Urteilskopf
118 IV 130
26. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. Januar 1992 i.S. J. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden (Nichtigkeitsbeschwerde).
Regeste
Art. 117 StGB
; fahrlässige Tötung (Lawinenunfall).
Die sich aus dem Lawinenbulletin in Verbindung mit der Interpretationshilfe des Eidgenössischen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) ergebenden Verhaltensregeln sind als Massstab für die Sorgfalt eines Bergführers auf einer Skitour heranzuziehen (E. 3a).
Bei mässiger örtlicher Lawinengefahr gebotene Vorsicht (E. 5).
Kausalität (E. 6).
A.-
J. wurde 1955 geboren. 1975 erwarb er das Skilehrerpatent, und seit 1986 ist er auch im Besitze des Bergführerpatentes des Kantons Graubünden. Hauptberuflich ist er als Skischulleiter tätig.
Ab Palmsonntag, den 28. März 1988 übernahm J. die Leitung einer Gruppe von sieben holländischen Skitouristen, um mit ihnen von S-charl im Unterengadin aus eine Tourenwoche durchzuführen. Für Karfreitag, den 1. April 1988 sah J. eine Tour auf den 3021 Meter hohen Mot San Lorenzo vor. Er entschied sich für die eher wenig begangene Route durchs Valbella. Diese führt anschliessend über einen bis zu 38 Grad steilen Nordwesthang im Val S-charl bis zu Punkt 2901 und von da über den Nordgrat zum Gipfel.
Nachdem in den Lawinenbulletins vom 26., 27. und 28. März 1988 noch vor einer örtlich grossen Lawinengefahr im Unterengadin gewarnt worden war, hatte sich die Situation erheblich verbessert:
BGE 118 IV 130 S. 131
Für den 29. März wurde die Schneebrettgefahr noch als örtlich erheblich, für den 30. und 31. März - im für die Beurteilung der Lawinengefahr massgebenden Bulletin - als "mässig örtlich" bezeichnet, wobei diese oberhalb von 2000 Metern vor allem an Steilhängen der Expositionen West, Nord und Nordost vorhanden war. Unter diesen Voraussetzungen brach J. am Morgen des 1. April 1988 mit seiner Gruppe zur geplanten Tour auf. Im Valbella machte er keine verdächtigen Feststellungen bezüglich Lawinengefahr, so dass er in der Folge den Nordwesthang des Mot San Lorenzo in Angriff nahm. Als das Gelände steiler wurde, begann die in geschlossener Kolonne marschierende Gruppe, im Zickzack aufzusteigen. Oberhalb eines kleinen Zwischenbodens auf ungefähr 2640 Metern über Meer liess J. seine Begleiter nach einer Rechtskurve anhalten. Er selber begab sich allein etwa 20 Meter weiter in den Hang hinein, um die Festigkeit der Schneedecke zu prüfen. In diesem Augenblick - es war etwa 11.15 Uhr - löste sich auf ungefähr 2750 Metern über Meer eine rund 200 Meter breite Lawine, welche die ganze Gruppe erfasste und mit sich riss. Während es J. und einem Begleiter gelang, sich selber aus den Schneemassen zu befreien, blieben die übrigen sechs Personen verschüttet. Da alle einwandfrei funktionierende Lawinenverschütteten-Suchgeräte auf sich trugen und überdies rasch Hilfe eintraf - J. und A., der sich mit einer Gruppe im Aufstieg zum Mot dal Gajer befand und das Unglück mitangesehen hatte, hatten über Funk Alarm ausgelöst -, konnte sofort mit Ortung und Bergung der Verschütteten begonnen werden. Fünf Personen wurden in einem Stau auf dem kleinen Zwischenboden tot aufgefunden. Etwas später konnte weiter hangabwärts auch noch die sechste verschüttete Person geborgen werden. Sie starb noch am gleichen Tag nach der Überführung ins Universitätsspital Zürich.
B.-
Die Staatsanwaltschaft Graubünden erhob am 22. August 1989 gegen J. Anklage wegen fahrlässiger Tötung. Am 1. November 1989 sprach der Kreisgerichtsausschuss Untertasna J. von Schuld und Strafe frei. In Gutheissung der Berufung der Staatsanwaltschaft sprach ihn der Kantonsgerichtsausschuss Graubünden am 16. Mai 1990 schuldig der fahrlässigen Tötung und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 1'000.--, löschbar nach einer Probezeit von einem Jahr.
C.-
J. führt sowohl staatsrechtliche Beschwerde als auch eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde, letztere mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben.
