Urteilskopf
117 IV 124
26. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 7. Juni 1991 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen K. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
1.
Art. 269 und
Art. 270 BStP
; Legitimation zur Nichtigkeitsbeschwerde.
Der öffentliche Ankläger des Kantons kann mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde die Frage aufwerfen, ob die kantonale Vorinstanz eine bundesrechtliche Strafbestimmung zu Recht nicht angewendet hat, weil eine Verurteilung mit der EMRK nicht zu vereinbaren wäre (E. 1).
2.
Art. 63 ff. und
Art. 70 ff. StGB
,
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
.
Verletzung des Beschleunigungsgebotes im Strafverfahren; Sanktionsmöglichkeiten (z.B. Herabsetzung der Strafe, Verzicht auf Strafe, Verfahrenseinstellung). Verpflichtung des Richters, die Verletzung im Urteil ausdrücklich festzuhalten und darzulegen, wie und in welchem Ausmass er diesen Umstand berücksichtigt hat (E. 3 und 4).
Das Obergericht des Kantons Zürich sprach K. am 28. Juni 1989 des Betruges, betrügerischen Konkurses, der fortgesetzten Urkundenfälschung und der fortgesetzten Erschleichung einer falschen Beurkundung schuldig und bestrafte ihn mit 15 Monaten Gefängnis, bedingt aufgeschoben bei einer Probezeit von zwei Jahren. Der Verurteilung liegen Ereignisse aus den Jahren 1976 bis 1978 zugrunde. Die Strafuntersuchung war im Juli 1977 eröffnet worden.
Gegen diesen Entscheid führte K. kantonale Nichtigkeitsbeschwerde. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich hiess diese am 17. Dezember 1990 gut, hob das Urteil des Obergerichts auf und trat wegen der den Strafverfolgungsbehörden anzulastenden Verfahrensverzögerung auf die Anklage gegen K. nicht ein (Wiedergabe des Urteils in SJZ 1991 S. 154 ff.).
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt dagegen eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen mit der Auflage, dass auf die Anklage einzutreten sei. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
1.
a) Der angefochtene Entscheid lautet auf Nichteintreten auf eine Anklage. Der Sache nach handelt es sich dabei um einen Einstellungsbeschluss im Sinne von
Art. 268 Ziff. 2 BStP
. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist damit zulässig.
b) Die Beschwerdeführerin rügt, der angefochtene Entscheid verletze Bundesrecht, da das Kassationsgericht - im Gegensatz zum Obergericht - die massgebenden Verfahrensvorschriften der
Art. 70, 71 und 72 StGB
nicht angewendet habe; es könne nicht Aufgabe des Richters sein, jedes Bundesgesetz auf seine Übereinstimmung mit der EMRK zu überprüfen. Die Vorinstanz ging in der Tat davon aus, es gehe letztlich um die materiellrechtliche Frage, in welchem Ausmass sich die Verfahrensverzögerung auf die weitere Verfolgung des staatlichen Strafanspruchs auswirke und gegebenenfalls den staatlichen Strafanspruch "zum Untergang bringen" könne.
Im Ergebnis hat die Vorinstanz die Strafbestimmungen des eidgenössischen Rechts, deren Verletzung dem Beschwerdegegner angelastet wird, nicht angewendet mit der Begründung, unter den konkreten Umständen ergebe sich die Pflicht zur Verfahrenseinstellung aus höherrangigem Recht. Damit steht die Anwendung bzw. Nichtanwendung von Bundesrecht zur Diskussion. Die Frage, ob eine kantonale Instanz eine bundesrechtliche Strafbestimmung zu Recht nicht angewendet hat, weil eine Verurteilung mit der EMRK nicht zu vereinbaren wäre, kann daher mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde aufgeworfen werden (vgl.
BGE 114 IV 119
E. bb). Auf die Beschwerde ist deshalb einzutreten.
2.
Nach der von der Beschwerdeführerin geteilten Ansicht der Vorinstanz dauerte das gegen den Beschwerdegegner geführte Verfahren zu lange, und hat dieser die Verzögerung nicht zu vertreten. Die Strafuntersuchung wurde im Juli 1977 eröffnet, die Anklage im Dezember 1984 erhoben und am 19. Februar 1986 zur Änderung und Ergänzung an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen. Nach Eingang der verbesserten Anklage führte das Obergericht die Hauptverhandlung im April 1988 durch und fällte sein Urteil am 28. Juni 1989. Das begründete Urteil wurde am 9. November 1989 zugestellt. Das Kassationsgericht entschied weitere eineinhalb Jahre nach dem erstinstanzlichen Urteil.
