BGE 116 IB 235 vom 3. August 1990

Datum: 3. August 1990

Artikelreferenzen:  Art. 5 RPG, Art. 5 VwVG , Art. 5 Abs. 2 RPG, Art. 97 OG, Art. 5 und 45 VwVG

BGE referenzen:  112 IB 496, 117 IB 266, 125 II 79, 129 III 107 , 115 IB 459, 112 IB 496, 110 IB 31, 114 IB 348, 112 IB 96, 108 IB 381, 112 IB 421, 112 IB 96, 108 IB 381, 112 IB 421

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

116 Ib 235


31. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 3. August 1990 i.S. Stadt Chur gegen Stiftung Priesterseminar St. Luzi und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

Regeste

Materielle Enteignung, Zwischenentscheid.
1. Eine Verletzung von kantonalem Recht aus dem Bereich von Art. 5 Abs. 2 RPG ist mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend zu machen (E. 1).
2. Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen einen Zwischenentscheid (E. 2).
3. Die Frage, ob eine materielle Enteignung vorliege, ist von Amtes wegen abzuklären, selbst wenn die Parteien diesen Tatbestand anerkennen (E. 2b).

Sachverhalt ab Seite 235

BGE 116 Ib 235 S. 235
Am 9. Juni 1980 stimmten die Stimmbürger der Stadt Chur einer Zonenplan- und Baugesetzesrevision zu, die von der
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Regierung mit Beschluss vom 10./28. November 1980 genehmigt wurde. Von dieser Revision erfasst ist unter anderem auch die im Eigentum der Stiftung Priesterseminar St. Luzi stehende Parzelle Nr. 1856 im Halte von insgesamt 126'304,7 m2, indem hievon 36'540 m2 von der Industriezone, 2. Etappe, in die Grünzone umgeteilt wurden.
Die Stiftung machte mit Schreiben vom 23. Januar 1981 gegenüber der Stadt Chur eine Entschädigung aus materieller Enteignung geltend und wies diese darauf hin, dass ihr voraussichtlich das Heimschlagsrecht zustehen dürfte. In der Folge stellte die Stadt Chur am 30. März 1982 bei der Enteignungskommission VIII das Begehren, die umgezonte Teilfläche im Halte von 36'540 m2 sei in ihr Eigentum zu übertragen und die Entschädigung auf insgesamt Fr. 4'019'400.-- festzusetzen. Die Stadt Chur anerkannte dabei ausdrücklich, dass die Umzonung den Tatbestand der materiellen Enteignung erfülle. Daraufhin führten die Parteien über Jahre hinweg Verhandlungen, ohne sich einigen zu können. Ab Oktober 1985 ruhten die Verhandlungen.
Am 9. September 1987 gelangte die Stiftung Priesterseminar St. Luzi erneut an die Enteignungskommission VIII mit dem Gesuch um Fortsetzung des hängigen Verfahrens, wobei sie mit "neu formulierte(n), modifizierte(n)" Rechtsbegehren die Schätzung des ihr aus materieller Enteignung entstandenen Schadens bzw. der Inkonvenienzen forderte.
In ihrer Vernehmlassung vom 5. Oktober 1987 stellte die Stadt Chur die Rechtsbegehren, es sei festzustellen, dass sie ihr Gesuch vom 30. März 1982 auf Eigentumsübertragung der in die Grünzone umgezonten Teilfläche von 36'540 m2 aus der Parzelle Nr. 1856 zurückgezogen habe, dass das Vorliegen einer materiellen Enteignung von der Stadt Chur bestritten werde und dass die Akten dem Verwaltungsgericht zum Entscheid über das Vorliegen einer materiellen Enteignung zu überweisen seien.
Mit Entscheid vom 12. April 1988 kam der Präsident der Enteignungskommission VIII zum Schluss, die Bestreitung des Vorliegens einer materiellen Enteignung durch die Stadt Chur sei als widersprüchliches Verhalten zu qualifizieren und verstosse gegen Treu und Glauben.
