Urteilskopf
117 V 202
25. Auszug aus dem Urteil vom 1. Juli 1991 i.S. Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen gegen M. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
Regeste
Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG
,
Art. 14a ELV
.
- Bei der Festsetzung des anrechenbaren Einkommens Teilinvalider haben sich die EL-Organe grundsätzlich an die Invaliditätsbemessung durch die Invalidenversicherung zu halten und eigene Abklärungen nur bezüglich invaliditätsfremder Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit vorzunehmen. Frage offengelassen, wie vorzugehen ist, wenn sich der Gesundheitszustand seit der letzten Beurteilung durch die Invalidenversicherung erheblich verschlechtert hat (Erw. 2b).
- Verbindlich für die EL-Organe ist auch die im Einzelfall massgebende Methode der Invaliditätsbemessung. Bei Teilerwerbstätigen, die zusätzlich in einem Aufgabenbereich nach
Art. 5 Abs. 1 IVG
tätig sind (gemischte Bemessungsmethode), ist bezüglich des Verhältnisses zwischen Erwerbs- und Nichterwerbstätigkeit auf die entsprechende Aufteilung bei der Invaliditätsbemessung durch die Invalidenversicherung abzustellen und das gemäss
Art. 14a Abs. 2 ELV
anrechenbare Einkommen nach dem Anteil der Erwerbstätigkeit festzusetzen (Erw. 2c).
Aus den Erwägungen:
1.
a) Gemäss
Art. 2 Abs. 1 und 5 ELG
haben in der Schweiz wohnhafte Schweizer Bürger, denen mindestens eine halbe Rente der Invalidenversicherung zusteht, Anspruch auf Ergänzungsleistungen, soweit ihr anrechenbares Jahreseinkommen einen bestimmten Grenzbetrag nicht erreicht. Dabei entspricht die jährliche Ergänzungsleistung dem Unterschied zwischen der massgebenden Einkommensgrenze und dem anrechenbaren Jahreseinkommen (
Art. 5 Abs. 1 ELG
).
Nach
Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG
umfasst das anrechenbare Einkommen Einkünfte und Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist. Diese Bestimmung ist praxisgemäss auch auf die Ermittlung des anrechenbaren Einkommens von Teilinvaliden anwendbar, die von einer Verwertung der verbleibenden Erwerbsfähigkeit absehen (
BGE 115 V 90
Erw. 1).
b) Mit der zweiten Revision des IVG hat der Bundesrat in
Art. 3 Abs. 6 ELG
die Kompetenz erhalten, nähere Vorschriften u.a. über die Anrechnung von Einkommen aus einer zumutbaren Erwerbstätigkeit bei Teilinvaliden zu erlassen. Gestützt auf diese Delegationsnorm hat er in
Art. 14a ELV
(in Kraft seit 1. Januar 1988) bestimmt, dass bei diesen Personen grundsätzlich der Betrag des Erwerbseinkommens anzurechnen ist, den sie im massgebenden Zeitabschnitt tatsächlich verdient haben (Abs. 1). Nach Abs. 2 ist Invaliden unter 60 Jahren als Erwerbseinkommen jedoch mindestens anzurechnen der um einen Drittel erhöhte Betrag der
BGE 117 V 202 S. 204
Einkommensgrenze für Alleinstehende bei einem Invaliditätsgrad von 40 bis 49 Prozent (lit. a), der Betrag dieser Einkommensgrenze bei einem Invaliditätsgrad von 50 bis 59 Prozent (lit. b) und zwei Drittel dieses Betrages bei einem Invaliditätsgrad von 60 bis 66 2/3 Prozent (lit. c). Abs. 2 ist nicht anwendbar, wenn die Invalidität von Nichterwerbstätigen aufgrund von
Art. 27 IVV
festgelegt wurde oder wenn der Invalide in einer geschützten Werkstätte im Sinne von
Art. 73 IVG
arbeitet (Abs. 3).