Die Vorinstanz beantragt unter Hinweis auf ihre Erwägungen Abweisung der Beschwerde, soweit auf sie eingetreten werden kann.
BGE 118 IV 130 S. 132
Die Staatsanwaltschaft Graubünden beantragt Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde unter Hinweis auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil.
D.-
Die staatsrechtliche Beschwerde wies das Bundesgericht mit Entscheid gleichen Datums ab, soweit es darauf eintrat.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Nach der Auffassung der Vorinstanz gereicht dem Beschwerdeführer zum (strafrechtlich relevanten) Verschulden, dass er bei sorgfältiger Würdigung aller Umstände den Nordwesthang des Mot San Lorenzo, wo der Unfall passierte, (und vor allem das darüberliegende, steile Couloir) wegen der mässigen örtlichen Schneebrettgefahr als zuwenig sicher hätte einstufen und vom Aufstieg über diese Route absehen müssen. Sein zu wenig vorsichtiges Verhalten habe zur Folge gehabt, dass er die ihm anvertraute Gruppe in geschlossener Formation in einen Steilhang der kritischen Höhenlage und Exposition geführt habe. "Prompt" habe sich dann auch im Bereich des darüberliegenden, engen Couloirs eine grosse Lawine gelöst, in der sechs Tourenteilnehmer ums Leben gekommen seien.
Demgegenüber bestreitet der Beschwerdeführer, irgendeine Sorgfaltspflicht verletzt zu haben. Ex-ante habe sich die Gefährlichkeit des Hanges nach Auffassung der Experten nicht feststellen lassen. Die nach Ansicht der Vorinstanz in der Planungsphase vorhandenen Gefahrenindizien hätten in Tat und Wahrheit nicht bestanden. Weder das Eidgenössische Institut für Schnee- und Lawinenforschung (EISLF) noch die Vorinstanz hätten ihm die Missachtung objektiv erkennbarer Gefahrenmomente nachweisen können. Indem die Vorinstanz den von ihm objektiv begangenen Fehler, nämlich die falsche Einschätzung des Lawinenhanges, einer schuldhaften Sorgfaltspflicht gleichgesetzt habe, habe sie den Boden des Verschuldensstrafrechts verlassen und sei zur Kausalhaftung im Strafrecht übergegangen.
2.
Eine Verurteilung nach
Art. 117 StGB
wegen fahrlässiger Tötung setzt voraus, dass der Tod der Opfer durch sorgfaltswidriges Verhalten des Täters verursacht wurde.
a) Der gerichtliche Experte kam zum Schluss, die Ursache des Lawinenniedergangs bzw. der Auslösung liege mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in einer örtlichen Überbelastung der Schneedecke durch die praktisch aufgeschlossen marschierende
BGE 118 IV 130 S. 133
Tourengruppe (Expertise S. 3 unten). Davon ging offensichtlich auch die Vorinstanz aus, wenn sie - für das Bundesgericht verbindlich (
Art. 277bis Abs. 1 BStP
) - feststellte, der Beschwerdeführer habe seine Gruppe "in geschlossener Formation" in den Hang geführt und "prompt" habe sich eine Lawine gelöst. Der Beschwerdeführer stellt dies denn auch nicht in Abrede.
b) Unstrittig war der Beschwerdeführer für die Sicherheit seiner Gruppe verantwortlich. Weder wird geltend gemacht, noch ist ersichtlich, dass die holländischen Skitouristen die mit dieser Skitour verbundene Gefahr gekannt und in sie eingewilligt hätten.
c) Es steht somit zunächst fest, dass der Beschwerdeführer den Tod der sechs Opfer verursachte, indem er seine Gruppe geschlossen in den Nordwesthang des Mot San Lorenzo hineinführte, was zur Auslösung der Lawine führte.
3.
Sorgfaltswidrig ist eine Handlungsweise dann, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat aufgrund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die damit bewirkte Gefährdung des Lebens der Opfer hätte erkennen können und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritt (
BGE 116 IV 308
E. 1a).
a) Bei der Bestimmung des im Einzelfall zugrunde zu legenden Massstabes des sorgfaltsgemässen Verhaltens kann auf Verordnungen zurückgegriffen werden, die der Unfallverhütung und der Sicherheit dienen (
BGE 116 IV 308
E. 1a mit Hinweisen). Das gleiche gilt für entsprechende allgemein anerkannte Verhaltensregeln, auch wenn diese von einem privaten oder halböffentlichen Verband erlassen wurden und keine Rechtsnormen darstellen (so für die an Skifahrer gerichteten FIS-Regeln:
BGE 106 IV 352
mit Verweisungen; vgl. auch
BGE 115 IV 192
/3 betreffend die Richtlinien der Schweizerischen Kommission für Unfallverhütung auf Skiabfahrten).
