BGE 118 IA 17 vom 5. Mai 1992

Datum: 5. Mai 1992

Artikelreferenzen:  Art. 6 EMRK, Art. 4 BV , Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 90 Abs. 1 lit. b OG

BGE referenzen:  119 II 386, 119 IA 260, 120 IA 220, 120 IB 379, 121 I 54, 121 I 230, 122 II 274, 122 II 464, 124 I 241, 125 I 417 , 117 IA 7, 115 IA 10, 116 IA 98, 116 IA 99, 101 IA 313, 101 IA 313

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

118 Ia 17


4. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 5. Mai 1992 i.S. L. gegen Generalprokurator und Obergericht des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Art. 4 BV ; rechtliches Gehör.
Es ist mit dem aus Art. 4 BV folgenden Gehörsanspruch nicht vereinbar, wenn an einer Appellationsverhandlung, an der ein Angeschuldigter nach dem kantonalen Recht nicht teilnehmen muss, ohne dessen Wissen ein Beweisergänzungsverfahren durchgeführt wird.

Sachverhalt ab Seite 17

BGE 118 Ia 17 S. 17
Der Gerichtspräsident von Frutigen verurteilte mit Urteil vom 6. Mai 1991 L. wegen Überschreitens der signalisierten und gesetzlichen Höchstgeschwindigkeit und wegen Überholens, obschon der nötige Raum dazu nicht frei war, beides begangen am 29. Juni 1990, zu einer Busse von Fr. 700.-- und zu den Verfahrenskosten.
L. erklärte gegen dieses Urteil die Appellation. Die 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern erklärte mit Urteil vom 5. September 1991 L. des Überschreitens der signalisierten und gesetzlichen Höchstgeschwindigkeit, fortgesetzt begangen am 29. Juni 1990 auf der Strecke Kandergrund-Reichenbach, sowie des Überholens, obschon der nötige Raum nicht frei war und mit mangelnder Rücksichtnahme auf die überholten Strassenbenützer, begangen am 29. Juni 1990 in Frutigen, schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 700.-- und zu den Verfahrenskosten beider Instanzen.
L. führt gegen dieses Urteil der 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV (willkürliche Beweiswürdigung, willkürliche Anwendung kantonalen Prozessrechts und Verweigerung des rechtlichen Gehörs) und Art. 6 Ziff. 2 EMRK . Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
BGE 118 Ia 17 S. 18

Erwägungen

Auszug aus den Erwägungen:

