Urteilskopf
124 I 34
5. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 30. Januar 1998 i.S. B. gegen N., Bezirksanwaltschaft Zürich und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Persönliche Freiheit; Gutachtensauftrag an den Strafantragsteller.
Die Aushändigung von in einem Strafverfahren sichergestellten Computerfestplatten und Disketten an einen Experten bewirkt einen Eingriff in die persönliche Freiheit des Beschuldigten, wenn darauf auch persönliche Daten gespeichert sind (E. 3a).
Für den Beizug eines Experten zur Analyse von elektronischen Datenträgern in einem Strafverfahren besteht im zürcherischen Recht im Prinzip eine genügende gesetzliche Grundlage (E. 3b und c). Eine solche fehlt jedoch für die Vergabe des Gutachtensauftrags an den Strafantragsteller (E. 3d und e).
Die Firma N. stellt unter anderem das Betriebssystem X. her, das den Datenaustausch zwischen verschiedenen Computersystemen ermöglicht. Am 4. September 1996 stellte sie bei der Bezirksanwaltschaft Zürich Strafantrag gegen B. wegen Urheberrechtsverletzung gemäss Art. 67 des Bundesgesetzes über das Urheberrecht (URG; SR 231.1) und wegen unlauteren Wettbewerbs gemäss
Art. 23 des Bundesgesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG; SR 241)
. Sie wirft ihm vor, die Netzwerksoftware X. über das Bulletinboard "Moonlight" in unerlaubter Weise vertrieben zu haben.
Die Kantonspolizei Zürich nahm am 15. Oktober 1996 bei B. eine Hausdurchsuchung vor und stellte zahlreiche Computergeräte, Datenträger und schriftliche Unterlagen sicher. Bei den darauf erfolgten Befragungen hat B. nicht bestritten, das Bulletinboard "Moonlight" betrieben und dabei Software der Firma N. in seine "Mailbox" geladen zu haben.
Am 20. Mai 1997 ermächtigte die Bezirksanwaltschaft Zürich die Firma N., die bei der Hausdurchsuchung sichergestellten Datenträger zu kopieren und durch firmeneigene Spezialisten zu analysieren. Zugleich erteilte sie der Firma N. den Auftrag, einen Bericht über den genauen Umfang des unerlaubten Bezugs ihrer Software über das Bulletinboard "Moonlight" zu erstellen. Dabei wurden die Firma N. bzw. die den Auftrag ausführenden Mitarbeiter auf die strafrechtlichen Folgen eines wissentlich falschen Gutachtens nach
Art. 307 StGB
hingewiesen. Einen gegen diese Verfügung erhobenen Rekurs von B. wies die Staatsanwaltschaft am 18. Juli 1997 im Sinne der Erwägungen ab.
B. hat gegen den Entscheid der Staatsanwaltschaft vom 18. Juli 1997 eine staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht erhoben und beantragt dessen Aufhebung. Er rügt unter anderem eine Verletzung des Grundrechts der persönlichen Freiheit.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
2.
Die umstrittene Anordnung bezieht sich allein auf das Material, das am 15. Oktober 1996 anlässlich der Hausdurchsuchung beim Beschwerdeführer sichergestellt wurde. Die am 16. Oktober 1996 an seinem Arbeitsort beschlagnahmten Gegenstände sind von der angefochtenen Verfügung nicht betroffen. Der Beschwerdeführer hat im übrigen die Siegelung der bei ihm sichergestellten Gegenstände nicht verlangt, weshalb sie Teil der Akten bilden (vgl. § 99
BGE 124 I 34 S. 36
der Strafprozessordnung vom 4. Mai 1919 [StPO/ZH]). Um dieses Material auszuwerten, sehen die kantonalen Behörden den Beizug der Beschwerdegegnerin als Expertin vor, da ihnen selber dazu die nötigen Fachkenntnisse fehlen.
Es ist unbestritten, dass die Bezirksanwaltschaft gemäss
§
§ 109 ff. StPO
/ZH zur Analyse der sichergestellten Datenträger Sachverständige zuziehen darf. Streitgegenstand bildet allein die Frage, ob die Vergabe des Gutachtensauftrags an die Beschwerdegegnerin deshalb die persönliche Freiheit des Beschwerdeführers oder die Garantien von
Art. 4 BV
sowie
Art. 6 und 8 EMRK
verletze, weil diese im Strafverfahren zugleich als Geschädigte und Strafantragstellerin auftritt.
3.
a) Bei der Analyse der beschlagnahmten Datenträger erhält der Gutachter Einblick in die darin gespeicherten Informationen. Der Beschwerdeführer macht geltend, dass viele der elektronischen Daten sein Privatleben beträfen, da er die sichergestellten Computer keineswegs nur zum Betrieb des Bulletinboards "Moonlight", sondern ebenfalls zu privaten Zwecken benutzt habe. Von Geschäftskorrespondenz über Bewerbungsschreiben und finanzielle Transaktionen bis hin zum Liebesbrief lasse sich alles auf den beschlagnahmten Computerfestplatten finden. Da die Untersuchungsbehörden das gesamte in der Wohnung des Beschwerdeführers auffindbare Computermaterial sichergestellt haben und eine Aussonderung einzelner Teile nicht stattfand, muss davon ausgegangen werden, dass dieses nicht nur Daten enthält, die sich auf die ihm vorgeworfenen Straftaten beziehen, sondern dass darin vielmehr ebenfalls manche Informationen aus dem Privatleben des Beschwerdeführers gespeichert sind. Darauf deutet im übrigen auch die Beschriftung auf einzelnen beschlagnahmten Datenträgern hin.