Rechtsprechung und Literatur verlangen vom Skitourenleiter, dass er für die sichere Beurteilung der Lawinengefahr das Lawinenbulletin des EISLF konsultiere (
BGE 98 IV 180
mit Verweisungen; vgl. auch
BGE 116 IV 188
E. b; Urteil des Kantonsgerichtsausschusses Graubünden, PKG 1989 Nr. 34 S. 142; Urteil des Kantonsgerichts Wallis, RVJ 1983 S. 195 ff.; WERNER MUNTER, Neue Lawinenkunde, Verlag des SAC, Bern 1991, S. 128). Das EISLF hat Erläuterungen (Interpretationshilfe II für das Schweizerische Lawinenbulletin (1985); siehe MUNTER, a.a.O., S. 190) herausgegeben, die dazu dienen, die genaue Bedeutung der Aussagen der jeweiligen Lawinenbulletins zu erfassen, und Verhaltensregeln enthalten, die sich u.a. an die Skifahrer, die Skitouren unternehmen, richten. Sie haben
BGE 118 IV 130 S. 134
als wesentliche Grundlage für das Verständnis eines Lawinenbulletins jedenfalls jedem patentierten Bergführer bekannt zu sein, wovon die Vorinstanz denn auch ausging und was der Beschwerdeführer nicht bestreitet. Das EISLF geniesst eine hohe fachliche Anerkennung. Aus diesen Gründen sind die sich aus Lawinenbulletins in Verbindung mit der Interpretationshilfe ergebenden Verhaltensregeln als Massstab für die durch einen Bergführer auf einer Skitour zu beachtende Sorgfalt heranzuziehen.
b) Die Sorgfaltspflicht des Beschwerdeführers ruft nach einer strengen Beurteilung, da er die Leitung der Gruppe als patentierter Bergführer übernommen hatte (
BGE 98 IV 177
).
c) Für die Beantwortung der Frage, ob die Gefahr des Erfolgseintritts für den Täter erkennbar bzw. voraussehbar war, gilt der Massstab der adäquaten Kausalität, was heisst, dass sein Verhalten geeignet sein muss, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und den Erfahrungen des Lebens einen Erfolg wie den eingetretenen herbeizuführen oder mindestens zu begünstigen (
BGE 116 IV 185
/6 E. 4b,
BGE 115 IV 207
E. c je mit Hinweisen).
4.
Die Vorinstanz kam im angefochtenen Urteil zum Schluss, der Beschwerdeführer hätte bei sorgfältiger Würdigung aller Umstände den Steilhang, in dem die Lawine niederging, meiden müssen; indem er die Gruppe in den Unglückshang hineingeführt habe, habe er seine Sorgfaltspflicht verletzt. Selbst wenn man davon ausgehen würde, die gegebenen Gefahrenindizien reichten nicht aus, um zwingend ein Ausweichen auf die Ersatzroute zu fordern, seien sie derart gewesen, dass sie nach der Erstellung eines Schneeprofils und der Durchführung einer Rutschblockprobe vor dem Einstieg in den Steilhang gerufen hätten; deren Ergebnisse hätten gezeigt, dass der Hang nicht begangen werden dürfe.
a) Ausgehend vom Lawinenbulletin des 31. März 1988, von dem der Beschwerdeführer Kenntnis hatte, stellte die Vorinstanz fest, dass die durch den Beschwerdeführer begangene Route durchs Valbella auf den Mot San Lorenzo auf über 2000 Metern über Meer über einen rund 38 Grad steilen Nordwesthang führte, durch ein Gelände also, für welches nach dem Lawinenbulletin eine mässige örtliche Schneebrettgefahr zu beachten war. Sie räumt ein, dass dies allein den Beschwerdeführer zwar noch nicht habe veranlassen müssen, zum vornherein auf die vorgesehene Tour zu verzichten. Erschwerend sei jedoch hinzugekommen, dass der Hang, der oben eher noch etwas steiler werde, in ein enges, von Felsköpfen begrenztes Couloir übergehe, eine Geländeform also, in der am ehesten damit zu rechnen
BGE 118 IV 130 S. 135
gewesen sei, dass sich die mässige örtliche Schneebrettgefahr in einem Lawinenniedergang verwirklichen könnte. Da die vorgesehene Route zwingend durch diesen engen, steilen Hangabschnitt führte, der nicht umgangen werden konnte, kommt die Vorinstanz zum Schluss, dass "eine vorsichtige Routenwahl, wie sie bei mässiger örtlicher Schneebrettgefahr in Steilhängen der angegebenen Expositionen und Höhenlagen erforderlich ist, damit aber an dieser Stelle zum vornherein ausgeschlossen war".
