Urteilskopf
116 II 158
29. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 5. April 1990 i.S. Y. gegen Gemeinde M., B., C. und F. AG (Berufung)
Regeste
Art. 760 OR
. Verjährung der Ansprüche aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit.
1. Die Verjährung der Ansprüche aus der Haftung des Gemeinwesens gemäss
Art. 762 Abs. 4 OR
richtet sich nach
Art. 760 OR
(E. 3a).
2. Die nach
Art. 760 OR
den Lauf der fünfjährigen Verjährungsfrist auslösende Kenntnis seines Schadens besitzt der Gläubiger, der im Konkurs einer Aktiengesellschaft zu Verlust kommt, in der Regel, wenn der Kollokationsplan und das Inventar zur Einsicht aufgelegt worden sind; aufgrund besonderer Umstände kann der Geschädigte die nötige Kenntnis jedoch auch schon früher erlangen (E. 4).
3. Die Verjährung ruht nicht im Sinne von
Art. 134 Abs. 1 Ziff. 6 OR
, bis die Konkursmasse dem Gläubiger die Ansprüche gegen die verantwortlichen Organmitglieder abgetreten hat (E. 5).
A.-
Die X. Parkhaus AG baute im Jahre 1968 auf einem gemeindeeigenen Grundstück in M., auf welchem ihr ein entsprechendes Baurecht eingeräumt worden war, ein Parkhaus. Die Gesellschaft war am 28. Mai 1968 gegründet worden. Dem Verwaltungsrat gehörten der inzwischen verstorbene A. als Präsident
BGE 116 II 158 S. 159
sowie B. und C. an, letzterer als Vertreter der Gemeinde M. Kontrollstelle war die F. AG.
Y. führte im Zusammenhang mit dem Bau des Parkhauses die Abbruch- und Aushubarbeiten aus. Im Mai 1969 belangte er die X. Parkhaus AG beim Bezirksgericht Maloja auf Bezahlung seiner Werklohnforderung von Fr. 750'00.--, für welche er auf dem Baurechtsgrundstück ein Bauhandwerkerpfandrecht provisorisch hatte eintragen lassen. Das Bezirksgericht sprach ihm mit Urteil vom 23. April/2. Mai 1981 einen Betrag von Fr. 553'454.75 zu.
Im Konkurs der X. Parkhaus AG, der am 8. Oktober 1971 eröffnet worden war, ging Y. leer aus. Am 9. März 1977 trat die Konkursmasse die allfälligen aktienrechtlichen Verantwortlichkeitsansprüche gegen die Gründer, die früheren Verwaltungsräte und die ehemalige Kontrollstelle an Y. ab.
B.-
Am 10. Februar 1984 reichte Y. beim Bezirksgericht Maloja eine Klage gegen die Gemeinde M. sowie gegen B., C. und die F. AG ein mit dem Begehren, die Beklagten seien solidarisch zu verpflichten, ihm Fr. 683'034.95 nebst Zins und Verzögerungsschaden zu bezahlen. Mit Urteil vom 24. Juni/21. Oktober/4. November 1987 wies das Bezirksgericht die Klage zufolge Verjährung ab.
Das Kantonsgericht von Graubünden wies am 9. Mai 1989 die vom Kläger eingelegte Berufung ab.
C.-
Der Kläger hat gegen das kantonsgerichtliche Urteil eidgenössische Berufung und staatsrechtliche Beschwerde eingereicht, welch letztere das Bundesgericht mit Entscheid vom heutigen Tag abgewiesen hat, soweit es darauf eingetreten ist. Mit der Berufung beantragt er, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Streitsache an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es darauf eintritt, und bestätigt das angefochtene Urteil.
Aus den Erwägungen:
3.
a) Für die Verjährung der Verantwortlichkeit des Gemeinwesens enthält
Art. 762 OR
keine Regelung. Der Kläger rügt in der Berufung, die Vorinstanz habe für seine Ansprüche gegen die Beklagte 1 zu Unrecht die Verjährungsfristen von
Art. 760 OR
angewendet, statt auf die allgemeine zehnjährige Verjährungsfrist gemäss
Art. 127 OR
abzustellen.
