich 1976, S. 112 f., 126 und 134; RAISSIG/SCHWANDER, Massnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen, 4. Aufl., S. 94; BASTIAN, Pratique récente en matière d'AMLS, in 3e séminaire sur le bail à loyer, Université de Neuchâtel, 1984, S. 2). Die Klägerin hätte daher entgegen ihrer Behauptung durchaus erkennen können, dass auch für sie Formularzwang galt.
b) Ganz offengelassen wurde in
BGE 103 II 273
E. 4 die hier umstrittene, weitere Frage, ob die Erhöhungen rückwirkend erfolgen können. Die vorstehend genannten Autoren verneinen das mehrheitlich und sinngemäss, indem sie bloss erwägen, ob die 10tägige Frist von
Art. 18 Abs. 1 BMM
einzuhalten sei und ob die Erhöhung vor Ablauf der 30tägigen Anfechtungsfrist nicht in Kraft treten könne. Mit ZR 1977 Nr. 51 nehmen GMÜR/CAVIEZEL (Mietrecht-Mieterschutz, 2. Aufl., S. 93/94) eine unzulässige Rückwirkung dann an, wenn der Vermieter mit der Mitteilung über die Erhöhung ungewöhnlich lange zuwartet. Andeutungsweise sprach sich auch die nationalrätliche Kommission in diesem Sinne aus (Prot. Komm. NR vom 29./30. Mai 1972). Eine vorbehaltlose Rückwirkung scheinen lediglich RAISSIG/SCHWANDER (S. 94) für zulässig zu halten. Sie begründen ihre Ansicht indes nicht und lassen vor allem die entscheidenden Gesichtspunkte unberücksichtigt.
Der Zweck des BMM besteht darin, den Mieter vor missbräuchlichen Mietzinsen und anderen missbräuchlichen Forderungen des Vermieters zu schützen. Diesem Zweck widerspricht es, dass der Vermieter mit der Geltendmachung der Erhöhungen beliebig zuwarten kann. Die Rückwirkung führt zu Unsicherheiten im Verhältnis zwischen den Vertragsparteien; sie zu vermeiden war für das Bundesgericht bereits entscheidend bei der Antwort auf die Frage, wann Begehren um Änderung der Bestimmungen von Mietverträgen, die erstreckt werden sollen, spätestens vorzubringen sind (
BGE 102 II 16
E. c). Die Befugnis des Vermieters, durch Mitteilung den Zins zu erhöhen, ist ein Gestaltungsrecht; Gestaltungsrechte wirken in der Regel allein für die Gegenwart oder Zukunft. Wirkungen für die Vergangenheit sind erst dann anzunehmen, wenn sich dafür im Gesetz selbst oder im Vertrag eine Grundlage finden lässt (L'HUILLIER, La notion du droit formateur en droit privé suisse, Genf 1947, S. 157 ff.; VON TUHR, Der allgemeine Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, Bd. II/1, S. 21 f.). Fehlen wie im vorliegenden Fall derartige Grundlagen, so bleibt die rückwirkende Erhöhung von Mietzinsen grundsätzlich ausgeschlossen. Ob diese Regel eine Ausnahme erleidet, wenn der Vermieter vertragliche Anpassungstermine nicht ausnutzen kann, weil er gemäss
Art. 13 Abs. 2 VMM
die Erhöhung frühestens nach der öffentlichen Bekanntmachung des neuen Indexstandes mitteilen darf, mag hier offenbleiben.
Die Anzeige der Klägerin vom 13. Dezember 1982, mit der sie nachträglich die Mietzinse für die Jahre 1981 und 1982 erhöhen wollte, ist daher wirkungslos, womit das angefochtene Urteil insofern im Ergebnis zu bestätigen ist.
4.
Die Zahlung der erhöhten Mietzinse bis und mit 1981 schloss es nach Ansicht der Vorinstanz nicht aus, dass die Beklagte sich nachträglich auf die Nichtigkeit der Erhöhungen für die Jahre 1981 und 1982 berief. Die Begründung im angefochtenen Urteil, ein widersprüchliches Verhalten sei nicht hinreichend glaubhaft gemacht, hält die Klägerin freilich für aktenwidrig. Sie übersieht dabei aber, dass das Berufungsverfahren die Rüge der Aktenwidrigkeit nicht kennt. Zulässig wäre allenfalls die Geltendmachung eines offensichtlichen Versehens (Art. 55 Abs. 1 lit. d, 63 Abs. 2 OG;
BGE 104 II 74
E. b, 113 E. a). Die Klägerin nennt aber keine Aktenstelle, die übersehen oder unrichtig wahrgenommen worden sein soll. Sollte sie der Auffassung sein, der Tatbestand sei unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens zu ergänzen
BGE 110 II 494 S. 498
(
Art. 64 Abs. 1 OG
), so hätte sie darlegen müssen, dass sie sich auf die entsprechenden Tatsachen bereits vor kantonaler Instanz berufen und im Bestreitungsfall dafür Beweis angeboten hat. Auch an diesem Nachweis fehlt es indes, so dass die Frage des widersprüchlichen Verhaltens allein aufgrund der im angefochtenen Urteil festgehaltenen Tatsachen zu überprüfen ist (
Art. 63 Abs. 2 OG
).
Widersprüchliches Verhalten liegt dann vor, wenn durch das frühere Verhalten bei einem Partner schutzwürdiges Vertrauen begründet worden ist, das diesen zu Handlungen veranlasst hat, die ihm angesichts der neuen Situation nunmehr zum Schaden gereichen (
BGE 106 II 323
E. 3a mit Hinweisen). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Offen bleibt namentlich, ob die Beklagte im Wissen um die Ungültigkeit der Zinserhöhung geleistet hat (dazu
BGE 104 II 103
E. b und c; MERZ, N. 475 zu
Art. 2 ZGB
; KNOEPFLER, Problèmes posés par les loyers payés à tort, in 2e séminaire sur le bail à loyer, Université de Neuchâtel, 1982, S. 8 f.). Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem in Nr. 11 der Mitteilungen des Bundesamtes für Wohnungswesen zum Mietrecht veröffentlichten Entscheid Nr. 9, wo der Mieter in Kenntnis der Formschrift von
Art. 18 BMM
ausdrücklich auf deren Innehaltung verzichtet und die getroffene Vereinbarung freiwillig erfüllt hat.