3.
Gemäss
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache innert einer angemessenen Frist gehört wird. Dieses sogenannte Beschleunigungsgebot gilt insbesondere auch im Strafverfahren. Die Frist, deren Angemessenheit zu beachten ist, beginnt mit der offiziellen amtlichen Mitteilung der zuständigen Behörde an den Betroffenen, dass ihm die Begehung einer Straftat angelastet werde (vgl. den Fall Eckle, Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 15. Juli 1982, Publications de la Cour européenne des Droits de l'homme, Série A Vol. 51 = EuGRZ 1983, S. 371 ff.; MIEHSLER/VOGLER, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1986,
Art. 6 N 313
). Es ist sachgerecht, auf diesen Zeitpunkt abzustellen, da der Betroffene von der Bekanntgabe des Schuldvorwurfes an dem Druck und den Belastungen strafprozessualer Verfolgungsmassnahmen ausgesetzt ist (MIEHSLER/VOGLER, a.a.O.).
Der Endzeitpunkt, auf welchen es für die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ankommen soll, ist nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte die letzte Entscheidung in der Sache; insbesondere sollen auch alle Verfahren vor Rechtsmittelinstanzen, einschliesslich Rückweisungen und Kassationen, mitberücksichtigt werden (MIEHSLER/VOGLER, a.a.O. N 314 mit Hinweisen). Ob dies in dieser allgemeinen Form zutreffend ist, erscheint fraglich (vgl. MIEHSLER/VOGLER, a.a.O. zur abweichenden deutschen Praxis, wonach nur die Verfahrensdauer bis zur erstinstanzlichen Entscheidung in Betracht gezogen wird und insbesondere Verfassungsbeschwerden die relevante Verfahrensdauer nicht verlängern).
Nach der Rechtsprechung der Strassburger Organe gibt es keine bestimmte Zeitgrenzen, deren Überschreitung ohne weiteres eine
BGE 117 IV 124 S. 127
Verletzung des Beschleunigungsgebotes zur Folge hat (MIEHSLER/VOGLER, a.a.O. N 317). Im vorliegenden Fall haben beide kantonalen Instanzen unangefochten eine Verletzung der angemessenen Verfahrensdauer zum Zeitpunkt des obergerichtlichen, erstinstanzlichen Urteils bejaht. Davon ist auszugehen.
4.
a) Das Bundesrecht kennt keine ausdrückliche Bestimmung, wie der Verletzung des Beschleunigungsgebotes in Strafsachen Rechnung zu tragen ist. Auf den Zeitablauf nehmen Bezug das Institut der Verjährung (
Art. 70 ff. StGB
) sowie die Möglichkeit der Strafmilderung, wenn verhältnismässig lange Dauer seit der Tat verstrichen ist und der Täter sich überdies wohlverhalten hat (
Art. 64 Abs. 8 StGB
). Das Kriterium der angemessenen Dauer des Verfahrens wird dabei nicht berücksichtigt. Zu Recht hat deshalb die Vorinstanz angenommen, dass das Institut der Verjährung, welche ausschliesslich auf die Dauer seit der Tat abstellt, nicht auf die Verletzung des Beschleunigungsgebotes zugeschnitten ist. Dasselbe gilt für den Strafmilderungsgrund der verhältnismässig langen Dauer seit der Tat, der ebenfalls nicht Rücksicht nimmt auf die Angemessenheit der Verfahrensdauer, nur bei Wohlverhalten des Täters in Betracht kommt und nach der Rechtsprechung überdies nur dann anwendbar ist, wenn die relative Verjährung nahe ist (
BGE 115 IV 96
mit Hinweis). Diese beiden Gesichtspunkte haben mit der unangemessenen Verfahrensdauer nichts zu tun, denn ein Verfahren kann auch unzulässig verzögert worden sein, wenn sich der Täter in der Zwischenzeit nicht wohlverhalten hat, und ohne dass die Verjährung nahe ist.
