BGE 117 IA 72 vom 11. April 1991

Datum: 11. April 1991

Artikelreferenzen:  Art. 5 EMRK, Art. 6 EMRK, Art. 40 StGB , Art. 40 Abs. 1 StGB, Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK, Art. 5 und 6 EMRK, Art. 6 Ziff. 2 EMRK, § 429 Abs. 1 StPO, § 49 Abs. 2 StPO, Art. 5 Ziff. 3 EMRK

BGE referenzen:  102 IA 379, 104 IB 24, 123 I 31, 123 I 221, 126 I 112, 126 I 172, 133 IV 187, 137 IV 177, 139 IV 191, 143 IV 160, 143 I 241 , 104 IB 24, 104 IB 27, 114 IA 283, 112 IA 162, 98 IA 308, 106 IA 407, 104 IB 26, 102 IA 379, 98 IA 308, 106 IA 407, 104 IB 26, 102 IA 379

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

117 Ia 72


13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 11. April 1991 i.S. F. gegen Untersuchungsrichter, Staatsanwaltschaft und Anklagekammer des Kantons St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Persönliche Freiheit, Art. 5 EMRK ; vorzeitiger Strafvollzug.
Die Zustimmung des Angeschuldigten zum vorzeitigen Strafvollzug muss ausdrücklich, aus eigenem, ungehindertem Willen sowie klar und unmissverständlich erteilt werden. Bei Unklarheit darf die Erklärung nicht zum Nachteil des Angeschuldigten ausgelegt werden (E. 1c).
Die Zustimmung kann grundsätzlich nicht widerrufen werden. Der Angeschuldigte ist indessen berechtigt, jederzeit ein Begehren um Entlassung aus der Haft bzw. dem vorzeitigen Strafvollzug zu stellen (E. 1d; Präzisierung der in BGE 104 Ib 24 ff. publizierten Rechtsprechung).

Sachverhalt ab Seite 73

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Der Untersuchungsrichter des Kantons St. Gallen führte gegen F. eine Strafuntersuchung wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. F. wurde am 13. Februar 1990 in Untersuchungshaft genommen. Seit dem 9. April 1990 befindet er sich im vorzeitigen Strafvollzug in der Strafanstalt Saxerriet. Das Bezirksgericht St. Gallen sprach F. am 30. Oktober 1990 der wiederholten und fortgesetzten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz und der Begünstigung schuldig und verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe von 34 Monaten, abzüglich 56 Tage Untersuchungshaft. Gleichzeitig widerrief es den bedingten Strafvollzug hinsichtlich der gegen F. am 14. März 1989 ausgesprochenen Gefängnisstrafe von 17 Monaten. Gegen das Urteil des Bezirksgerichts erklärte F. am 3. Januar 1991 Berufung, mit der er beantragte, er sei von verschiedenen Vorwürfen freizusprechen und für die verbleibenden Straftaten mit einer 18 Monate nicht übersteigenden Freiheitsstrafe unter Gewährung des bedingten Strafvollzuges zu bestrafen. Den Widerruf des bedingten Strafvollzuges bezüglich der 17monatigen Freiheitsstrafe aus dem Jahre 1989 focht er nicht an. Am 22. Januar 1991 beantragte F. beim Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen "die bedingte Entlassung bzw. die Aufhebung des vorzeitigen Strafvollzuges" im Hinblick darauf, dass er demnächst zwei Drittel der
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unbestrittenen Strafe von 17 Monaten aus dem Jahre 1989 verbüsst haben werde. Er fügte bei, er sei mit einem vorzeitigen Strafvollzug hinsichtlich der "neuen" Freiheitsstrafe nicht einverstanden. Mit Verfügung vom 28. Januar 1991 lehnte der Untersuchungsrichter die Aufhebung des vorzeitigen Strafvollzuges ab. Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde von der Anklagekammer des Kantons St. Gallen am 8. Februar 1991 abgewiesen.