Gegen diesen Entscheid ergriff die Stadt Chur verschiedene Rechtsmittel, unter anderem Einsprache bei der Enteignungskommission und Rekurs beim Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden.
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Am 16. Mai 1988 hob die Enteignungskommission in Gutheissung der Einsprache der Stadt Chur die angefochtene Präsidialverfügung auf und überwies die Akten gemäss Art. 22 Abs. 3 des Enteignungsgesetzes des Kantons Graubünden vom 26. Oktober 1958 (kEntG) dem Verwaltungsgericht zum Entscheid über das Vorliegen einer materiellen Enteignung.
In der Folge ordnete der verwaltungsgerichtliche Instruktionsrichter einen zweiten Schriftenwechsel zur Frage der materiellen Enteignung an, indem er der Stiftung Gelegenheit gab, eine Klageschrift einzureichen. Die Stiftung verlangte in ihrer Eingabe vom 8. Juli 1988 die Feststellung, dass das Verfahren vor der Enteignungskommission VIII fortzusetzen sei, da eine gültige Bestreitung des Tatbestandes der materiellen Enteignung nicht vorliege; eventuell sei der Tatbestand der materiellen Enteignung als gegeben festzustellen, so dass das Verfahren vor der Enteignungskommission VIII seinen Fortgang nehmen könne.
Das Verwaltungsgericht stellte mit Entscheid vom 23. Januar 1990 fest, dass die Stadt Chur den Tatbestand der materiellen Enteignung nicht gültig bestritten habe. Es wies daher die Enteignungskommission VIII an, das Schätzungsverfahren fortzusetzen.
Die Stadt Chur führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht mit dem Begehren, der Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 23. Januar 1990 sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass die Stadt Chur keine Entschädigung aus materieller Enteignung schulde.
Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde nicht ein.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. a) Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen, ob auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingetreten werden kann ( BGE 115 Ib 459 mit Hinweisen).
b) Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet die Frage, ob die im Jahre 1980 durch die Churer Stimmbürger beschlossene Zonenplanänderung zu Lasten der Stiftung Priesterseminar St. Luzi eine materielle Enteignung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (RPG) bewirkt hat. Der Begriff der materiellen Enteignung ist bundesrechtlich abschliessend geregelt und für die Kantone verbindlich ( BGE 112 Ib 496 ; BGE 110 Ib 31 ; Urteil des Bundesgerichts vom
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18. August 1989 i.S. Stiftung Priesterseminar St. Luzi, E. 1a). Insofern liegt in materieller Hinsicht eine bundesrechtliche Streitsache vor, welche grundsätzlich der Verwaltungsgerichtsbeschwerde unterliegt. Daran ändert nichts, dass der angefochtene Entscheid auch auf kantonalem Recht beruht. Nach der Rechtsprechung ist auch der Verstoss gegen kantonales Recht aus dem Bereich von Art. 5 Abs. 2 RPG - unabhängig davon, ob es sich um unselbständige Ausführungsvorschriften oder um selbständiges Ergänzungsrecht handelt - mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend zu machen ( BGE 114 Ib 348 mit Hinweisen). Soweit selbständiges kantonales Recht in Frage steht, beschränkt sich das Bundesgericht indessen auf Willkürprüfung ( BGE 112 Ib 96 f.).