Die EMRK selbst sieht eine eigenständige Sanktion für die Verletzung des Beschleunigungsgebotes ebenfalls nicht vor. Mit der Individualbeschwerde kann der Betroffene nur die deklaratorische Feststellung einer Verletzung von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
und die Festsetzung einer Entschädigung erwirken (MIEHSLER/VOGLER, a.a.O. N 327). Zu Recht wird jedoch angenommen, dass die Verletzung des Beschleunigungsgebotes nicht folgenlos bleiben soll.
Die Schweiz ist jedenfalls zur Wiedergutmachung im Rahmen ihrer gesetzlichen Möglichkeiten verpflichtet (vgl. MIEHSLER/VOGLER, a.a.O. N 328). Wie dargelegt, bestehen jedoch in dieser Hinsicht, beschränkt man sich auf die ausdrücklich geregelten Rechtsfolgen, bundesrechtlich keine ausreichenden Sanktionsmöglichkeiten, soweit nicht im Einzelfall zufolge Eintritts der absoluten Verjährung das Verfahren ohnehin einzustellen ist oder
BGE 117 IV 124 S. 128
im Rahmen der Strafzumessung der durch die Verfahrensverzögerung eingetretenen Unbill ausreichend Rechnung getragen werden kann.
b) Es stellt sich deshalb die Frage, ob aufgrund der EMRK von Bundesrechts wegen in freier Rechtsfindung praeter legem weitere Sanktionsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen sind.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist zu vermuten, dass der eidgenössische Gesetzgeber staatsvertragliche Verpflichtungen beachten wollte, es sei denn, er habe einen Widerspruch zum internationalen Recht bewusst in Kauf genommen (
BGE 99 Ib 39
ff.; bestätigt in
BGE 112 II 13
,
BGE 116 IV 268
E. 3cc). Hinzu kommt, dass sich die Eidgenossenschaft gemäss Art. 27 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (SR 0.111) nicht auf ihr innerstaatliches Recht als Rechtfertigung einer Vertragsverletzung berufen darf (
BGE 116 IV 269
mit Hinweisen).
Mit der Ratifikation der europäischen Menschenrechtskonvention ist die Schweiz die Verpflichtung eingegangen, primär eine überlange Verfahrensdauer zu vermeiden und sekundär im Falle einer Verletzung dieser Pflicht die dem Betroffenen entstandenen Nachteile soweit wie möglich auszugleichen. Es ist nicht anzunehmen, dass der eidgenössische Gesetzgeber sich in Widerspruch zu diesen Pflichten stellen wollte. Soweit also im Einzelfall einer Verletzung des Beschleunigungsgebotes nicht dadurch Rechnung getragen werden kann, dass das Verfahren wegen Verjährung eingestellt oder die Strafe wegen des Zeitablaufes gemildert wird, ist es prinzipiell zulässig, aus der EMRK ergänzende Rechtsgrundsätze herzuleiten.
c) Nach Auffassung der europäischen Menschenrechtskommission ist ein Recht auf Verfahrenseinstellung aus
Art. 6 Ziff. 1 EMRK
nicht grundsätzlich auszuschliessen, doch kommt es, wenn überhaupt, nur in ganz aussergewöhnlichen Fällen in Betracht (MIEHSLER/VOGLER, a.a.O. N 329; ebenso das deutsche Bundesverfassungsgericht, EuGRZ 1984, S. 94). MIEHSLER/VOGLER stellen die Rechtslage wie folgt dar: In Fällen, in denen das Ausmass der Verfahrensverzögerung besonders schwer wiege und in denen die Dauer des Verfahrens zudem mit besonderen Belastungen für den Beschuldigten (beispielsweise mit Untersuchungshaft von längerer Dauer) verbunden gewesen sei, könne aus einer Verletzung des Beschleunigungsgebotes ein Verfahrenshindernis hergeleitet werden. Ein solches komme jedoch erst dann in Betracht, wenn in Anwendung und Auslegung des Straf- und Strafverfahrensrechts
BGE 117 IV 124 S. 129
kein hinreichender Ausgleich für die Verletzung des Beschleunigungsgebotes gefunden werden könne. Die Autoren verweisen auf das Absehen von Strafe sowie auf die Möglichkeit, bei der Strafzumessung und gegebenenfalls bei der Gewährung des bedingten Strafvollzuges die Verletzung des Beschleunigungsgebotes angemessen zu berücksichtigen. Eine floskelhafte Wendung in den Urteilsgründen zur Strafzumessung oder die blosse Erwähnung der zu langen Zeitspanne als eines von mehreren Strafmilderungsgründen reiche allerdings nicht aus; vielmehr sei die Verletzung des Beschleunigungsgebotes ausdrücklich festzustellen und näher darzulegen, in welchem Ausmass dieser Umstand berücksichtigt wurde.