1. Der Beschwerdeführer hat, wie es nach Art. 318 Abs. 3 des Gesetzes über das Strafverfahren des Kantons Bern vom 20. Mai 1928 (StrV) zulässig ist, an der Verhandlung vor der 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern vom 5. September 1991 nicht teilgenommen und sich auf die Einreichung eines schriftlichen Parteivortrages vom 30. August 1991 beschränkt. In der Verhandlung vom 5. September 1991 beantragte der Generalprokurator-Stellvertreter, einen Telefax des Pol Gfr X. vom gleichen Tag mit den von diesem nach dem Vorfall erstellten Handnotizen zu den Akten zu erkennen. Die Strafkammer gab diesem Antrag statt. Im angefochtenen Urteil führte sie zur Zeugenaussage X. aus, diese seien widerspruchsfrei und würden mit den unmittelbar nach der Kontrolle erstellten Handnotizen übereinstimmen.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Strafkammer hätte ihn über die Einholung dieses weiteren Beweismittels informieren und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen. Diese Unterlassung beanstandet er als Verweigerung des rechtlichen Gehörs, da er nicht mit neuen Beweismitteln, über die er nicht informiert würde, rechnen müsse.
a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur. Seine Verletzung führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids ( BGE 117 Ia 7 E. 1a, BGE 115 Ia 10 E. 2a mit Hinweisen). Die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Verletzung des rechtlichen Gehörs ist deshalb vorweg zu prüfen.
b) Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör wird zunächst durch die kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben, deren Auslegung und Anwendung das Bundesgericht unter dem Gesichtswinkel der Willkür prüft. Wo sich dieser kantonale Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden Verfahrensregeln zur Sicherung des rechtlichen Gehörs Platz, die dem Bürger in allen Streitsachen ein bestimmtes Mindestmass an Verteidigungsrechten gewährleisten ( BGE 117 Ia 7 E. 1a, BGE 116 Ia 98 E. 3a mit Hinweisen).
Der Beschwerdeführer macht keine Verletzung kantonaler Verfahrensvorschriften in einer den Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügenden Weise geltend. Daher ist einzig und zwar mit freier Kognition zu prüfen ( BGE 117 Ia 7 E. 1a mit Hinweis), ob unmittelbar aus Art. 4 BV folgende Regeln missachtet wurden.
BGE 118 Ia 17 S. 19
c) Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen ( BGE 116 Ia 99 E. 3b, 115 Ia 11 E. 2b mit Hinweisen).
d) Es ist unbestritten, dass die durch Telefax übermittelten Handnotizen des Pol Gfr X. dem Beschwerdeführer nicht unterbreitet wurden, und dass der Beschwerdeführer insoweit auch keine Gelegenheit gehabt hatte, sich zu diesen Handnotizen zu äussern. Trotzdem hat die 1. Strafkammer in ihrem angefochtenen Entscheid zur Erhärtung der Glaubwürdigkeit der Aussagen des Pol Gfr X. auf dessen Handnotizen verwiesen, was mit dem aus Art. 4 BV folgenden Gehörsanspruch nicht vereinbar ist. Daran ändert nichts, dass der Beschwerdeführer freiwillig an der Appellationsverhandlung vom 5. September 1991 nicht teilgenommen hat. Gemäss Art. 318 Abs. 2 und 3 StrV hat der Angeschuldigte die Möglichkeit, persönlich vor der Strafkammer zu erscheinen, sich von einem Anwalt vertreten zu lassen oder einen schriftlichen Parteivortrag einzureichen. Durch seinen Verzicht an der Verhandlung teilzunehmen, verzichtete der Beschwerdeführer nicht auf das Recht, zu neuen Beweisen angehört zu werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts darf ein Verzicht nicht leichthin angenommen werden und würde eine genügende Orientierung durch die Behörden voraussetzen (vgl. BGE 101 Ia 313 E. 2b). Die bernische Appellationsinstanz führt in der Regel kein vor sich abspielendes Beweisverfahren mehr durch, sondern überprüft vielmehr anhand der Akten das Beweisverfahren, das vor der Vorinstanz stattfand (JÜRG AESCHLIMANN, Das Bernische Strafverfahren, 1988, Bd. 3, Besonderer Teil II, Seite 72). Nach Art. 316 Abs. 1 StrV haben die Parteien allfällige Beweisergänzungsanträge 10 Tage vor dem Verhandlungstag der Strafkammer schriftlich einzureichen, wobei diese Frist als Ordnungsfrist gilt (JÜRG AESCHLIMANN, a.a.O., Seite 72). Die Gegenpartei kann deshalb damit rechnen, dass ihr solche Anträge jedenfalls dann zur Kenntnis gebracht werden, wenn dem Beweisergänzungsantrag stattgegeben wird und die neuen Beweise im Urteil berücksichtigt werden. Wenn die Appellationsinstanz
BGE 118 Ia 17 S. 20
von Amtes wegen oder auf Antrag hin Beweismassnahmen anordnet, gelten dafür gemäss Art. 317 Abs. 5 StrV die Vorschriften der Hauptverhandlung. Danach haben die Parteien etwa ein Fragerecht gegenüber abgehörten Personen (Art. 247 Abs. 1 StrV). Im vorliegenden Fall hat die Staatsanwaltschaft ihr Beweisergänzungsgesuch verspätet, nämlich erst in der Verhandlung selbst gestellt. Mit einem solchen Vorgehen musste der Beschwerdeführer jedoch nicht rechnen, zumal ja, wie bereits ausgeführt, ein Beweisergänzungsverfahren nicht unbedingt die Regel bildet.
Unhaltbar ist die vom Generalprokurator in seiner Beschwerdevernehmlassung vertretene Auffassung, wonach eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht vorliege, da im bernischen Strafverfahren der Unmittelbarkeits- und Mündlichkeitsgrundsatz erheblich eingeschränkt sei. Diese Grundsätze und auch der in ZBJV 119/1983 S. 509 f. wiedergegebene Bundesgerichtsentscheid berühren den hier in Frage stehenden Gehörsanspruch nicht und vermöchten ihn, soweit er durch die Bundesverfassung garantiert ist, ohnehin nicht einzuschränken.

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