2.
a) Nach der Rechtsprechung kann im Hinblick auf die berechtigten Interessen der Vereinfachung und der rascheren Behandlung von Einzelfällen grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass es dem teilinvaliden Versicherten vermutungsweise möglich und zumutbar ist, im Rahmen seines von der Invalidenversicherungs-Kommission festgestellten verbliebenen Leistungsvermögens die in
Art. 14a ELV
festgelegten Grenzbeträge zu erzielen. Die gesetzliche Vermutung kann durch den Beweis des Gegenteils umgestossen werden, indem der Ansprecher auch Umstände geltend machen kann, welche bei der Bemessung der Invalidität ohne Bedeutung waren, ihm jedoch verunmöglichen, seine theoretische Restarbeitsfähigkeit wirtschaftlich zu nutzen. Denn es gibt erfahrungsgemäss Fälle, in denen die Invalidenversicherung zu Recht bloss eine halbe Rente zuspricht, obwohl der Versicherte aus invaliditätsfremden Gründen nicht in der Lage ist, die verbliebene Arbeitsfähigkeit tatsächlich zu verwerten. Müssten sich auch solche Personen die schematisch festgelegten hypothetischen Erwerbseinkommen anrechnen lassen, hätte dies zur Folge, dass
Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG
seines Sinnes entleert würde, da diese Bestimmung nur die Anrechnung von Einkünften vorschreibt, auf die der Ansprecher verzichtet hat. Massgebend für die Berechnung der Ergänzungsleistung ist daher auch unter der Herrschaft des neuen
Art. 14a ELV
dasjenige hypothetische Einkommen, das der Versicherte tatsächlich realisieren könnte (
BGE 115 V 88
, ZAK 1989 S. 568).
Bei der Prüfung der Frage, ob dem teilinvaliden Versicherten die Ausübung einer Tätigkeit in grundsätzlicher wie masslicher Hinsicht möglich und zumutbar ist, sind, entsprechend der Zielsetzung der Ergänzungsleistungen, sämtliche Verumständungen zu berücksichtigen, welche die Realisierung eines Einkommens verhindern oder erschweren, wie Alter, mangelnde Ausbildung oder Sprachkenntnisse, aber auch persönliche Umstände, die es dem Leistungsansprecher verunmöglichen, seine verbliebene Erwerbsfähigkeit
BGE 117 V 202 S. 205
in zumutbarer Weise auszunützen (ZAK 1989 S. 572 lit. c, 1984 S. 98 Erw. 2b).
b) Bei der Festsetzung des anrechenbaren Erwerbseinkommens Teilinvalider gemäss
Art. 14a Abs. 2 ELV
hat die Ausgleichskasse von der Invaliditätsbemessung der Invalidenversicherung auszugehen. Zu eigenen Abklärungen ist sie nur gehalten, wenn aus den Akten hervorgeht, dass der Versicherte ausserstande ist, das fragliche Einkommen zu erzielen, oder wenn der Versicherte selber geltend macht, er sei nicht in der Lage, ein entsprechendes Erwerbseinkommen zu erzielen. Alsdann hat die Ausgleichskasse in Nachachtung des das Verwaltungsverfahren beherrschenden Untersuchungsgrundsatzes und unter Wahrung des rechtlichen Gehörs abzuklären, ob Gründe vorliegen, welche die Vermutungsfolge des
Art. 14a und b ELV
umzustossen vermögen (
BGE 117 V 153
). Dabei hat sie lediglich zu prüfen, ob invaliditätsfremde Gründe - wie Alter, mangelnde Ausbildung oder fehlende Sprachkenntnisse - bestehen (vgl. hiezu
BGE 107 V 21
Erw. 2c), welche die Verwertung der verbleibenden Erwerbsfähigkeit verunmöglichen. Dagegen ist es nicht Sache der für die Festsetzung der Ergänzungsleistungen zuständigen Ausgleichskasse, den nach Massgabe der invalidenversicherungsrechtlich relevanten Erwerbsunfähigkeit ermittelten Invaliditätsgrad zu überprüfen. Abgesehen davon, dass die Durchführungsstellen der EL nicht über die fachlichen Voraussetzungen für eine selbständige Beurteilung der Invalidität verfügen, gilt es zu vermeiden, dass der gleiche Sachverhalt unter denselben Gesichtspunkten von verschiedenen Instanzen unterschiedlich beurteilt wird. Die EL-Organe und der Sozialversicherungsrichter haben sich mit Bezug auf die invaliditätsbedingte Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit grundsätzlich daher an die Invaliditätsbemessung durch die Invalidenversicherung zu halten (vgl. auch ZAK 1983 S. 459). Fraglich kann lediglich sein, wie vorzugehen ist, wenn eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes seit der letzten Beurteilung durch die Invalidenversicherung bis zum Erlass der Verfügung über Ergänzungsleistungen geltend gemacht wird. Wie es sich diesbezüglich verhält, kann jedoch offenbleiben, da im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte für eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes - welcher in den Arztberichten durchwegs als stationär bezeichnet wird - bestehen.