2. Mit dem angefochtenen Entscheid ist das Enteignungsverfahren noch nicht abgeschlossen. Entschieden wurde einzig die Frage, ob die Stadt Chur den Tatbestand der materiellen Enteignung nachträglich gültig bestritten habe. Das Verwaltungsgericht hat diese Frage verneint und die Sache der Enteignungskommission zugewiesen mit dem Auftrag, das Schätzungsverfahren durchzuführen. Es handelt sich somit um einen letztinstanzlichen Zwischenentscheid, der bloss einen Schritt auf dem Weg zum Endentscheid darstellt ( BGE 108 Ib 381 ).
Dieser Zwischenentscheid kann nur dann selbständig mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht weitergezogen werden, wenn er einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil bewirken kann ( Art. 97 OG i.V.m. Art. 5 und 45 VwVG ). Diese Voraussetzung ist anders als im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren schon als erfüllt zu betrachten, wenn der Beschwerdeführer ein schutzwürdiges Interesse an der sofortigen Aufhebung oder Abänderung des Entscheides hat ( BGE 112 Ib 421 f. mit Hinweisen). Ob ein solcher Nachteil vorliegt, ist im folgenden zu prüfen.
a) Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Entscheid festgestellt, dass die Stadt Chur den Tatbestand der materiellen Enteignung nicht gültig bestritten hat. Die Anerkennung oder Bestreitung einer materiellen Enteignung wirkt sich gemäss kantonalem Enteignungsgesetz auf den Fortgang des Verfahrens aus. Art. 22 Abs. 3 kEntG regelt dazu folgendes:
"Hält das belangte Gemeinwesen eine Forderung aus materieller Enteignung für unbegründet, überweist der Präsident der Enteignungskommission die Akten an das Verwaltungsgericht zum Entscheid über das Vorliegen einer
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materiellen Enteignung."
Bestreitet demnach das Gemeinwesen das Vorliegen einer materiellen Enteignung, so wird die Sache dem Verwaltungsgericht überwiesen. Dieses hat alsdann in einem (selbständig anfechtbaren) Entscheid festzustellen, ob eine materielle Enteignung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 RPG vorliege oder nicht. Wird diese Frage verneint, weist es die Klage ab. Kommt das Gericht hingegen zum gegenteiligen Schluss, sind die Akten der Enteignungskommission zuzuweisen, damit sie das Schätzungsverfahren gemäss Art. 11 ff. der Vollziehungsverordnung vom 29. Mai 1958 zum Enteignungsgesetz (VVkEntG) einleite (Art. 22 Abs. 4 kEntG). Der Entscheid der Enteignungskommission über die Höhe der geschuldeten Entschädigung - nicht mehr aber über die bereits rechtskräftig bejahte Frage des Vorliegens einer materiellen Enteignung an sich - ist in der Folge an das Verwaltungsgericht weiterziehbar (Art. 20 lit. k i.V.m. Art. 22 Abs. 1 kEntG).
b) Ist das Gemeinwesen - mit dem Forderungskläger - der Auffassung, dass der Tatbestand der materiellen Enteignung erfüllt ist, so erübrigt sich gemäss Art. 22 Abs. 3 kEntG e contrario eine Überweisung der Streitsache an das Verwaltungsgericht; die Enteignungskommission hat in diesen Fällen direkt das Schätzungsverfahren gemäss Art. 11 ff. VVkEntG einzuleiten. Anders als indessen aus dem Wortlaut von Art. 22 Abs. 3 kEntG geschlossen werden könnte, ist die Kommission an die übereinstimmenden Erklärungen der Parteien nicht gebunden. Vielmehr ist von Bundesrechts wegen auch in diesen Fällen zu fordern, dass die Enteignungskommission das Vorliegen einer materiellen Enteignung von Amtes wegen im Schätzungsverfahren prüft (vgl. auch Art. 15 Abs. 1 VVkEntG). Kommt sie dabei zum Schluss, dass trotz übereinstimmender (den Tatbestand der materiellen Enteignung bejahender) Parteierklärungen keine materielle Enteignung vorliegt, so ist keine Entschädigung zuzusprechen. Denn mit der Verneinung des Vorliegens einer materiellen Enteignung ist zugleich ausgesagt, dass keine zu entschädigende Vermögenseinbusse beim Kläger entstanden ist (vgl. ENRICO RIVA, Hauptfragen der materiellen Enteignung, Bern 1990, S. 252 ff.). Die Frage, ob im Einzelfall eine materielle Enteignung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 RPG vorliegt, darf deshalb im Rahmen eines förmlichen staatlichen Verfahrens nicht allein der Disposition der Parteien überlassen werden. Anders entscheiden hiesse, auf kantonaler Ebene Abweichungen vom Begriff der materiellen Enteignung zu gestatten, was angesichts seiner bundesrechtlichen Natur nicht zulässig
BGE 116 Ib 235 S. 240
ist. Der Entscheid der Enteignungskommission ist gemäss Art. 20 lit. k i.V.m. Art. 22 Abs. 1 kEntG an das Verwaltungsgericht weiterziehbar; dieses hat - entgegen der in der Präsidialverfügung vom 5. Mai 1988 geäusserten Meinung - nicht nur die Höhe der Entschädigung, sondern vorab auch die in diesem Verfahrensstadium noch nicht entschiedene Frage des Vorliegens einer materiellen Enteignung an sich zu prüfen. Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass die Frage, ob eine materielle Enteignung vorliege, von Amtes wegen abzuklären ist, selbst wenn die Parteien diesen Tatbestand anerkennen.
c) Aus diesen Erwägungen folgt für den vorliegenden Fall, dass der angefochtene Entscheid nicht bedeutet, die Frage, ob eine materielle Enteignung vorliege, müsse nicht mehr geprüft werden. Das Verwaltungsgericht hat "vorfrageweise" festgestellt, dass die Stadt Chur den Tatbestand der materiellen Enteignung nicht gültig bestritten habe, weshalb die Enteignungskommission das Schätzungsverfahren gemäss Art. 11 ff. VVkEntG einzuleiten habe. Es hat indessen nicht darüber entschieden, ob eine materielle Enteignung vorliege oder nicht. Dies hat - wie dargelegt - zur Folge, dass die Enteignungskommission über diese Frage im Schätzungsverfahren zu befinden haben wird, da sie bisher nicht rechtskräftig beurteilt wurde. Der Entscheid der Kommission kann gemäss Art. 20 lit. k i.V.m. Art. 22 Abs. 1 kEntG sowohl bezüglich der Frage des Vorliegens einer materiellen Enteignung als auch bezüglich der Höhe einer allfälligen Entschädigung beim Verwaltungsgericht und anschliessend beim Bundesgericht angefochten werden. Daraus folgt aber, dass der Stadt Chur kein nicht wiedergutzumachender Nachteil erwächst, wenn die vorliegende Beschwerde nicht unverzüglich behandelt wird. Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist demnach nicht einzutreten.

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