Gemischtwirtschaftliche Unternehmungen in der Form von Aktiengesellschaften unterstehen, soweit das Gesetz nicht ausdrücklich Ausnahmen statuiert, den aktienrechtlichen Bestimmungen des OR (vgl. BÜRGI/NORDMANN, a.a.O., N. 2 zu
Art. 762 OR
).
Art. 762 Abs. 4 OR
regelt hinsichtlich der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit für Organmitglieder, die von einer Körperschaft des öffentlichen Rechts abgeordnet sind, nur die Passivlegitimation besonders. Im übrigen stellt
Art. 762 Abs. 3 OR
die vom Gemeinwesen abgeordneten Mitglieder den von der Generalversammlung gewählten ausdrücklich gleich. Voraussetzungen und Umfang der Verantwortlichkeit richten sich daher auch bei der direkten Haftung des Gemeinwesens nach
Art. 754 ff. OR
. Gleiches muss für die Verjährung der entsprechenden Ansprüche gelten. Diese hat sich demnach nach
Art. 760 OR
zu richten. Nur so kann auch die vom Gesetzgeber angestrebte Einheitlichkeit der Verjährungsfristen für alle aktienrechtlichen Verantwortlichkeitsansprüche unabhängig von ihrem Rechtsgrund erreicht werden (
BGE 87 II 298
; BÜRGI/NORDMANN, a.a.O., N. 6 zu
Art. 760 OR
; FORSTMOSER, a.a.O., S. 163 Rz. 501). Aus den vom Kläger für seine abweichende Auffassung angeführten Kommentarstellen (Bürgi/ Nordmann, a.a.O., N. 2, 14 und 31 zu
Art. 762 OR
) ergibt sich nichts anderes; dort wird lediglich der Charakter von
Art. 762 OR
als lex specialis gegenüber den übrigen aktienrechtlichen Bestimmungen erwähnt.
(...)
4.
Das Kantonsgericht hat die Verjährungsfrage somit zu Recht für alle Beklagten aufgrund von
Art. 760 OR
beurteilt, wonach die Ansprüche aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit in fünf Jahren, seitdem der Geschädigte Kenntnis vom Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen erlangt hat, verjähren. Diese Kenntnis hatte der Kläger nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil spätestens seit dem 12. Dezember 1972. Das Kantonsgericht gelangt deshalb zum Schluss, dass die Ansprüche des Klägers, als er am 7. Mai 1978 ein erstes Vermittlungsbegehren gestellt habe, bereits verjährt gewesen seien. Der Kläger erblickt in dieser Auffassung eine Verletzung von
Art. 760 OR
.
a) Kenntnis des Schadens, welche nach
Art. 760 OR
den Lauf der fünfjährigen Verjährungsfrist auslöst, liegt vor, wenn der Geschädigte die Existenz eines Schadens sowie dessen Beschaffenheit und wesentliche Merkmale, d.h. alle tatsächlichen Umstände kennt, die geeignet sind, eine Klage zu veranlassen und zu begründen
BGE 116 II 158 S. 161
(
BGE 100 II 342
E. 1 mit Hinweisen). Nicht erforderlich ist hingegen, dass die Höhe des Schadens ziffernmässig bereits genau festgelegt werden kann (
BGE 108 Ib 100
mit Hinweisen). Der Gläubiger, der im Konkurs seines Schuldners zu Verlust kommt, erlangt daher nicht erst dann hinreichende Kenntnis von seinem Schaden, wenn er den genauen Betrag seiner Konkursdividende kennt; vielmehr genügt, dass er den Stand der Aktiven und den Rang seiner Forderung zu überblicken und damit die voraussichtliche Höhe seiner Dividende abzuschätzen vermag. Dazu ist er nach Lehre und Rechtsprechung regelmässig dann in der Lage, wenn der Kollokationsplan und das Inventar zur Einsicht aufgelegt worden sind (
BGE 113 V 182
;
BGE 111 II 167
;
BGE 108 Ib 100
je mit Hinweisen; FORSTMOSER, a.a.O., S. 165 Rz. 510); aufgrund besonderer Umstände kann der Geschädigte im Einzelfall die nötige Kenntnis jedoch auch schon früher erlangen.