Damit werden die Anforderungen an die durch den Beschwerdeführer aufzuwendende Sorgfalt überspannt. Die Vorinstanz geht zu Recht davon aus, aus dem Lawinenbulletin allein, wie dieses aufgrund der Interpretationshilfe II des EISLF zu verstehen ist, lasse sich eine Pflicht, den Steilhang ganz zu meiden, nicht ableiten (dazu näher E. 5 unten). Die von ihr angeführten Gründe dafür, dass unter den Umständen des vorliegenden Falles trotzdem bereits im blossen Begehen des Steilhanges an der Unglücksstelle eine Sorgfaltspflichtsverletzung zu erblicken sei, überzeugen nicht.
b) Die Vorinstanz führt aus, obwohl sich der Nordwesthang des Mot San Lorenzo in den Tagen vor dem Unfall offenbar auf der Windseite befunden habe, habe keine "ausreichende Gewissheit" bestanden, dass der Schnee auch aus dem späteren Anrissgebiet (unterhalb der Felsen und im Bereich des Couloirs) weggetragen worden sei. Wenn sie daraus folgert, trotz mässiger Gefahr gemäss Bulletin hätte der Hang nicht begangen werden dürfen, verlangt sie, dass der Beschwerdeführer die Lawinengefahr höher hätte einschätzen müssen als aufgrund des Lawinenbulletins. Dafür sind jedoch keine genügend klaren Gründe ersichtlich. Allein aus den topografischen Verhältnissen schliesst auch der gerichtliche Experte nicht darauf. Er führt vielmehr aus, es brauche im allgemeinen eine regional mässig bis gut verfestigte Schneedecke, um an solche Hänge heranzugehen; falls die lokalen Schneeverhältnisse durch zuverlässige Auskünfte oder durch eigene Tests (Schneeprofil, Rutschblocktest, Schaufeltest usw.) ebenfalls gleich eingestuft werden könnten, dürften solche Hänge mit den nötigen Vorsichtsmassnahmen (Verschütteten-Suchgeräte, bei mässiger oder höherer Gefahr Abstände von Mann zu Mann usw.) begangen werden.
Aufgrund des von Rettungschef M. erstellten und in seinem Gasthaus in S-charl angeschlagenen Schneeprofils vom 11. März 1988 beurteilte auch der Experte die lokale Lawinengefahr nicht anders als gemäss dem Bulletin. Die Schlussfolgerung der Vorinstanz, zusätzliche Abklärungen über die Schneebeschaffenheit in Form
BGE 118 IV 130 S. 136
eines Schneeprofils und einer Rutschblock- bzw. Rutschkeilprobe hätten im Ergebnis dazu führen müssen, vom Aufstieg über die geplante Route abzusehen, hält einer näheren Prüfung nicht stand. Bei der Erstellung eines Schneeprofils wäre wohl, wie die Vorinstanz richtig ausführt, "die wenig tragfähige, kohäsionsarme Zwischenschicht" zum Vorschein gekommen. Der entscheidende Rutschkeiltest (MUNTER, a.a.O., S. 89, bezeichnet diesen als ein wertvolles Hilfsmittel zur qualitativen Beurteilung der lokalen Schneebrettgefahr) hätte jedoch nicht dazu geführt, dass der Beschwerdeführer eine höhere als die mässige Lawinengefahr gemäss Bulletin hätte annehmen müssen. Einen solchen Test hat der Gerichtsexperte am Unfalltag vorgenommen. Dabei ergab sich die Auslösestufe 5 (drittbeste von sieben Stufen gemäss Merkblatt SLF), d.h. Bruch beim 2. oder 3. Sprung mit Ski. Eben diese Stufe sieht aber keinen völligen Verzicht auf die Begehung eines solchen Hanges vor, sondern ist gemäss der gerichtlichen Expertise wie folgt zu interpretieren: "An entsprechenden Hängen ist vereinzelt mit Lawinenauslösung durch Skifahrer zu rechnen. Es sind Erfahrung bei der Routenwahl (Umgehung extremer Hangabschnitte) und Entlastungsabstände erforderlich."
c) Die Vorinstanz führt weitere Umstände und Informationen an, welche für den Beschwerdeführer hätten Warnung oder Anlass sein sollen, im Zweifel auf den Aufstieg über die geplante Route zu verzichten. Der Beschwerdeführer bestreitet aber zu Recht, dass sich daraus eine ihm anzulastende Sorgfaltswidrigkeit ableiten lasse.