F. reichte gegen diesen Entscheid staatsrechtliche Beschwerde ein. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Der Beschwerdeführer macht geltend, der angefochtene Entscheid, mit dem die Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug verweigert worden sei, verletze das Grundrecht der persönlichen Freiheit sowie die Art. 5 und 6 EMRK .
Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen der Ablehnung eines Gesuches um Entlassung aus der Haft oder aus dem vorläufigen Strafvollzug erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht grundsätzlich nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind ( BGE 114 Ia 283 E. 3; BGE 112 Ia 162 E. 3b; BGE 98 Ia 308 ).
a) Gemäss Art. 100 Abs. 1 des Gesetzes über die Strafrechtspflege des Kantons St. Gallen kann der Untersuchungsrichter, sofern der Stand der Untersuchung es erlaubt, den vorzeitigen Strafvollzug anordnen, wenn der Verhaftete geständig ist, wenn eine längere, unbedingte Freiheitsstrafe mit Sicherheit erwartet werden kann und wenn der Verhaftete sein ausdrückliches Einverständnis erklärt. Die Anklagekammer führte im angefochtenen Entscheid aus, der vorzeitige Strafvollzug wäre dann aufzuheben, wenn er die Grenze von zwei Dritteln der zu erwartenden Strafe erreichen würde. Im vorliegenden Fall stelle sich die Frage, ob bei der Bestimmung dieser Grenze nur die schon im Jahre 1989 ausgefällte, jetzt vollziehbar erklärte Freiheitsstrafe von 17 Monaten in Betracht falle oder auch die im laufenden Strafverfahren zu erwartende Freiheitsstrafe zu berücksichtigen sei. Der Beschwerdeführer
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mache geltend, sein früheres Einverständnis habe sich nur auf den sich abzeichnenden Vollzug der im Jahre 1989 bedingt ausgefällten Gefängnisstrafe von 17 Monaten bezogen. Grundsätzlich beziehe sich aber das Einverständnis eines Angeschuldigten zunächst auf diejenige Strafe, mit der im laufenden Strafverfahren zu rechnen sei. Liege kein ausdrücklicher Vorbehalt beim Einverständnis vor, so umfasse dieses auch den "mit Sicherheit erwarteten" Widerruf des bedingten Strafvollzuges von früher rechtskräftig ausgefällten Strafen. Der Beschwerdeführer habe bei der Einvernahme durch den Untersuchungsrichter am 22. März 1990 sein Einverständnis zum vorzeitigen Strafantritt erklärt. Dieses enthalte weder einen Vorbehalt noch eine Einschränkung, und es bestünden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich nur auf die 17monatige Freiheitsstrafe bezogen hätte, deren Widerruf in Aussicht stand. Es sei deshalb von einem ungeteilten Einverständnis sowohl für die neu auszufällende Strafe als auch für die 17monatige Strafe auszugehen. Bei der Prognose hinsichtlich der Dauer der zu erwartenden unbedingten Freiheitsstrafe sei die im hängigen Verfahren ausgesprochene Strafe von 34 Monaten zur 17monatigen Freiheitsstrafe hinzuzuzählen. Entgegen der Meinung des Beschwerdeführers bilde nicht der Berufungsantrag den Massstab für die Prognose der zu erwartenden Strafe, sondern die von der ersten Instanz ausgefällte Strafe von 34 Monaten. Gehe man hievon aus, so bestehe zur Zeit kein Anlass, den vorzeitigen Strafvollzug aufzuheben. Als unbehelflich erachtete die Anklagekammer ferner den Einwand des Beschwerdeführers, er habe sein Einverständnis zum vorzeitigen Strafvollzug widerrufen. Sie wies unter Berufung auf das in BGE 104 Ib 24 ff. publizierte Urteil darauf hin, dass das ursprünglich erklärte Einverständnis des Beschwerdeführers zum vorzeitigen Strafvollzug nicht widerruflich sei.