b) Im Konkurs der X. Parkhaus AG wurde der Kollokationsplan am 30. Juni 1973 öffentlich aufgelegt. Wäre für den Beginn des Fristenlaufs auf dieses Datum abzustellen, so wären die Ansprüche des Klägers im Zeitpunkt seines Vermittlungsbegehrens vom 7. März 1978 noch nicht verjährt gewesen. Beide kantonalen Instanzen gehen jedoch davon aus, der Kläger habe spätestens ab 12. Dezember 1972 und nicht erst nach der Auflegung des Kollokationsplans gewusst, dass seine Forderung im vollen Umfang ungedeckt bleiben würde. Diese Auffassung stützen die kantonalen Gerichte auf die folgenden Feststellungen: Nachdem die X. Parkhaus AG am 22. September 1970 die Insolvenzerklärung abgegeben habe, sei zwar ein Sachwalter bestellt, die Konkurseröffnung aber in der Hoffnung auf eine Sanierung vorerst noch aufgeschoben worden. An einer Sitzung vom 18. Januar 1971, an welcher der Kläger teilgenommen habe, habe der Sachwalter darauf hingewiesen, dass bei einem Scheitern der Sanierungsbemühungen für die Handwerker im Konkurs kein Heller übrigbleiben, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach sogar die Gläubiger mit vertraglichen Grundpfandforderungen zu Verlust kommen würden. Nach eröffnetem Konkurs sei am 26. Oktober 1971 im Beisein des Anwalts des Klägers die erste Gläubigerversammlung abgehalten worden. Der Konkursbeamte habe damals unmissverständlich klargestellt, dass bei vorgehenden Grundpfandverschreibungen in der Höhe von 6,3 Mio. Franken selbst die mit Bauhandwerkerpfandrechten gesicherten Gläubiger leer ausgehen würden. Am 11. Dezember 1972 habe im Zusammenhang mit Schadenersatzansprüchen von
BGE 116 II 158 S. 162
Nachbarn in Zürich eine weitere Besprechung stattgefunden, welcher der Kläger ebenfalls beigewohnt habe. Der Konkursbeamte habe dort nochmals mit letzter Deutlichkeit ausgeführt, dass für die Handwerker im Konkurs nichts mehr übrigbleiben werde.
Diese Feststellungen, die der Kläger in seiner staatsrechtlichen Beschwerde erfolglos angefochten hat, sind ebenso tatsächlicher Natur wie der von den Vorinstanzen daraus gezogene Schluss, der Kläger habe spätestens ab 12. Dezember 1972 gewusst, dass er mit seiner Forderung vollumfänglich zu Verlust kommen werde. Damit erweist sich die Behauptung des Klägers, der Schaden habe damals nicht abgeschätzt werden können, als unzulässig, ist das Bundesgericht im Berufungsverfahren doch - von hier nicht geltend gemachten Ausnahmen abgesehen - an den von der letzten kantonalen Instanz festgestellten Sachverhalt gebunden (
Art. 55 Abs. 1 lit. c und
Art. 63 Abs. 2 OG
).