Weder die Tatsache, dass der Beschwerdeführer zuvor noch nie eine Tour auf den Mot San Lorenzo unternommen hatte, noch die Behauptung von Rettungschef M., es habe im Winter 1987/88 noch niemand den Mot San Lorenzo bestiegen, vermögen die Inangriffnahme der Tour als sorgfaltswidrig erscheinen zu lassen; andernfalls würde jeder Bergführer, der eine Tour zum ersten Mal oder als Erster in einem Winter durchführt, gerade schon deswegen sorgfaltswidrig handeln.
Aus dem Umstand, dass im Monat März zwei Bergsteiger eine Besteigung des Mot San Lorenzo wegen Lawinengefahr wieder abgebrochen hatten, ist nicht mehr abzuleiten, als dass in jenem Zeitpunkt offenbar ungünstige Verhältnisse herrschten. Wenn im angefochtenen Urteil von Bergführern die Rede ist, so handelt es sich dabei um ein offensichtliches Versehen (Aussage des Zeugen M.), das in Anwendung von
Art. 277bis Abs. 1 BStP
von Amtes wegen zu berichtigen ist.
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Die Empfehlung von Rettungschef M., bei ungünstigen Verhältnissen nach Murters da Tamangur auszuweichen, bedeutete, dass der Nordwesthang des Mot San Lorenzo - ausser der Beschwerdeführer hätte vor der Abzweigung nach Murters da Tamangur und dem Einstieg in den fraglichen Hang ungünstige Verhältnisse feststellen müssen - nach dessen Meinung begangen werden konnte; dies auch wenn dieser hinzufügte, die einheimischen Bergführer würden die Route über den Mot Falain dem Aufstieg durchs Valbella vorziehen. Bei diesen Auskünften handelt es sich um Hinweise auf abstrakte Gefahren, nicht aber auf konkrete Gefahrenmomente. Dies bedeutete für den Beschwerdeführer einmal mehr, höchste Aufmerksamkeit und umfassende Sorgfalt walten zu lassen, aber nicht mehr. Es ist nicht zu sehen, inwiefern allein die Durchführung der Tour und das Festhalten an der gewählten Route aus den erwähnten Gründen eine Verletzung der Sorgfaltspflicht darstellen sollten. So vertraten denn auch die erfahrenen Bergführer K. und E. die Meinung, die durch den Beschwerdeführer gewählte Route hätte am in Frage stehenden Tag grundsätzlich begangen werden dürfen.
d) Die Vorinstanz erwähnt überdies, dass A., Rettungsobmann der SAC-Sektion Unterengadin und Stellvertreter des Rettungschefs M., am 1. April 1988 die Gruppe J. im Valbella beobachtet hatte, als er sich selber mit einer Gruppe im Aufstieg zum Mot dal Gajer befand. A. hatte damals zu seinen Begleitern gesagt, dass es wohl zu einem Unglück kommen werde, falls die Gruppe (J.), statt nach Murters da Tamangur auszuweichen, weiter gegen den Mot San Lorenzo aufsteige.
A.
hat die Lawinengefahr - im Gegensatz zum Beschwerdeführer - damit in der Tat richtig beurteilt. Der angefochtene Entscheid enthält jedoch keine Hinweise, auf welche objektiven Elemente A. seine Beurteilung abstützte. Nur wenn dies der Fall wäre und gesagt werden könnte, aufgrund der gleichen objektiven Gründe hätte der Beschwerdeführer zum selben Schluss wie A. gelangen müssen, wäre dies aber von Belang.
e) Das angefochtene Urteil hält deshalb insoweit vor Bundesrecht nicht stand, als die Verurteilung des Beschwerdeführers damit begründet wird, er hätte aufgrund besonderer Umstände, trotz der gemeldeten und für ihn allein erkennbaren bloss mässigen örtlichen Lawinengefahr auf einen Einstieg in den Steilhang verzichten müssen.
5.
Das massgebliche Lawinenbulletin meldete für das Unterengadin oberhalb 2000 Metern eine mässige örtliche Schneebrettgefahr,
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wobei sich die Gefahrenstellen - wie im ganzen Alpengebiet - vor allem an Steilhängen der Expositionen West, Nord und Nordost befanden. Diese Gefahrenstufe 2 bedeutet gemäss der Interpretationshilfe II des EISLF:
"Obwohl die Schneedecke im allgemeinen gut verfestigt ist, weist sie an einzelnen Steilhängen vor allem der erwähnten Expositionen nur mässige Festigkeit auf. Sie kann dort bei grosser Belastung (z.B. Skifahrergruppen ohne Abstände) brechen. Grössere, spontane Lawinen sind nicht zu erwarten.