b) In der staatsrechtlichen Beschwerde wird vorgebracht, der Beschwerdeführer hätte am 21. Februar 1991 (bedingt) entlassen werden müssen, wenn sich seine Zustimmung zum vorzeitigen Strafvollzug nur auf die 17monatige Strafe aus dem Jahre 1989 bezogen hätte oder wenn ein Widerruf der Zustimmung im Hinblick auf die im laufenden Verfahren zu erwartende Strafe zulässig wäre. Der Beschwerdeführer wirft der Anklagekammer vor, sie habe zu Unrecht angenommen, sein Einverständnis mit dem vorzeitigen Strafvollzug habe sich auf beide in Frage kommenden Freiheitsstrafen bezogen und ein Widerruf des Einverständnisses sei nicht zulässig. Er macht geltend, der Freiheitsentzug verstosse
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seit dem 21. Februar 1991 gegen das Grundrecht der persönlichen Freiheit und gegen Art. 5 EMRK . Soweit sich die Anklagekammer für die Aufrechterhaltung des vorzeitigen Strafvollzuges über den 21. Februar 1991 hinaus auf eine Prognose über die Aussichten des Berufungsverfahrens abgestützt habe, liege überdies eine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK vor.
c) Der vorzeitige Strafvollzug stellt seiner Natur nach eine Massnahme auf der Schwelle zwischen Strafverfolgung und Strafvollzug dar. Er soll ermöglichen, dass dem Angeschuldigten bereits vor der (rechtskräftigen) Urteilsfällung verbesserte Chancen auf Resozialisierung im Rahmen des Strafvollzuges geboten werden können. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und der herrschenden Lehre ist der vorzeitige Strafantritt mit dem verfassungsmässigen Recht der persönlichen Freiheit und den Garantien der EMRK nur bei ausdrücklicher Einwilligung des Betroffenen vereinbar (unveröffentlichte Urteile vom 1. Mai 1989 i.S. D., E. 3c, und vom 30. Mai 1983 i.S. L., E. 4c; BGE 106 Ia 407 f., BGE 104 Ib 26 f.; STEFAN TRECHSEL, Die Europäische Menschenrechtskonvention, ihr Schutz der persönlichen Freiheit und die schweizerischen Strafprozessrechte, Bern 1974, S. 283 ff.; MARTIN SCHUBARTH, Zur Rechtsnatur des vorläufigen Strafvollzuges, ZStR 96/1979, S. 305 f.; MARTIN SCHUBARTH, Die Artikel 5 und 6 der Konvention, insbesondere im Hinblick auf das schweizerische Strafprozessrecht, ZSR 94/1975 I, S. 470; MATTHIAS HÄRRI, Zur Problematik des vorzeitigen Strafantritts, Diss. Basel 1987, S. 121 ff.). Es kann beim vorzeitigen Strafantritt freiwillig auf den durch Art. 5 EMRK garantierten Freiheitsschutz verzichtet werden. Als freiwillig ist ein solcher Verzicht zu betrachten, wenn die Zustimmung aus eigenem, ungehindertem Willen erklärt wird ( BGE 104 Ib 27 E. 3a). Die Zustimmung des Angeschuldigten zum vorzeitigen Strafvollzug kann jedoch nur dann als verbindlich anerkannt werden, wenn sie nicht nur konkludent, sondern ausdrücklich und in Kenntnis der Rechtslage erteilt wird (unveröffentlichte Urteile vom 1. Mai 1989 i.S. D., E. 3d, und vom 30. Mai 1983 i.S. L., E. 5a).
Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer seine Zustimmung zum vorzeitigen Strafvollzug im Rahmen der Einvernahme vom 22. März 1990 erklärt hat. Umstritten ist dagegen, ob sich diese Erklärung sowohl auf die im laufenden Strafverfahren zu erwartende Strafe als auch auf die im Jahre 1989 bedingt ausgefällte Strafe von 17 Monaten bezog. Der Beschwerdeführer
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vertritt im Gegensatz zur Anklagekammer die Auffassung, seine Zustimmung zum vorzeitigen Strafvollzug könne lediglich auf die 17monatige Freiheitsstrafe bezogen werden. Er führt aus, zwar sei ihm anlässlich der fraglichen Einvernahme mangels fachkundiger Beratung vieles nicht klar gewesen. Wegen seiner neuen Delinquenz habe er akzeptieren müssen, dass ein Vollzug der im Jahre 1989 bedingt ausgefällten Strafe nicht zu umgehen sei. Seine damalige Stellungnahme könne aber nicht so interpretiert werden, dass er sich gerade mit dem Vollzug beider Freiheitsstrafen einverstanden erklärt habe. Gemäss dem Protokoll über die Einvernahme vom 22. März 1990 machte der Untersuchungsrichter den Beschwerdeführer im Laufe der Einvernahme darauf aufmerksam, in Anbetracht der Tatsache, dass er - der Beschwerdeführer - innert der Probezeit rückfällig geworden sei, müsse der bedingte Strafvollzug hinsichtlich der im Jahre 1989 ausgesprochenen Gefängnisstrafe von 17 Monaten voraussichtlich widerrufen werden. Der Beschwerdeführer antwortete, dass er dazu eigentlich nicht viel sagen könne und dass er wieder dumm in die Sache hineingerutscht sei. Dem Protokoll ist im weiteren zu entnehmen, dass der Untersuchungsrichter dem Beschwerdeführer am Schluss der Einvernahme bekanntgab, er habe für ihn einen Platz in der Strafanstalt Saxerriet reserviert, und ihn fragte, ob er mit dem vorzeitigen Strafvollzug einverstanden sei, worauf der Beschwerdeführer erklärte, "ja, damit bin ich einverstanden". Es trifft zwar zu, dass dieser Erklärung kein Vorbehalt beigefügt worden ist. Gleichwohl erscheint es durchaus zweifelhaft, ob sich das Einverständnis des Beschwerdeführers wirklich auf den Vollzug beider hier zur Diskussion stehenden Strafen bezog. Da der Untersuchungsrichter den Beschwerdeführer ausdrücklich auf den in Aussicht stehenden Vollzug der 17monatigen Strafe aus dem Jahre 1989 hingewiesen hatte, nicht aber auf eine zu erwartende unbedingte Strafe im laufenden Verfahren, ist es sehr wohl denkbar, dass der Beschwerdeführer, der in der fraglichen Einvernahme ohne Rechtsbeistand war, glaubte, die am Schluss der Einvernahme gestellte Frage nach dem Einverständnis mit dem vorzeitigen Strafantritt beziehe sich nur auf die Strafe aus dem Jahre 1989. In Anbetracht des Umstandes, dass der Angeschuldigte mit der Zustimmung zum vorzeitigen Strafvollzug freiwillig in wesentlichem Mass auf den durch Art. 5 EMRK garantierten Freiheitsschutz verzichtet, kann die Zustimmung nur dann als verbindlich anerkannt werden, wenn sie klar und unmissverständlich ist. Bei Unklarheiten darf die
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Zustimmungserklärung nicht zum Nachteil des Angeschuldigten ausgelegt werden. Im hier zu beurteilenden Fall stand aufgrund der geschilderten Umstände nicht klar fest, ob sich das Einverständnis des Beschwerdeführers sowohl auf den Vollzug der Strafe aus dem Jahre 1989 als auch auf denjenigen der im laufenden Verfahren zu erwartenden Strafe bezog. Bei dieser Situation war es mit Verfassung und Konvention unvereinbar, wenn die Anklagekammer zu Lasten des Beschwerdeführers annahm, seine Zustimmungserklärung vom 22. März 1990 habe sich entgegen seiner Behauptung nicht bloss auf die frühere Strafe bezogen, sondern auch auf die im hängigen Verfahren auszufällende Strafe. Durfte aber das Einverständnis des Beschwerdeführers zum vorzeitigen Strafvollzug lediglich auf die 17monatige Strafe aus dem Jahre 1989 bezogen werden, so verletzte die Anklagekammer das Grundrecht der persönlichen Freiheit und Art. 5 EMRK , wenn sie am 21. Februar 1991 erwog, es bestehe zur Zeit kein Anlass, den vorzeitigen Strafvollzug aufzuheben, da er noch nicht zwei Drittel der Dauer der beiden zu erwartenden Strafen erreicht habe. Schon aus diesem Grund ist die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben.
