Urteilskopf
116 IV 11
3. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. Januar 1990 i.S. W. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Art. 64/
Art. 65 StGB
; Strafmilderung nach Strafsätzen (Praxisänderung).
Ist ein Strafmilderungsgrund nach
Art. 64 StGB
gegeben, so hat dies entgegen dem Wortlaut von
Art. 65 StGB
nicht zur Folge, dass anstelle der Strafdrohung der anzuwendenden Strafbestimmung jene von
Art. 65 StGB
tritt; denn
Art. 65 StGB
bewirkt nach seinem Sinn und Zweck lediglich eine Erweiterung des ordentlichen Strafrahmens nach unten.
Aus den Erwägungen:
2.
Bei der Strafzumessung ging die Vorinstanz davon aus, gemäss
Art. 64 StGB
könne der Richter die Strafe mildern, wenn unter anderem seit der Tat verhältnismässig lange Zeit verstrichen sei und der Täter sich während dieser Zeit wohl verhalten habe; diese Strafmilderungsgründe seien für den Richter fakultativ, womit er sie auch lediglich im ordentlichen Strafrahmen berücksichtigen könne; würde vorliegend der Strafmilderungsgrund nach
Art. 64 StGB
angewendet, könnte der Angeschuldigte zu maximal drei Monaten Haft verurteilt werden, was sein Verschulden jedoch nicht abgelten würde; in Würdigung aller Bemessungskriterien erweise sich für den Beschwerdeführer eine Zusatzstrafe von zwölf Monaten Gefängnis als angemessen ...
e) Die Vorinstanz nahm hingegen zu Unrecht an, eine Strafmilderung nach
Art. 64 StGB
führe dazu, dass anstelle der auf Gefängnis lautenden Strafandrohung des
Art. 165 StGB
gestützt auf
Art. 65 StGB
höchstens eine Strafe von 3 Monaten Haft ausgefällt werden könne.
Art. 65 StGB
wurde bisher in grammatikalischer Auslegung des Gesetzes so verstanden, dass anstelle der Strafdrohung der anzuwendenden Strafbestimmung jene von
Art. 65 StGB
trete (vgl. dazu GUSTAV MAURER, Die Strafzumessung im schweizerischen Strafgesetzbuch, Diss. Zürich 1945, S. 101). Diese Lösung entspricht indessen nicht dem Sinn und Zweck von
Art. 65 StGB
, denn sie führt je nach gesetzlicher Strafandrohung zu unterschiedlichen Auswirkungen: In den Fällen von Art. 65 Abs. 2 und 4 wird
BGE 116 IV 11 S. 13
der Strafrahmen lediglich nach unten erweitert; die Absätze 3 und 5 hingegen führen durch Festlegung eines neuen Strafhöchstmasses zu einer stärkeren Strafmilderung und gleichzeitig zu einer Einengung des Ermessensspielraumes des Richters. Eine solche rechtsungleiche Anwendung der in
Art. 64 StGB
genannten Strafmilderungsgründe gilt es zu verhindern.
Das Bundesgericht hat dies mit seiner bisherigen Praxis weitgehend getan, indem es anerkannte, dass ein Strafmilderungsgrund nach
Art. 64 StGB
gegebenenfalls auch lediglich strafmindernd im Rahmen von
Art. 63 StGB
berücksichtigt werden kann (
BGE 106 IV 340
E. 2, mit Hinweisen). Auf diese - nicht unproblematische Lösung - kann indessen verzichtet werden, wenn
Art. 65 StGB
teleologisch und historisch ausgelegt wird.
Die gleichen Auswirkungen haben die Strafmilderungsgründe von
Art. 64 StGB
einzig dann, wenn in bezug auf alle Absätze von
Art. 65 StGB
davon ausgegangen wird, diese hätten lediglich eine Erweiterung des ordentlichen Strafrahmens nach unten zur Folge (so auch Schwander, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, S. 206, Nr. 389, der davon spricht,
Art. 65 StGB
lege neue Strafminima fest). Dies entspricht auch dem Willen des historischen Gesetzgebers. Der einleitende Absatz von
Art. 65 StGB
lautete im Entwurf der II. Expertenkommission (damals Art. 51): "Die gesetzlichen Strafandrohungen werden für den Fall der Strafmilderung herabgesetzt, und zwar ..."; im entsprechenden Protokoll (Band I, S. 371 f.) wurde dazu festgehalten, die Bestimmung gebe "den neuen, erweiterten Rahmen für die Bestrafung", die Erweiterung geschehe "durch Herabsetzung des Strafminimums" und der erweiterte Strafrahmen umfasse "natürlich auch die ursprünglichen Möglichkeiten". In der Botschaft des Bundesrates zum Entwurf - in welchem in der betreffenden Bestimmung (Art. 62 des Entwurfes) lediglich der einleitende Absatz geändert wurde und die den heutigen Wortlaut erhielt - wurde ausgeführt, die mildernden Umstände gestatteten die "Überschreitung der unteren Grenze der Androhung" BBl 1918 IV 24).
Liegt daher ein Strafmilderungsgrund vor, so hat dies für die Strafzumessung zwei Wirkungen: Einerseits muss die Strafe gemindert werden - es ist unzulässig, bei Vorliegen eines Strafmilderungsgrundes die Höchststrafe auszufällen; andererseits kann die Strafe gemildert werden - der Strafrahmen hat sich nach unten erweitert. Damit setzt Art. 65 der einfachen Strafmilderung die Grenze, bis zu welcher der Richter bei Vorliegen eines
BGE 116 IV 11 S. 14
Strafmilderungsgrundes den ordentlichen Strafrahmen unterschreiten darf, aber nicht muss (
BGE 106 IV 340
E. 2 und 39 E. 8,
BGE 101 IV 390
E. c; TRECHSEL, Kurzkommentar zum StGB, N. 1 und 2 zu Art. 64 und N. 1 zu Art. 65; STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II, S. 264). Anstelle eines Strafrahmens von drei Tagen bis zu drei Jahren Gefängnis (Art. 165 i.V.m. 36 StGB) stand daher im vorliegenden Fall infolge der Anwendbarkeit von
Art. 64 Abs. 8 StGB
mithin ein solcher von einer Busse oder einem Tag Haft bis zu drei Jahren Gefängnis (Art. 65 i.V.m. 39 Ziff. 1 StGB) zur Verfügung.
f) Die Vorinstanz nahm daher zu Unrecht an, wenn der ordentliche Strafrahmen nicht unterschritten werden könne, bleibe kein Raum für die Anwendung von
Art. 64 StGB
; diesfalls könne der Milderungsgrund auch bloss mindernd im Rahmen von
Art. 63 StGB
berücksichtigt werden. Damit ging sie - wenn auch mit unzutreffender Begründung gemäss bisheriger Rechtsprechung - dennoch vom richtigen erweiterten Strafrahmen aus und berücksichtigte innerhalb desselben auch, "dass seit der Tat mehrere Jahre verstrichen sind". Dass sie
Art. 64 StGB
als nicht anwendbar betrachtete, ändert daher im Ergebnis nichts; denn nach dem Gesagten hat die Anwendung von Art. 64 in Verbindung mit
Art. 65 StGB
im vorliegenden Fall eine Erweiterung des ordentlichen Strafrahmens gegen unten zur Folge; dieser Rahmen muss indessen nicht ausgeschöpft werden, sondern es genügt, wenn zumindest - wie hier geschehen - eine Strafminderung erfolgt. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.