- Auf Touren und Skiabfahrten wird vor allem an Steilhängen der angegebenen Exposition und Höhenlage vorsichtige Routenwahl empfohlen."
Als Steilhänge sind dabei Hänge zu verstehen, die steiler als rund 30 Grad abfallen.
a) Wie bereits erwähnt, leitete die Vorinstanz daraus zu Recht nicht ab, der Beschwerdeführer hätte den Nordwesthang des Mot San Lorenzo meiden und auf die Ersatzroute ausweichen müssen. Nach der Interpretationshilfe des EISLF sollten Steilhänge der im Lawinenbulletin angegebenen Exposition und Höhenlage nur bei erheblicher örtlicher Lawinengefahr gemieden werden, weil bei dieser Gefahrenstufe 3 die Schneedecke "an vielen Steilhängen ... ungenügende Festigkeit" aufweist und "bei Belastung durch Skifahrer o.ä. brechen" dürfte sowie "auch vereinzelt spontane Lawinen zu erwarten" sind. Bei der Gefahrenstufe 2, von der der Beschwerdeführer aufgrund des Bulletins und mangels anderer Anzeichen ausgehen durfte, wird demgegenüber lediglich "vorsichtige Routenwahl" empfohlen. MUNTER (a.a.O., S. 143/4) versteht allgemein unter Routenwahl die grossräumige Route vom Start zum Ziel, bei der fast immer zahlreiche Varianten möglich sind, die man sich schon bei der Planung überlegen sollte. Als "Spuranlage" bezeichnet er demgegenüber das kleinräumige Legen einer Spur innerhalb eines Hangs oder einer Geländeformation, wobei Varianten nur sehr beschränkt oder unter Umständen gar nicht vorhanden sind; immerhin sei es oft möglich, durch geschickte Spuranlage wenigstens der steilsten Hangpartie aus dem Wege zu gehen. So bezeichnet er z.B. Rippen und Rücken als sicherer als Rinnen und Mulden.
Im Zusammenhang mit der Umschreibung der Gefahrenstufe 2 und der daran angeknüpften Empfehlung in der Interpretationshilfe II des EISLF ist "vorsichtige Routenwahl" nicht im Sinne der grossräumigen Route zu verstehen, zumal die mässige Lawinengefahr aufweisenden Steilhänge, wie dargelegt, nicht gemieden werden
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müssen. Vielmehr ist es die kleinräumige Route oder Spur, die vorsichtig zu wählen ist, d.h. dass Mulden oder andere Stellen, die die Wahrscheinlichkeit einer todbringenden Verschüttung erhöhen, zu meiden sind. Darüber hinaus ergibt sich aus der Interpretationshilfe, dass auch durch Einhalten von Entlastungsabständen zwischen den einzelnen Tourenteilnehmern der Schneedeckenstabilität und der Auslösewahrscheinlichkeit, wie sie für die Stufe 2 umschrieben werden, Rechnung getragen werden kann und muss. Angesichts der ausdrücklich erwähnten Möglichkeit, dass die Schneedecke bei Belastung durch Skifahrergruppen ohne Abstände brechen kann, liegt es auf der Hand, dass dieser Gefahr mit einem Aufstieg in Abständen Rechnung getragen werden muss. MUNTER (a.a.O., S. 146) nennt an erster Stelle der Massnahmen zur Schonung der Schneedecke das Einhalten von Entlastungsabständen, im Aufstieg von mindestens 10 Metern. Es handelt sich um eine einfache, wirksame und allgemein beobachtete Sicherheitsvorkehr, wenn mit dem Brechen der Schneedecke gerechnet werden muss; dies ist aber u.a. gerade der Fall, wenn eine Gruppe - wie hier - bei mässiger örtlicher Lawinengefahr einen Steilhang gefährdeter Exposition und Höhenlage begeht. Das Einhalten von Abständen hat den weiteren Vorteil, dass sich beim Niedergehen eines Schneebrettes oder einer Lawine nicht alle Gruppenmitglieder an der gleich gefährlichen Stelle aufhalten und so die Chance, dass nicht alle erfasst oder nicht alle tödlich verschüttet werden, grösser ist. Dementsprechend verlangt die Empfehlung "vorsichtige Routenwahl", die der Beschwerdeführer gemäss dem Lawinenbulletin zu beachten hatte, sowohl eine vorsichtige Spuranlage als auch das Einhalten von Entlastungs- bzw. Sicherheitsabständen.