Entgegen der Meinung des Klägers liegt darin, dass das Kantonsgericht aufgrund der gegebenen besonderen Verhältnisse eine hinreichende Kenntnis des Schadens bereits vor der Auflegung des Kollokationsplans angenommen hat, auch keine Verletzung von
Art. 760 OR
. In Lehre und Rechtsprechung wird die Auflegung des Kollokationsplans nicht, wie der Kläger behauptet, als der frühestmögliche Beginn für den Lauf der fünfjährigen Verjährungsfrist bezeichnet, sondern als der Zeitpunkt, auf welchen in der Regel abzustellen ist (E. a hievor). Damit bleibt durchaus Raum für einen ausnahmsweise früheren Beginn des Fristenlaufs. Mit Rücksicht auf die Interessen der geschädigten Gläubiger verbietet es sich allerdings, einen solchen früheren Verjährungsbeginn leichthin anzunehmen, beispielsweise schon die aus der Konkurseröffnung sich ergebende Kenntnis der Gläubiger, dass sie in grösserem oder geringerem Mass zu Verlust kommen werden, als genügend zu betrachten. Ebensowenig darf aus blossen Mutmassungen, Gerüchten oder Angaben Dritter über den zu erwartenden Verlust eine hinreichende Kenntnis der Gläubiger von ihrem Schaden abgeleitet werden. Im vorliegenden Fall stützte sich das Wissen des Klägers jedoch auf drei zu verschiedenen Zeitpunkten gemachte Äusserungen des amtlich bestellten Sachwalters bzw. Konkursverwalters, wobei jene vom 26. Oktober 1971 an der ersten Gläubigerversammlung und damit im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Berichterstattung erfolgte. Dass demgegenüber die Zusammenkunft vom 11. Dezember 1972 nicht amtlich, sondern von einem involvierten Versicherer einberufen worden
BGE 116 II 158 S. 163
war, schliesst die Berücksichtigung des dabei erlangten Wissens des Klägers nicht aus; wenn in
Art. 760 OR
auf die Kenntnis des Schadens und nicht etwa auf einen bestimmten Stand des Konkursverfahrens abgestellt wird, muss grundsätzlich unmassgeblich bleiben, woher der Geschädigte sein Wissen bezieht, wenn dieses Wissen nur genügend sicher ist.
5.
Unbegründet ist der Einwand des Klägers, die Verjährung habe gemäss
Art. 134 Abs. 1 Ziff. 6 OR
bis zum 9. März 1977 geruht, da ihm erst zu diesem Zeitpunkt die Verantwortlichkeitsansprüche abgetreten und damit deren gerichtliche Geltendmachung ermöglicht worden sei. Für seine Auffassung kann sich der Kläger zwar auf BÜRGI/NORDMANN (a.a.O., N. 13 zu
Art. 760 OR
) berufen. Der Anwendung von
Art. 134 Abs. 1 Ziff. 6 OR
auf Fälle wie den vorliegenden steht jedoch die Tatsache entgegen, dass die Konkursverwaltung gemäss
Art. 756 Abs. 1 OR
schon ab dem Zeitpunkt der Konkurseröffnung berechtigt ist, den mittelbaren Schaden der Gesellschaftsgläubiger gegenüber den Verantwortlichen geltend zu machen (FORSTMOSER, a.a.O., S. 165 f. Rz. 509 f.). Dass normalerweise erst die zweite Gläubigerversammlung über die Führung eines Verantwortlichkeitsprozesses durch die Konkursmasse entscheidet, ist ein Umstand in der Person des zur Geltendmachung der Ansprüche Berechtigten und damit im Hinblick auf
Art. 134 Abs. 1 Ziff. 6 OR
unbeachtlich (
BGE 90 II 440
). Im übrigen ist die Konkursverwaltung verpflichtet, ab dem Zeitpunkt der Konkurseröffnung alle zur Erhaltung der Masse erforderlichen Vorkehren zu treffen (
Art. 240 SchKG
), wozu auch die rechtzeitige Unterbrechung der Verjährung für Verantwortlichkeitsansprüche gehört. Die Gläubiger haben daher ohne weiteres die Möglichkeit, die Konkursverwaltung zur Vornahme geeigneter Unterbrechungshandlungen anzuhalten. Dass der Kläger dies unterlassen hat, hat er sich selbst zuzuschreiben. Ausserdem lief die Verjährungsfrist im vorliegenden Fall erst neun Monate nach der Abtretung der Ansprüche an den Kläger ab.