Die Beschaffung, Aufbewahrung, Verwendung und Bekanntgabe persönlicher Daten berührt die durch das Grundrecht der persönlichen Freiheit und
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
geschützte Privatsphäre (
BGE 122 I 360
E. 5a S. 362). Dieser letzteren sind alle der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Angaben über eine Person zuzurechnen wie namentlich erkennungsdienstliche Daten (
BGE 113 Ia 257
E. 4b S. 263), Informationen über medizinische Behandlungen einer Person (noch nicht publizierter Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte i.S. M.S. c. Schweden vom 27. August 1997, Ziff. 35) oder die Mitgliedschaft und Tätigkeit in einem Verein (
BGE 122 I 360
E. 5a S. 362 f.), ferner Akten über Zivil-, Straf- oder Administrativverfahren (
BGE 122 I 153
E. 6b/cc S. 163), aber auch
BGE 124 I 34 S. 37
private Korrespondenz (
BGE 122 I 222
E. 6a S. 233). Im vorliegenden Fall verschafft die Aushändigung der sichergestellten Datenträger an einen Gutachter diesem Zugang zu Informationen, die wie erwähnt mindestens teilweise nicht öffentlich zugänglich sind und daher der Privatsphäre des Beschwerdeführers angehören. Die Erteilung des Auftrags an einen Sachverständigen bewirkt daher einen Eingriff in die persönliche Freiheit und den durch
Art. 8 Ziff. 1 EMRK
geschützten Privatbereich.
Der Geschädigte hat im Hinblick auf die Geltendmachung allfälliger Zivilansprüche oftmals ein besonderes Interesse an der Kenntnis persönlicher Daten des Beschuldigten. Wird er als Gutachter bestellt, erfährt er unter Umständen auf diesem Weg Sachverhalte, die ihm in einem späteren Zivilverfahren erhebliche Vorteile verschaffen. Der mit einer solchen Anordnung verbundene Eingriff in die Privatsphäre des Beschuldigten ist daher als schwer einzustufen. Das gilt ganz besonders im vorliegenden Fall, in dem die Beschwerdegegnerin an einem harten Vorgehen gegenüber dem Beschwerdeführer interessiert ist, um andere "Software-Piraten" möglichst abzuschrecken. Unzutreffend ist es, wenn im angefochtenen Entscheid der Eingriff mit dem Hinweis relativiert wird, die Beschwerdegegnerin erhielte aufgrund ihres Akteneinsichtsrechts ohnehin Kenntnis vom Ergebnis des Gutachtens. Denn letzteres vermittelt nur Aufschlüsse über das dem Beschuldigten vorgeworfene Verhalten, nicht jedoch über damit nicht in Zusammenhang stehende Daten aus dem Privatbereich, zu denen der Experte notwendigerweise ebenfalls Zugang erhält.
b) Einschränkungen der persönlichen Freiheit, die wie im vorliegenden Fall schwer wiegen, sind nur zulässig, wenn sie auf einer unzweideutigen Grundlage in einem formellen Gesetz beruhen (
BGE 123 I 221
E. 4a S. 226;
BGE 122 I 360
E. 5b/bb S. 363 f.). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bedarf es bei schweren Eingriffen in die Privatsphäre einer klaren und detaillierten gesetzlichen Regelung (Entscheid i.S. Kruslin c. Frankreich vom 24. April 1990, Série A, Band 176, Ziff. 33; vgl. auch den [noch nicht publizierten] Entscheid i.S. Halford c. Vereinigtes Königreich vom 25. Juni 1997, Ziff. 49). Ob diese verfassungsrechtlichen Anforderungen erfüllt sind, prüft das Bundesgericht frei. Bei besonders schweren Grundrechtseingriffen wird zudem auch die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Grundlage ohne Einschränkung der Kognition geprüft (
BGE 122 I 360
E. 5b/bb S. 363).
Nach Ansicht des Beschwerdeführers besteht für den Beizug der Beschwerdegegnerin als Gutachterin keine genügende gesetzliche Grundlage. Die analoge Anwendung der Bestimmungen über die Durchsuchung sei fragwürdig, da die elektronischen Datenträger aufgrund ihrer extrem hohen Informationsdichte einen viel weiterreichenden Einblick in die Privatsphäre ermöglichten als Papiere und andere Gegenstände.
c)
§ 109 Abs. 1 StPO
/ZH sieht vor, dass in Strafuntersuchungen Sachverständige beizuziehen sind, soweit es zur Feststellung oder tatsächlichen Würdigung eines Sachverhalts besonderer Kenntnisse oder Fertigkeiten bedarf. Die Untersuchungsbehörde bezeichnet die Punkte, auf welche die Sachverständigen ihre Aufmerksamkeit zu richten haben, erteilt ihnen die erforderlichen Aufschlüsse aus den Akten oder übergibt ihnen dieselben und stellt die zu beantwortenden Fragen (
§ 115 Abs. 1 StPO
/ZH).