Zu den gleichen Vorsichtsmassnahmen hätte sich der Beschwerdeführer veranlasst sehen müssen, wenn er einen Rutschblocktest durchgeführt hätte (siehe E. 4b oben). Dass die "Stockprobe", die er anwandte, keine Anzeichen einer Gefahr zutage förderte, bildete keinen Grund, von diesen Vorsichtsmassregeln abzusehen; ein solches Ergebnis einer Stockprobe genügt hierzu nicht, da diese kein genügend zuverlässiges Mittel für die Beurteilung der lokalen Schneebrettgefahr darstellt (MUNTER, a.a.O., S. 80, bezeichnet sie als "völlig untauglicher Behelf zur Beurteilung der Schneedeckenstabilität im Steilhang").
b) Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz befand sich die Skitourengruppe des Beschwerdeführers im Zeitpunkt, als die Lawine niederging, in einem Hangbereich, "der deutlich steiler
BGE 118 IV 130 S. 140
als 30 Grad abfällt", und damit bereits im Steilhang. Der Beschwerdeführer hatte sie "in geschlossener Formation" in den Steilhang geführt und liess sie oberhalb eines kleinen Zwischenbodens anhalten, um selber zunächst allein weiter in den Hang einzusteigen.
Damit verletzte er nach dem oben Gesagten seine Sorgfaltspflicht. Zwar durfte er grundsätzlich den Steilhang mit seiner Gruppe begehen, hätte dabei aber Entlastungs- bzw. Sicherheitsabstände von mindestens 10 Metern zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern einhalten müssen. Der gerichtliche Experte kam zum Schluss, dies hätte bereits eine knappe halbe Stunde oder ca. 800 Meter vor dem Unglückszeitpunkt bzw. -ort erfolgen müssen. Es kommt hinzu, dass der Beschwerdeführer kleinräumig eine ungünstige Route wählte, wenn er bis oberhalb des fraglichen kleinen Bodens mit einer Rechtskurve ausholte und die Gruppe also oberhalb einer Verflachung mit einer schwach ausgebildeten Krete durchführte und dort warten liess, wo die Gefahr einer tödlichen Verschüttung infolge des Staus, der sich in einer Lawine an einem solchen Ort notgedrungen bildet - was hier auch der Fall war -, am grössten ist; die zu beobachtende grosse Vorsicht hätte geboten, diese besonders gefährliche Stelle möglichst zu meiden, d.h. zumindest nicht die ohne Abstände marschierende Gruppe dort hinzuführen und warten zu lassen. Im Vordergrund steht indessen, dass der Beschwerdeführer mit der Tourengruppe in den Steilhang einstieg, ohne Entlastungs- bzw. Sicherheitsabstände anzuordnen.
c) Für den Beschwerdeführer war aufgrund der im Lawinenbulletin gemeldeten mässigen örtlichen Lawinengefahr erkennbar, d.h. er hätte voraussehen können und müssen, dass bei einem Aufstieg ohne Abstände eine Lawine ausgelöst werden könnte. Sein Vorgehen war nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und den Erfahrungen des Lebens geeignet, die Schneedecke infolge Überbelastung zu brechen und einen Lawinenniedergang auszulösen, der die Gruppe verschütten und zum Tode der Verschütteten führen konnte. Dies ergibt sich ohne weiteres aus der Umschreibung der Gefahrenstufe 2 in der Interpretationshilfe zum Lawinenbulletin des EISLF, wonach Gruppen ohne Abstände zum Bruch der Schneedecke führen können.
6.
Nach dem Gesagten hat der Beschwerdeführer sorgfaltswidrig gehandelt, indem er einerseits kleinräumig eine nach den gegebenen Umständen gefährliche Route wählte und andererseits nicht die erforderlichen Sicherheitsabstände anordnete. Zu prüfen ist,
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ob diese Sorgfaltspflichtsverletzungen kausal für den Tod der sechs Opfer sind.
