BGE 125 II 585 vom 2. November 1999

Datum: 2. November 1999

Artikelreferenzen:  Art. 8 EMRK , Art. 17 Abs. 2 ANAG, Art. 17 ANAG

BGE referenzen:  115 IB 97, 118 IB 153, 119 IB 81, 120 IB 257, 124 II 361, 125 II 633, 126 II 329, 129 II 11, 129 II 249, 130 II 1, 130 II 137, 133 II 6, 136 II 120 , 124 II 361, 118 IB 153, 119 IB 81, 115 IB 97, 120 IB 257, 120 IB 257

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

125 II 585


59. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 2. November 1999 i.S. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement gegen A. (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

Regeste

Art. 17 Abs. 2 ANAG , Art. 8 EMRK ; Verweigerung des Nachzugs des jüngsten Sohnes aus der ersten Ehe einer Ausländerin.
Die Nachzugsregelung von Art. 17 Abs. 2 dritter Satz ANAG ist auf den Fall zugeschnitten, dass die eheliche Beziehung der gemeinsamen Eltern intakt ist. Bei einem nachträglichen Nachzug von Kindern getrennt lebender bzw. geschiedener ausländischer Eltern kann es daher zum Vornherein nur um eine analoge Anwendung dieser Bestimmung gehen.
Es widerspricht daher dem Gesetzeszweck nicht, wenn für den Nachzug solcher Kinder deren Beziehung zu Drittpersonen mitberücksichtigt wird (E. 2c).