d) Zusammenfassend sind bei einer Verletzung des Beschleunigungsgebotes folgende Sanktionen möglich:
- Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung im Rahmen der Strafzumessung,
- Einstellung des Verfahrens zufolge eingetretener Verjährung,
- Schuldigsprechung des Täters unter gleichzeitigem Verzicht auf Strafe sowie
- Verfahrenseinstellung (als ultima ratio in extremen Fällen).
Überdies ist der Richter verpflichtet, die Verletzung des Beschleunigungsgebotes in seinem Urteil ausdrücklich festzuhalten und gegebenenfalls darzulegen, in welchem Ausmass er diesen Umstand berücksichtigt hat.
e) Nach dem Gesagten erscheint die Auffassung der Vorinstanz, in extremen Fällen komme als Sanktion für die Verletzung des Beschleunigungsgebotes nur noch die Verfahrenseinstellung in Betracht, nicht als bundesrechtswidrig. Allerdings kann diese Möglichkeit nur als ultima ratio in Erwägung gezogen werden. Nur wenn dargelegt und begründet wird, weshalb der Verletzung des Beschleunigungsgebotes nicht auch auf dem Wege der Strafzumessung oder gegebenenfalls dadurch Rechnung getragen werden kann, dass der Betroffene zwar schuldig gesprochen, von Strafe aber Umgang genommen wird, darf von der Möglichkeit einer Verfahrenseinstellung Gebrauch gemacht werden.
Bei der Frage nach der Sanktion einer Verletzung des Beschleunigungsgebotes ist überdies folgenden Gesichtspunkten Rechnung zu tragen. Zu berücksichtigen ist einerseits, wie schwer der Beschuldigte durch die Verfahrensverzögerung getroffen wurde, andererseits, wie gravierend die ihm vorgeworfenen Straftaten sind und welche Strafe ausgesprochen werden müsste, wenn keine
BGE 117 IV 124 S. 130
Verletzung des Beschleunigungsgebotes vorliegen würde. Nicht ausser acht gelassen werden dürfen auch die Interessen der Geschädigten, die gestützt auf eine rechtskräftige Verurteilung des Beschuldigten ihre Schadenersatzbegehren wesentlich leichter geltend machen können als ohne eine solche; die Geschädigten haben aber ebensowenig wie der Angeschuldigte zu vertreten, dass die Strafverfolgungsbehörden das Beschleunigungsgebot missachtet haben. Gerade die neueren Bestrebungen, die Interessen des Opfers im Strafverfahren stärker zu berücksichtigen (vgl.
Art. 64ter BV
sowie Botschaft und Entwurf eines Opferhilfegesetzes, BBl 1990 II 961 ff., III 1008), sind ein Zeichen dafür, dass eine Verfahrenseinstellung ohne Verurteilung jedenfalls dann problematisch ist, wenn unerledigte Geschädigtenansprüche bestehen.
f) Im Lichte dieser Grundsätze erweist sich die angefochtene Entscheidung als bundesrechtswidrig. Sie betont zwar, dass die Sanktion der Verfahrenseinstellung nur als ultima ratio in Betracht komme, ohne jedoch zu begründen, weshalb eine weniger weitgehende Sanktion im vorliegenden Fall zum Ausgleich der erlittenen Unbill nicht ausreicht. Ebenso geht sie nicht darauf ein, ob und inwieweit Geschädigteninteressen auf dem Spiel stehen. Sie legt auch nicht über abstrakte Erwägungen hinausgehend dar, dass und inwieweit der Beschwerdegegner durch die Verfahrensverzögerung konkret betroffen wurde. Die Vorinstanz geht schliesslich nicht darauf ein, dass nach Auffassung des Obergerichtes für die Straftaten des Beschwerdegegners an sich eine mehrjährige Zuchthausstrafe hätte ausgesprochen werden müssen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz nicht zu prüfen erlauben, ob im vorliegenden Fall eine Verfahrenseinstellung als Sanktion für die Verletzung des Beschleunigungsgebotes angezeigt war. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist deshalb gutzuheissen und das Urteil des Kassationsgerichtes aufzuheben.