c) Der Invaliditätsgrad wird wesentlich von der im Einzelfall massgebenden Methode der Invaliditätsbemessung bestimmt.
BGE 117 V 202 S. 206
Diese hängt gemäss
Art. 28 Abs. 2 und 3 IVG
in Verbindung mit
Art. 25 ff. IVV
davon ab, ob der Versicherte als ganztägig oder zeitweilig Erwerbstätiger oder als Nichterwerbstätiger einzustufen ist, was je zur Anwendung einer andern Methode der Invaliditätsbemessung (Einkommensvergleich, gemischte Methode, Betätigungsvergleich) führt, und ergibt sich aus der Prüfung, was der Versicherte - unter sonst gleichen Umständen - ausüben würde, wenn keine gesundheitliche Beeinträchtigung bestünde (
BGE 104 V 150
,
BGE 98 V 264
Erw. 1 und 268 Erw. 1c). Wenn die EL-Organe grundsätzlich auf die Invaliditätsbemessung durch die Invalidenversicherung abzustellen haben, so bedeutet dies folgerichtig, dass sie auch die der Invaliditätsbemessung zugrunde liegende Einstufung des Leistungsansprechers als Ganzerwerbstätiger, teilweise Erwerbstätiger oder Nichterwerbstätiger zu übernehmen haben. Diese Überlegung leitete offenbar auch den Verordnungsgeber, wenn er in
Art. 14a Abs. 3 ELV
eine Anrechnung der in Abs. 2 genannten Erwerbseinkommen u.a. für Leistungsansprecher ausgeschlossen hat, deren Invalidität als Nichterwerbstätige gestützt auf
Art. 27 IVV
mittels Betätigungsvergleich festgesetzt worden ist. Keine ausdrückliche Regelung enthält die ELV mit Bezug auf die Teilerwerbstätigen, die zusätzlich in einem Aufgabenbereich nach
Art. 5 Abs. 1 IVG
(insbesondere Haushalt) tätig sind. Die Lösung ergibt sich indessen ohne weiteres aus den genannten Grundsätzen, indem bezüglich des Verhältnisses zwischen Erwerbs- und Nichterwerbstätigkeit auf die entsprechende Aufteilung bei der Invaliditätsbemessung durch die Invalidenversicherung abzustellen und das gemäss
Art. 14a Abs. 2 ELV
anrechenbare Einkommen nach dem Anteil der Erwerbstätigkeit festzusetzen ist.
3.
a) Die Vorinstanz stellt entscheidend darauf ab, dass die Beschwerdegegnerin laut Bericht des Dr. N. vom 18. August 1989 höchstens noch zu 33 Prozent arbeitsfähig ist, woraus sie schliesst, dass eine Erwerbstätigkeit in dem von der Ausgleichskasse angenommenen Ausmass (Jahreslohn von Fr. 12'800.--) kaum zumutbar sei. Aufgrund der Akten sei nämlich nicht davon auszugehen, dass die Versicherte über eine Ausbildung verfüge, welche sie zur Besorgung leichter Büroarbeiten befähigen würde; entsprechend ihrer Tätigkeit als Heimarbeiterin käme wohl nur eine körperliche Arbeit in Frage. Als erschwerend für die Annahme einer zusätzlichen Erwerbstätigkeit wirke sich aus, dass die Versicherte gelegentlich an psychischen Problemen (depressive Verstimmungen)
BGE 117 V 202 S. 207
leide, werde doch gerade derartigen Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt recht wenig Verständnis entgegengebracht.