d) Die Anklagekammer hat den Einwand des Beschwerdeführers, er habe sein Einverständnis zum vorzeitigen Strafvollzug widerrufen, als unbehelflich erachtet. Sie stützte sich dabei auf das in BGE 104 Ib 24 ff. publizierte Urteil, wonach das einmal erteilte Einverständnis mit dem vorzeitigen Strafvollzug unwiderruflich sei. Der Beschwerdeführer bezeichnet diese Praxis als nicht mehr haltbar und konventionswidrig.
Das Bundesgericht hat im erwähnten Urteil ausgeführt, es bedeute keine willkürliche Auslegung des § 429 Abs. 1 der zürcherischen Strafprozessordnung (StPO/ZH), wenn die vom Angeschuldigten nach dieser Vorschrift abgegebene Zustimmungserklärung zum vorzeitigen Strafvollzug als unwiderruflich erachtet werde ( BGE 104 Ib 27 E. 3b). Ferner stellte es in der nicht publizierten Erwägung 4 dieses Urteils fest, ob der Strafvollzug zu unterbrechen sei, entscheide sich unabhängig davon, ob er aufgrund eines rechtskräftigen Urteils oder im Anschluss an eine Zustimmungserklärung gemäss § 429 Abs. 1 StPO /ZH angeordnet worden sei, einzig nach Art. 40 Abs. 1 StGB . Für eine analoge Anwendung von § 49 Abs. 2 StPO /ZH, wonach die Untersuchungshaft die Dauer der mutmasslichen Freiheitsstrafe nicht übersteigen darf, bleibe deshalb kein Raum. Art. 5 Ziff. 3 EMRK sei nicht anwendbar, weil
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sich diese Bestimmung nach ihrem klaren Wortlaut ausschliesslich auf Personen beziehe, die gemäss Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK festgenommen worden seien bzw. in Haft gehalten würden.
In zwei unveröffentlichten Urteilen vom 19. Dezember 1988 i.S. P. (E. 1a) und vom 1. Mai 1989 i.S. D. (E. 3b) hat das Bundesgericht indessen erklärt, aus dem Umstand, dass der Angeschuldigte freiwillig in den vorzeitigen Strafvollzug eintrete, dürfe nicht geschlossen werden, dass eine Unterbrechung bzw. Aufhebung dieses Vollzuges nur noch unter den für den ordentlichen Strafvollzug geltenden, engen Voraussetzungen möglich sein solle. Der vorzeitige Strafvollzug habe seine Grundlage nicht in einem rechtskräftigen Urteil, sondern beruhe auf einem Gesuch des Angeschuldigten. Anders als beim ordentlichen Strafvollzug sei über die Dauer der Freiheitsstrafe noch nicht endgültig entschieden worden. Bleibe aber bis zum rechtskräftigen Urteil die Ungewissheit über die Strafdauer bestehen, müsse analog den Regeln über die Untersuchungs- und Sicherheitshaft ein jederzeitiges Haftentlassungsgesuch möglich sein; insbesondere habe der Angeschuldigte Anspruch auf Überprüfung der Verhältnismässigkeit und gegebenenfalls auf Entlassung, wenn die Dauer der bisher ausgestandenen Haft in grosse Nähe der mutmasslichen Freiheitsstrafe gerückt sei. Mit diesen Überlegungen wurde die in der nicht publizierten Erwägung 4 zu BGE 104 Ib 24 vertretene Auffassung aufgegeben, wonach eine Unterbrechung bzw. Aufhebung des vorzeitigen Strafvollzuges nur unter den in Art. 40 Abs. 1 StGB genannten Voraussetzungen zulässig sei. Was die Frage des Widerrufs der Zustimmungserklärung zum vorzeitigen Strafvollzug anbelangt, so hat das Bundesgericht in einem unveröffentlichten Urteil vom 30. Mai 1983 i.S. L. (E. 4c) erklärt, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Betroffene seine Zustimmung zum vorzeitigen Strafantritt jederzeit widerrufen könne. Zu dieser Frage ist hier zu bemerken, dass es kaum sinnvoll wäre, wenn der provisorische Strafantritt zwar