Der Beizug eines Sachverständigen zur Analyse der Datenträger, die bei der Hausdurchsuchung beim Beschwerdeführer sichergestellt wurden, findet in den genannten Bestimmungen grundsätzlich eine ausreichende gesetzliche Grundlage. Denn es ist auch unbestritten, dass die Untersuchungsbehörden nicht über das erforderliche Fachwissen verfügen, um die Informationen auf den Datenträgern zu sichten und auszuwerten. Fraglich erscheint jedoch, ob eine genügende gesetzliche Grundlage auch dafür besteht, als Expertin die Beschwerdegegnerin zu bezeichnen.
d) Nach
§ 110 Abs. 1 StPO
/ZH werden die Sachverständigen von der Untersuchungsbehörde bestimmt. Sie darf aber gemäss
§ 111 StPO
/ZH niemanden als Sachverständigen zuziehen, der als Richter abgelehnt werden könnte. Die Ablehnungsgründe sind damit die gleichen für Richter und Experten (vgl. auch
BGE 120 V 397
E. 3a S. 364/365). Die Ablehnungsgründe bei Richtern sind in § 96 des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 13. Juni 1976 (GVG/ZH) aufgezählt. Demgegenüber enthält
§ 95 GVG
/ZH Ausschlussgründe, bei deren Vorliegen der Richter von Gesetzes wegen in den Ausstand treten muss. Der Verweis in
§ 111 StPO
/ZH ist vom Wortlaut her zu eng formuliert, denn es ist anerkannt, dass er sich sowohl auf die Ausschluss- als auch auf die Ablehnungsgründe bezieht (ANDREAS DONATSCH, Zur Unabhängigkeit und Unbefangenheit des Sachverständigen, in: Rechtsschutz, Festschrift zum 70. Geburtstag von Guido von Castelberg, 1997, S. 40).
Nach
§ 95 GVG
/ZH ist ein Richter unter anderem dann von der Ausübung seines Amtes ausgeschlossen, wenn es sich dabei um
BGE 124 I 34 S. 39
seine eigene Sache handelt (Abs. 1 Ziff. 1) oder wenn er in der betreffenden Sache zu gerichtlichen Handlungen Auftrag gegeben hat (Abs. 1 Ziff. 3). Die Beschwerdegegnerin ist im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer Strafantragstellerin und Geschädigte. Diese Tatsache schliesst es nach dem angefochtenen Entscheid nicht aus, dass die Beschwerdegegnerin im gleichen Verfahren auch als Gutachterin tätig wird. Es wird lediglich eingeräumt, ihr Beizug als Expertin sei nicht ganz unproblematisch, weshalb allenfalls ein Obergutachten eingeholt werden müsse.
Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. Ob die Beschwerdegegnerin bereits deshalb als Gutachterin ausscheidet, weil sie sonst in eigener Sache tätig würde, was nach
§ 95 Abs. 1 Ziff. 1 GVG
/ZH unzulässig wäre, mag hier offenbleiben. Auf jeden Fall ist vorliegend der Ausschlussgrund von
§ 95 Abs. 1 Ziff. 3 GVG
/ZH erfüllt. Die Beschwerdegegnerin hat durch das Stellen des Strafantrags zu gerichtlichen Handlungen Auftrag gegeben und darf daher nach der genannten Bestimmung nicht als Gutachterin beigezogen werden. Diese Ausstandspflicht dient der Sicherstellung der Unabhängigkeit des Gutachters (vgl. zu deren Bedeutung DONATSCH, a.a.O., S. 38). Es sollen nur Personen, die sich mit der Strafsache nicht bereits in einem anderen Zusammenhang befasst haben, als Gutachter bestellt werden. Der Ausschluss der Beschwerdegegnerin von der Tätigkeit als Gutachterin steht im übrigen im Einklang mit der jüngsten Rechtsprechung zu
Art. 6 EMRK
. Danach erscheint bereits der Beizug desjenigen als Experte problematisch, dessen blosse Feststellungen zur Einleitung des fraglichen Strafverfahrens geführt haben (
BGE 122 IV 235
E. 2h S. 239 f.).
e) Die Bezeichnung der Beschwerdegegnerin als Sachverständige ist somit im vorliegenden Fall gemäss
§ 111 StPO
/ZH in Verbindung mit
§ 95 Abs. 1 Ziff. 3 GVG
/ZH unzulässig. Der angefochtene Entscheid entbehrt damit der für einen Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Privatsphäre erforderlichen gesetzlichen Grundlage. Er ist daher in Gutheissung der staatsrechtlichen Beschwerde aufzuheben. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich eine Behandlung der übrigen vom Beschwerdeführer vorgebrachten Rügen.