Soweit hierin eine Neubeurteilung der Invalidität aufgrund der ärztlichen Angaben über die Arbeitsfähigkeit der Beschwerdegegnerin zu erblicken ist, erweist sie sich nach dem Gesagten als unzulässig. Anderseits erscheint fraglich, ob invaliditätsfremde Gründe vorliegen, die eine Verwertung der verbleibenden Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit einschränken oder verunmöglichen. Ob die Beschwerdegegnerin wegen ihrer bescheidenen Ausbildung (5 Jahre Primarschule und 2 Jahre Haushaltschule in Italien) nicht für leichte Büroarbeiten eingesetzt werden könnte, kann dahingestellt bleiben. Auch die Vorinstanz schliesst nicht aus, dass die Versicherte ihre restliche Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit mit einer vorwiegend körperlichen Tätigkeit zu verwerten vermöchte. Sie nimmt jedoch an, dass die Übernahme einer zusätzlichen Erwerbstätigkeit neben der Heimarbeit insbesondere im Hinblick auf die bestehenden psychischen Beeinträchtigungen und die damit verbundenen Schwierigkeiten, einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden, scheitern würde. Aus den Akten ergeben sich indessen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdegegnerin eine allfällige Restarbeitsfähigkeit nicht durch Annahme zusätzlicher Heimarbeit zu verwerten vermöchte. Die Angaben des Arbeitgebers lassen darauf schliessen, dass ihr vermehrte Heimarbeit zugewiesen werden könnte. Wie es sich hinsichtlich der geltend gemachten invaliditätsfremden Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit verhält, kann jedoch offenbleiben, wie sich aus dem Folgenden ergibt.
b) Anlässlich der erstmaligen Zusprechung einer Rente der Invalidenversicherung am 12. Juli 1985 wurde die Beschwerdegegnerin zur Hälfte als Erwerbstätige eingestuft und die Erwerbsunfähigkeit in diesem Bereich auf 50 Prozent festgesetzt, was bei einer Beeinträchtigung im Haushalt von 20 Prozent einen Invaliditätsgrad von insgesamt 35 Prozent ergab. Als die Invalidenversicherungs-Kommission den Invaliditätsgrad am 22. April 1986 neu auf 50 Prozent festsetzte, lagen keine Tatsachen vor, welche eine andere Aufteilung der je zur Hälfte auf Erwerbstätigkeit und Haushalt fallenden Beschäftigung der Versicherten gerechtfertigt hätten. Ausschlaggebend für die Heraufsetzung des Invaliditätsgrades war offensichtlich der Bericht von Dr. N. vom 7. April 1986, worin die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit im Bericht der MEDAS vom 4. Dezember 1984 als zu optimistisch
BGE 117 V 202 S. 208
bezeichnet wurde. Dem neu mit 50 Prozent festgesetzten Invaliditätsgrad liegt bei sonst unveränderten Annahmen (hälftige Aufteilung zwischen Erwerbstätigkeit und Haushalt, Invalidität im Haushalt von 20 Prozent) eine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit von 80 Prozent zugrunde. Damit übersteigt der Invaliditätsgrad die für die Anwendbarkeit von
Art. 14a Abs. 2 ELV
geltende Grenze von 66 2/3 Prozent. Anrechenbar ist daher gemäss
Art. 14a Abs. 1 ELV
das Erwerbseinkommen, welches die Beschwerdegegnerin im massgebenden Zeitabschnitt tatsächlich verdient hat. Der vorinstanzliche Entscheid erweist sich im Ergebnis somit als richtig, was zur Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde führt.