Sachverhalt ab Seite 586

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Die brasilianische Staatsangehörige A. wurde 1990 in Brasilien von ihrem Ehemann geschieden. Die vier aus der Ehe hervorgegangenen Kinder wurden unter ihre Obhut gestellt. Im Jahre 1992 heiratete sie den Schweizer Bürger B. und erhielt im Rahmen des Familiennachzugs zunächst eine Aufenthaltsbewilligung. Nach einem fünfjährigen Aufenthalt in der Schweiz erhielt sie die Niederlassungsbewilligung, und rund ein Jahr später wurde ihr das Schweizer Bürgerrecht verliehen.
Am 1. November 1996 stellte A. ein Familiennachzugsgesuch für ihren jüngsten Sohn F., das von der Fremdenpolizei des Kantons Aargau mit Verfügung vom 24. November 1997, bestätigt durch Einspracheentscheid vom 9. Februar 1998, abgelehnt wurde. Eine dagegen eingereichte Beschwerde wurde vom Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau mit Urteil vom 9. April 1999 gutgeheissen, der Entscheid der Fremdenpolizei vom 9. Februar 1998 aufgehoben und das Familiennachzugsgesuch betreffend F. bewilligt; die Fremdenpolizei wurde angewiesen, den Aufenthalt von F. zu regeln.
Gegen dieses Urteil hat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht erhoben mit dem Antrag, es sei aufzuheben und die Verfügung der kantonalen Fremdenpolizei, mit welcher das Familiennachzugsgesuch für F. abgewiesen wurde, sei zu bestätigen.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. a) Zweck des Familiennachzugs gemäss Art. 17 Abs. 2 dritter Satz des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) ist es, das familiäre Zusammenleben zu ermöglichen. Sind die Eltern voneinander getrennt oder geschieden und hält sich der eine Elternteil in der Schweiz, der andere aber im Ausland auf, kann es nicht um eine Zusammenführung der Gesamtfamilie gehen. In solchen Fällen entspricht es dem Gesetzeszweck nicht, einen bedingungslosen Anspruch auf Nachzug der Kinder anzunehmen. Ein Nachzugsrecht setzt vielmehr voraus, dass das Kind zu dem in der Schweiz lebenden Elternteil die vorrangige familiäre Beziehung unterhält. Dabei kommt es nicht nur auf die bisherigen Verhältnisse an, sondern es
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können auch nachträglich eingetretene oder gar künftige Umstände wesentlich werden. Namentlich kann nicht entscheidend sein, in welchem Land das Kind bisher seinen Lebensmittelpunkt hatte, bliebe doch sonst ein Nachzugsrecht praktisch immer wirkungslos. Zu berücksichtigen ist aber, bei welchem Elternteil das Kind bisher gelebt hat bzw. wem die elterliche Gewalt zukommt; wenn sich das Kindesinteresse in der Zwischenzeit geändert hat, so ist für eine Anpassung der familienrechtlichen Verhältnisse in der Regel zunächst der privatrechtliche Weg zu beschreiten. Vorbehalten bleiben Fälle, in denen klare Anhaltspunkte für neue familiäre Abhängigkeiten oder für eine wesentliche Verlagerung der Beziehungsintensitäten bestehen, wie etwa beim Hinschied desjenigen Elternteils, der das Kind bisher betreut hat ( BGE 124 II 361 E. 3a S. 366; BGE 118 Ib 153 E. 2b S. 159). Im Übrigen wird das gesetzgeberische Ziel von Art. 17 Abs. 2 ANAG , das familiäre Zusammenleben zu ermöglichen und rechtlich abzusichern, nicht erreicht, wenn der in der Schweiz niedergelassene Ausländer jahrelang von seinem Kind getrennt lebt und dieses erst kurz vor dem Erreichen des 18. Alters-jahrs in die Schweiz holt. Eine Ausnahme kann nur gelten, wenn die Familiengemeinschaft in der Schweiz aus guten Gründen erst nach Jahren hergestellt wird; solche Gründe müssen sich aus den Umständen des Einzelfalls ergeben ( BGE 119 Ib 81 E. 3a S. 88; BGE 115 Ib 97 E. 3a S. 101).
b) Die Vorinstanz hat diese Grundsätze an sich nicht verkannt. Sie ist jedoch der Auffassung, es komme beim Familiennachzug nach Art. 17 Abs. 2 dritter Satz ANAG nicht darauf an, welcher Fürsorge das Kind noch bedürfe und ob die konkret erforderliche Fürsorge nicht besser weiterhin von einem sonstigen Verwandten, zu dem ein enges Verhältnis bestehe, erbracht werden könne. Der Familienbegriff von Art. 17 ANAG sei nicht identisch mit jenem von Art. 8 EMRK (SR 0.101). Art. 17 Abs. 2 dritter Satz ANAG statuiere einen Anspruch für ledige Kinder unter 18 Jahren auf Einbezug in die Niederlassungsbewilligung ihrer Eltern. Lebten die Eltern zusammen, sei nicht zu prüfen, ob das nachzuziehende Kind allenfalls zu einer im Ausland lebenden Drittperson eine vorrangige (familiäre) Beziehung unterhalte. Das Recht auf Nachzug eines Kindes stehe auch einem einzelnen Elternteil zu, wenn die Eltern getrennt lebten oder geschieden seien und die Zusammenführung der (Rest-) Familie bezweckt werde. Dies gelte jedoch nicht vorbehaltlos, sondern nur dann, wenn die Beurteilung der Eltern-Kind-Beziehung eine vorrangige familiäre Beziehung zum nachzugsberechtigten
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Elternteil ergebe. Eine andere Auslegung von Art. 17 Abs. 2 dritter Satz ANAG, insbesondere die Berücksichtigung einer vorrangigen (familiären) Beziehung zu einer Drittperson, widerspreche dem Zweck der rechtlichen Absicherung des Zusammenlebens der Gesamt- bzw. Teilfamilie. Die Berücksichtigung weiterer Bezugspersonen bei der Beurteilung der vorrangigen familiären Beziehung würde auch zu einer ungerechtfertigten Diskriminierung alleinerziehender Eltern und ihrer Kinder führen. Es sei nicht einsichtig, weshalb Kindern, die nur noch über einen sorgeberechtigten Elternteil verfügen, der Familiennachzug mit dem Argument verweigert werden könnte, sie hätten zu einer Drittperson eine vorrangige (familiäre) Beziehung, wogegen bei Kindern in sogenannt intakten Familien diese Frage überhaupt nicht aufgeworfen werde. Einer derartigen Argumentation zu folgen, hiesse, den Ein-Eltern-Familien die Anerkennung zu verweigern. Weiter stehe einer solchen Argumentation entgegen, dass die Beziehung von Kindern zu Drittpersonen - insbesondere im Hinblick auf die Beurteilung unter dem Gesichtspunkt von Art. 17 ANAG - gar nicht als familiäre Beziehung bezeichnet werden könne, da diese Bestimmung lediglich die Kernfamilie (Eltern und ihre Kinder) schütze. Bei der Ergründung der vorrangigen familiären Beziehung seien demzufolge Beziehungen der Kinder zu Drittpersonen unbeachtlich. Einzig wenn kein Anspruch auf Familiennachzug gestützt auf Art. 17 Abs. 2 ANAG bestehe, sei eine weitergehende Prüfung gestützt auf Art. 8 EMRK angezeigt. Im Gegensatz zu Art. 17 Abs. 2 ANAG beschränke sich der Schutzbereich von Art. 8 EMRK nicht auf die Kernfamilie, sondern erstrecke sich auf die Beziehung zwischen allen nahen Verwandten, die in der Familie eine wesentliche Rolle spielen könnten. Beim Nachzug eines Kindes sei im Hinblick auf den erweiterten Familienbegriff dementsprechend nicht nur eine vorrangige (familiäre) Beziehung zum nachzugsberechtigten Elternteil im Vergleich zum andern Elternteil, sondern auch im Vergleich zu Drittpersonen erforderlich.
c) Eine solche Unterscheidung hat das Bundesgericht in seiner Praxis indessen nie gemacht. Es hat im Gegenteil bei einem nachträglichen Familiennachzug einer Teilfamilie unter dem Gesichtspunkt von Art. 17 Abs. 2 ANAG immer die Beziehungen der Kinder zu weiteren Betreuungspersonen ebenfalls in Betracht gezogen. So hat es in BGE 124 II 361 E. 3a S. 366 ausgeführt, auch wenn Art. 17 Abs. 2 dritter Satz ANAG sowie Art. 8 EMRK unter anderem die familiäre Beziehung getrennt lebender Eltern zu ihren Kindern
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schützten, räumten diese Bestimmungen grundsätzlich nicht demjenigen Elternteil ein Recht auf Nachzug eines Kindes ein, der freiwillig ins Ausland verreist sei und ein weniger enges Verhältnis zum Kind habe als der andere Elternteil "oder sonstige Verwandte, die für das Kind sorgen", wenn er seine bisherigen Beziehungen zum Kind weiterhin pflegen könne. Im Urteil vom 23. Februar 1999 i.S. Rexhepallari hat es dementsprechend massgebend darauf abgestellt, dass die nachzuziehenden Kinder seit vielen Jahren (im Ausland) bei den Grosseltern gelebt und von diesen erzogen worden waren. Auch im Urteil vom 30. September 1998 i.S. Karagöz war entscheidend, dass die Grossmutter die vorrangige Beziehungsperson der Kinder gewesen war. In dem ebenfalls den Kanton Aargau betreffenden Urteil vom 26. Juli 1999 i.S. EJPD c. Krasniqi wurde der Nachzug eines Teils der Kinder nur deswegen bewilligt, weil die Grossmutter, welche die im Kosovo zurückgelassenen Kinder seit Jahren betreut hatte, inzwischen verstorben war und insofern neue Betreuungsbedürfnisse entstanden waren. Das Bundesgericht hat aber ausdrücklich darauf hingewiesen, es genüge nicht, dass im Verhältnis zwischen den Kindern und ihren Eltern eine vorrangige Beziehung der Kinder zum in der Schweiz wohnenden Vater bestehe; die Bewilligung des nachträglichen Familiennachzugs setze zusätzlich voraus, dass er sich als zu deren Pflege notwendig erweisen müsse; dies sei insbesondere dann nicht der Fall, wenn im Heimatland alternative Betreuungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden, die dem Kindeswohl besser entsprächen, beispielsweise weil dadurch vermieden werden könne, die Kinder aus ihrer bisherigen Umgebung und dem ihnen vertrauten Beziehungsumfeld herauszureissen (E. 4c des zitierten Urteils).
Es besteht kein Anlass, von dieser Praxis abzuweichen. Mit ihrer gegenteiligen Auffassung verkennt die Vorinstanz (wie auch MARC SPESCHA, Handbuch zum Ausländerrecht, Bern/Stuttgart/Wien 1999, S. 172 ff., S. 174) letztlich namentlich, worauf das Bundesgericht schon in BGE 118 Ib 153 E. 2b S. 159 hingewiesen hat, nämlich dass Wortlaut und Sinn von Art. 17 Abs. 2 dritter Satz ANAG auf den Nachzug gemeinsamer Kinder zugeschnitten sind und damit den Nachzug von Kindern getrennter bzw. geschiedener Eltern direkt gar nicht erfassen. Es kann daher in solchen Fällen zum Vornherein nur um eine analoge Anwendung gehen, weshalb auch nicht gesagt werden kann, die Berücksichtigung der Beziehungen der Kinder zu Drittpersonen widerspreche dem Gesetz. Zwar will Art. 17 Abs. 2 ANAG das familiäre Zusammenleben innerhalb der Kernfamilie
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(bestehend aus Eltern und gemeinsamen Kindern) gewährleisten; dies hat indessen nichts mit der Frage zu tun, welche Voraussetzungen für den Familiennachzug erforderlich sind, wenn diese Familie nicht mehr besteht. Insofern kommt es auf den der Bestimmung zugrunde liegenden Familienbegriff nicht an. In der Berücksichtigung der Beziehungen zu weiteren Betreuungspersonen liegt schliesslich auch keine Diskriminierung der Kinder getrennter bzw. geschiedener Eltern, denn solche Kinder befinden sich zum Vornherein nicht in der gleichen Lage wie die Kinder verheirateter Eltern, die nach der Vorstellung des Gesetzgebers regelmässig zusammen mit dem vorerst in der Heimat zurückgebliebenen Elternteil nachgezogen werden (vgl. Art. 38 f. der Verordnung über die Begrenzung der Zahl der Ausländer vom 6. Oktober 1986, BVO, SR 823.21), weshalb sich bei ihnen die Frage der Beziehungen zu Drittpersonen im Normalfall gar nicht stellt.
d) Im vorliegenden Fall heiratete die Beschwerdegegnerin, deren Ehe im Jahre 1990 geschieden worden war, am 21. Februar 1992 den Schweizer Bürger B. und erhielt in der Folge die Aufenthaltsbewilligung. Die vier Kinder, die bei der Scheidung unter ihre Obhut gestellt worden waren, liess sie in ihrer brasilianischen Heimat zurück, wo sie offenbar von den Grosseltern betreut wurden. Ein Familiennachzugsgesuch stellte sie erst am 1. November 1996, und nur für den Sohn F., der damals als einziges der Kinder das 18. Alters- jahr noch nicht überschritten hatte, obwohl sie gestützt auf Art. 8 EMRK von Anfang an einen Anspruch auf Familiennachzug hätte geltend machen können. Hierzu wäre sie wirtschaftlich, jedenfalls nachdem ihr Ehemann im Jahre 1994 ein Einfamilienhaus erworben hatte, auch in der Lage gewesen. Plausible Gründe für den nachträglichen Familiennachzug bringt die Beschwerdegegnerin nicht vor. Insbesondere behauptet sie nicht, dass sich die Betreuungsverhältnisse in Brasilien, wo sich die Geschwister des Sohnes und dessen Vater weiterhin aufhalten, inzwischen geändert hätten. Unter diesen Umständen verstiess die kantonale Fremdenpolizei nicht gegen Bundesrecht, wenn sie das Familiennachzugsgesuch abwies. Sie durfte dabei auch berücksichtigen, dass es nicht dem Sinn und Zweck des Instituts des Familiennachzugs entspricht, wenn ein Kind erst nach Absolvierung der Schulpflicht nachgezogen wird, um ihm in der Schweiz eine bessere berufliche Ausbildung zu ermöglichen und das wirtschaftliche Fortkommen zu sichern. Ein eigentlicher Rechtsmissbrauch ist dabei entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht erforderlich.
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e) Aus Art. 8 EMRK lassen sich in einem Fall wie dem vorliegenden keine weitergehenden Ansprüche ableiten. Im Übrigen hatte das nachzuziehende Kind schon im Zeitpunkt der Ausfällung des angefochtenen Entscheids das 18. Altersjahr überschritten, weshalb sich die Beschwerdegegnerin ohnehin nicht auf diese Bestimmung berufen kann (vgl. BGE 120 Ib 257 E. 1e und f S. 261-263).
f) Zusammenfassend ist deshalb festzustellen, dass der angefochtene Entscheid der Vorinstanz, gemäss welchem der Familiennachzug von F. bewilligt wurde, Bundesrecht verletzt.

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