verlangt und angetreten wird, der Gefangene jedoch entlassen werden müsste, sobald ihm aus irgendeinem Grund die konkreten Vollzugsverhältnisse nicht zusagen (vgl. nicht amtlich veröffentlichte Erwägung 1 zu BGE 102 Ia 379 ff., wiedergegeben bei SCHUBARTH, Vorläufiger Strafvollzug, S. 300 f.; in gleichem Sinne SCHUBARTH, Vorläufiger Strafvollzug, S. 307). Es muss somit daran festgehalten werden, dass grundsätzlich die vom Angeschuldigten erklärte Zustimmung zum vorzeitigen Strafvollzug nicht widerrufen werden kann. Der Angeschuldigte
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ist indessen berechtigt, jederzeit ein Begehren um Entlassung aus der Haft bzw. dem vorzeitigen Strafvollzug zu stellen. Da dieser Vollzug seine Grundlage nicht in einem rechtskräftigen gerichtlichen Urteil hat, kann er gegen den Willen des Betroffenen nur so lange gerechtfertigt sein, als die Haftvoraussetzungen gegeben sind (SCHUBARTH, Vorläufiger Strafvollzug, S. 302). Die Behörde hat somit auf ein Gesuch um Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug hin zu prüfen, ob die Haftvoraussetzungen (dringender Tatverdacht sowie Flucht-, Kollusions- oder Wiederholungsgefahr) gegeben sind und ob die Dauer der Haft bzw. des vorzeitigen Strafvollzuges nicht in grosse Nähe der konkret zu erwartenden Strafe gerückt ist. Ergibt die Prüfung, dass Haftgründe bestehen und dass die Dauer der Haft nicht übermässig ist, so lässt sich der vorläufige Strafvollzug ohne weiteres auf Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK abstützen. Es handelt sich dann im Grunde nur um eine andere Form des (zulässigen) Vollzuges der Untersuchungshaft (SCHUBARTH, Die Artikel 5 und 6 der Konvention, S. 470).
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Anklagekammer zu Recht festgehalten hat, die vom Beschwerdeführer am 22. März 1990 erklärte Zustimmung zum vorzeitigen Strafvollzug sei nicht widerruflich. Sofern sie aber - wovon aufgrund der Erwägungen des angefochtenen Entscheids ausgegangen werden kann - aus der Unwiderruflichkeit der Zustimmungserklärung den Schluss gezogen hat, eine Überprüfung der Haftvoraussetzungen könne mit der Begründung abgelehnt werden, der Betroffene befinde sich bereits im vorläufigen Strafvollzug, so lässt sich das mit dem verfassungsmässigen Recht der persönlichen Freiheit und mit Art. 5 EMRK nicht vereinbaren. Auch aus diesem Grunde ist die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben.

2. Die Aufhebung des Entscheids der Anklagekammer hat nicht ohne weiteres zur Folge, dass der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen werden müsste. Die Anklagekammer wird zu prüfen haben, ob die Haftvoraussetzungen nach wie vor gegeben sind. Sollte sie der vom Untersuchungsrichter in seiner ihr unterbreiteten Vernehmlassung vom 12. Februar 1991 geäusserten Ansicht zustimmen, wonach Fortsetzungsgefahr bestehe, so wäre es zulässig, den Beschwerdeführer in Sicherheitshaft zu nehmen. Die Frage der übermässigen Dauer der bisherigen Haft hat die Anklagekammer im angefochtenen Entscheid bereits geprüft und verneint. Die betreffenden Erwägungen lassen sich nicht beanstanden. Entgegen
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der Meinung des Beschwerdeführers kann der kantonalen Behörde keine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung zur Last gelegt werden.

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