a) Dies ist zu bejahen, wenn der Erfolg bei pflichtgemässem Verhalten ausgeblieben wäre. Dieser sogenannte hypothetische Kausalzusammenhang setzt zumindest eine hohe Wahrscheinlichkeit voraus; mit anderen Worten ist er nur gegeben, wenn das erwartete Verhalten nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg höchstwahrscheinlich entfiele. Die blosse Möglichkeit des Nichteintritts des Erfolgs bei sorgfaltsgemässem Verhalten reicht zur Bejahung des Kausalzusammenhangs nicht aus (
BGE 116 IV 185
E. 4a und 310 E. a mit Hinweisen).
b) Der gerichtliche Experte stellte aufgrund einer Profilaufnahme im Unglücksgebiet unmittelbar nach dem Unfall, wie der Beschwerdeführer zu Recht betont, fest, die Lawinengefahr sei für den streitigen Nordwesthang "erheblich örtlich" und somit höher gewesen als gesamthaft gesehen in der ganzen Region. Bei der Gefahrenstufe 3 bildet es nun aber keinen wesentlichen Unterschied, ob ein Steilhang von einer Gruppe oder von einem einzelnen Skifahrer begangen wird, kann doch die Schneedecke gemäss Interpretationshilfe des EISLF bereits bei Belastung "durch Skifahrer o.ä." brechen, währenddem bei bloss mässiger örtlicher Gefahr ausdrücklich von "Skifahrergruppen ohne Abstände" die Rede ist. Angesichts der tatsächlich - für den Beschwerdeführer aber nicht erkennbaren - erheblichen örtlichen Lawinengefahr lässt sich daher nicht sagen, die Lawine wäre höchstwahrscheinlich nicht ausgelöst worden, wenn der Beschwerdeführer Entlastungsabstände angeordnet hätte. Die Lawine hätte vielmehr auch beim Aufsteigen der Gruppe mit Abständen ausgelöst werden können. Die Auslösung der Lawine hätte sich somit auch bei Beobachtung der gebotenen Vorsicht nicht verhindern lassen. Zu prüfen ist deshalb, welchen Erfolg der Lawinenniedergang bei Beobachtung der gegebenen Vorsicht bewirkt hätte.
c) Mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit wären nicht alle Mitglieder der Gruppe verschüttet worden und insbesondere nicht sechs Teilnehmer tödlich verunglückt, wenn sie sich nicht in geschlossener Formation, sondern mit Abständen in den Hang begeben hätten, und wenn sie nicht mit der Rechtskurve so weit nach links ausgeholt hätten, dass sie oberhalb der gefährlichen Verflachung von der Lawine erfasst wurden. Wären die sieben Tourenteilnehmer in Abständen von mindestens 10 Metern aufgestiegen und dem Bereich oberhalb des kleinen Bodens ausgewichen, wären mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht alle sechs Opfer im durch die schwach
BGE 118 IV 130 S. 142
ausgebildete Krete verursachten Stau in der Lawine ums Leben gekommen. Zumindest einzelne von ihnen wären höchstwahrscheinlich nicht so erfasst und verschüttet worden, dass es für sie keine Rettung mehr gegeben hätte. Deren Tod wäre somit, wenn der Beschwerdeführer die gebotenen Vorsichtsmassnahmen getroffen hätte, nicht eingetreten. Dies ergibt sich aus allgemeinen Erfahrungstatsachen und insbesondere dem weiteren Zweck der empfohlenen und allgemein beachteten Entlastungsabstände in ihrer Bedeutung als Sicherheitsabstände. Auch die Tatsache, dass der sich mehr im für die Tourenteilnehmer rechten (nordöstlichen) Hangbereich aufhaltende Beschwerdeführer nur so verschüttet wurde, dass er sich selber aus den Schneemassen befreien konnte, zeigt, dass bei grösserer Verteilung der Gruppe dank der Abstände mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest einzelne Teilnehmer sich ebenfalls an einem Ort aufgehalten hätten, wo keine oder zumindest keine tödliche Verschüttung erfolgt wäre.
d) Den Beschwerdeführer trifft also nicht die strafrechtliche Verantwortung für die Auslösung der Lawine, sondern dafür, dass bei Beachtung der - aufgrund der für ihn allein erkennbaren mässigen Lawinengefahr - gebotenen Vorsicht der Erfolg nicht in gleichem Ausmass eingetreten wäre. Die Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung verletzt im Ergebnis kein Bundesrecht. Dass der Beschwerdeführer nicht für den Tod aller sechs Tourenteilnehmer, sondern allein von einzelnen von ihnen strafrechtlich verantwortlich ist, ändert nichts an der Höhe der ausgesprochenen Busse von Fr. 1'000.--, die der Beschwerdeführer denn auch nicht eventualiter anficht. Denn die Vorinstanz hat diese Busse bemessen, ohne der Zahl der Opfer wesentliche Bedeutung beizulegen. Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen.