Urteilskopf
125 IV 104
15. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 21. April 1999 i.S. M. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)
M. verkaufte bzw. tauschte in der Zeit von Januar 1995 bis Januar 1996 insgesamt rund 1'000 Ecstasy-Tabletten. Überdies konsumierte er vom 11. September 1995 bis zum 11. September 1997 unbestimmte Mengen Ecstasy und Haschisch.
Am 11. September 1997 verurteilte ihn das Kreisgericht Bern-Laupen wegen mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu 8 Monaten Gefängnis, bedingt bei einer Probezeit von 2 Jahren.
Auf Appellation der Staatsanwaltschaft und Anschlussappellation von M. hin erkannte das Obergericht des Kantons Bern am 27. Januar 1998 auf mehrfache mengenmässig qualifizierte Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. Es bestrafte M. mit einem Jahr und einem Tag Gefängnis, bedingt bei einer Probezeit von 2 Jahren.
M. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
2.
a) Die Vorinstanz führt aus, zu entscheiden sei, ob der Beschwerdeführer, indem er mit 1'000 Ecstasy-Tabletten Handel trieb, gegen
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
verstossen habe. Dabei stelle sich zunächst die Frage, ob es den mengenmässig schweren Fall bei Ecstasy überhaupt gebe.
Endgültige Aussagen zum Gefährdungs- und Abhängigkeitspotential von Ecstasy seien zurzeit noch nicht möglich. Immerhin könne heute von Folgendem ausgegangen werden:
- Obschon es sich bei Ecstasy um ein Amphetaminderivat handle, seien - anders als beim (eigentlichen) Amphetamin - weder das Phänomen der Dosissteigerung noch das der Toleranzbildung zu beobachten. Dosiserhöhungen führten zu verstärkten somatischen Nebenwirkungen.
- Es bestünden Hinweise auf Neurotoxizität sowie auf die Gefahr eines akuten Leber- und/oder Nierenversagens. - Bei chronischem Konsum könnten zudem psychotoxische Wirkungen auftreten (Psychosen, Depressionen, sog. «flash-back»-Fälle). Eine psychische Abhängigkeit sei jedenfalls für eine Minderheit der Konsumenten möglich und lasse sich mit der Abhängigkeit bei Kokain vergleichen.
- Mitzuberücksichtigen sei das gebräuchliche Umfeld des Konsums von Ecstasy. Es sei bekannt, dass Designerdrogen vorwiegend in der Technoszene (bei sog. «Raves») eingenommen würden. Dort sei Ecstasy wegen seiner Doppelwirkung gefragt, d.h. als einerseits die Kontaktfähigkeit, das Leistungsvermögen und die Wahrnehmung steigerndes Stimulans und anderseits entspannendes bis euphorisierendes Halluzinogen. Die Möglichkeiten zur körperlichen Verausgabung an den Tanzveranstaltungen würden scheinbar ins Grenzenlose gesteigert, weil die natürlichen Folgen der Anstrengung - wie Wasserverlust und Müdigkeit, welche sich normalerweise in den Warnzeichen Durst, Schmerz, Erschöpfung und Schwindel manifestierten - wegen der Drogeneinnahme nicht mehr wahrgenommen würden. Zur primären Giftwirkung kämen daher die als erheblich einzustufenden Gefahren eines Herz- bzw. Kreislaufversagens sowie von Schockzuständen hinzu.
Angesichts der insgesamt nicht zu unterschätzenden Gefährlichkeit von Ecstasy sei die Möglichkeit eines mengenmässig schweren Falles im Sinne von
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
zu bejahen.
Zum selben Ergebnis gelange ULRICH WEDER (Die Designer-Drogen aus rechtlicher Sicht, unter besonderer Berücksichtigung des Amphetaminderivats MDMA [«Ecstasy»], ZStrR 115/1997, S. 442).
BGE 125 IV 104 S. 106
Dieser stelle noch den Vergleich mit Cannabis an und komme zum Schluss, dass die Gefährlichkeit von Ecstasy wesentlich höher einzustufen sei. Diese Ansicht werde vom deutschen Bundesgerichtshof in einem Entscheid vom 9. Oktober 1996 geteilt (Neue Juristische Wochenschrift 1997, S. 812).
Die Vorinstanz wendet sich anschliessend der Frage zu, bei welcher Menge die Grenze zum schweren Fall bei Ecstasy zu ziehen sei. Dazu habe sich das Bundesgericht bisher nicht geäussert. Die kantonale Praxis sei uneinheitlich.
Die Vorinstanz ist der Auffassung, die Grenzwerte seien zu errechnen ausgehend von denen, welche die deutsche Rechtsprechung zur «nicht geringen Menge» nach § 29a ff. dBetmG entwickelt hat. Dabei sei dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Ecstasy von der Wirkung her zwischen LSD und Amphetamin anzusiedeln sei. Gehe man vom Vorschlag von WEDER (a.a.O., S. 443 ff.) aus, so wäre bei MDMA der deutsche Grenzwert von 24 g mit dem sich aus den LSD-Grenzwerten von 6 mg in Deutschland sowie 10 mg in der Schweiz ergebenden Faktor 1,66 zu multiplizieren, was 40 g ergebe. Hinzu käme wegen der Amphetaminkomponente von MDMA - beim Amphetamin betrügen die entsprechenden Grenzwerte 10 g in Deutschland bzw. 36 g in der Schweiz: Faktor 3,6 - ein Zuschlag, den Weder auf einen Viertel bemesse, ohne diese Quote allerdings weiter zu begründen. Damit läge die Grenze zum mengenmässig schweren Fall bei MDMA bei 50 g reinem Drogenwirkstoff. Der janusköpfigen Eigenschaft von Ecstasy (halluzinogen und amphetaminergen) werde jedoch am ehesten Rechnung getragen, wenn man die Mischrechnung auf der Basis «halbe/halbe» anstelle, also sowohl Amphetamin als auch LSD heranziehe und daraus das arithmetische Mittel ziehe. Konkret sei demnach folgende Rechnung anzustellen:
- Der deutsche Grenzwert für MDMA (24 g) sei einerseits mit dem Umrechnungsfaktor für LSD (1,66) und anderseits mit dem für Amphetamin (3,6) zu multiplizieren. Der schweizerische Grenzwert ergebe sich aus dem arithmetischen Mittel dieser beiden Resultate (39,84 bzw. 86,4) und liege gerundet bei 63 g MDMA.
- Bei MDE sei analog vorzugehen. Nach deutscher Praxis betrage hier die Grenzmenge 30 g. Daraus ergebe sich (die Hälfte der Summe von 30mal 1,66 und 30mal 3,6) ein schweizerischer Grenzwert von 79 g reinem MDE.
Die Vorinstanz geht dann darauf ein, wie es sich verhält, wenn - wie hier - weder Stoffzusammensetzung noch Stoffkonzentration der Tabletten bekannt sind. Sie legt dar, die Testresultate in der vom
BGE 125 IV 104 S. 107
Verein «eve & rave» herausgegebenen Broschüre vom 23. Mai 1997 seien zwar nicht repräsentativ. Diese indizierten aber zumindest, dass andere Substanzen als MDMA und MDE auf dem Drogenmarkt derzeit kaum eine Rolle spielten. Es rechtfertige sich daher die Annahme, die im vorliegenden Fall zur Diskussion stehenden Tabletten bestünden aus MDMA und MDE. Mangels verlässlicher Kenntnisse über Vorkommen und Verteilung dieser Wirkstoffe sei für die Festsetzung des Grenzwertes vom Stoff mit der geringeren Wirksamkeit auszugehen. Das sei MDE. Es sei hier deshalb von einem Grenzwert von 79 g reinem Drogenwirkstoff auszugehen.
Der deutsche Bundesgerichtshof gehe bei MDE davon aus, in einer Tablette seien durchschnittlich 120 mg Drogenwirkstoff enthalten. Quellen, aus denen Durchschnittswerte für die Schweiz hervorgingen, seien dem Gericht nicht bekannt. Die Testresultate von «eve & rave» seien nicht geeignet, die Wirkstoffmenge von 120 mg MDE als Durchschnittswert zu stützen; die angegebenen Werte seien in der Regel etwas tiefer. Die Studien der Institute für Rechtsmedizin Lausanne vom 23. Juni 1994 und Bern vom Februar 1997 erwähnten einen Trend zur schwächeren Dosierung. Gehe man von einer im Vergleich zur deutschen Praxis geringeren durchschnittlichen Wirkstoffmenge pro Tablette aus, so scheine es mangels empirisch erhobener Zahlen gerechtfertigt, auf den Mittelwert üblicherweise vorkommender Dosierungen abzustellen. Diese lägen bei 50 bis 150 mg, der Mittelwert also bei 100 mg. Demnach seien im Falle nicht bekannter Wirkstoffzusammensetzung zur Erreichung des mengenmässig schweren Falles mindestens 790 Tabletten erforderlich. Diese Grenze habe der Beschwerdeführer überschritten.
Bei der Strafzumessung bemerkt die Vorinstanz, entsprechend dem Schuldspruch nach
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
ergebe sich ein im Vergleich zum Kreisgericht erheblich höherer Strafrahmen von mindestens einem Jahr Gefängnis bis zu 20 Jahren Zuchthaus. Da kein Strafmilderungsgrund ersichtlich sei, sei das Gericht an das gesetzliche Strafminimum gebunden. Die Strafe sei zudem in Anwendung von
Art. 68 Ziff. 1 StGB
angemessen zu erhöhen. Obgleich die Zahl von 1'000 Ecstasy-Tabletten objektiv den Grenzwert des mengenmässig schweren Falles um einiges übersteige, rechtfertige sich hier angesichts des geringen Gewinnes, der fehlenden Vorstrafen sowie der Einsicht und Geständnisbereitschaft des Beschwerdeführers keine weitere Erhöhung der Mindeststrafe, zumal ja der Stellenwert der gehandelten Drogenmenge bei der Strafzumessung nicht überzubewerten sei. Angesichts der marginalen
BGE 125 IV 104 S. 108
Bedeutung der hinzukommenden Konsumwiderhandlungen sei eine Strafe von einem Jahr und einem Tag Gefängnis angemessen.
b) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Annahme eines schweren Falles nach
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
verletze Bundesrecht. Die Anwendung dieser Bestimmung bei Ecstasy sei im Lichte von
BGE 117 IV 314
abzulehnen. Die Zürcher Rechtsprechung habe bei Designerdrogen bisher nie einen mengenmässig qualifizierten Fall angenommen. Ein Grenzwert wäre auch schwer festzulegen. Der Beschwerdeführer nimmt eventualiter einen Grenzwert von 87 g an. Diesen habe er nicht erreicht, da von einer Wirkstoffmenge von 50 mg pro Tablette auszugehen sei.
e) Zu betonen bleibt Folgendes: Wie sich aus den Aussagen der Sachverständigen ergibt, ist die Forschung zu den Gesundheitsgefahren von Ecstasy noch nicht abgeschlossen. Sollten wesentliche neue Erkenntnisse - insbesondere zur Neurotoxizität - gewonnen werden, die zu einer abweichenden Beurteilung der Gesundheitsgefahren führen, wird zu überprüfen sein, ob Ecstasy nicht doch unter
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
falle.
Ob für die Festlegung des Grenzwertes der Ansatz der Vorinstanz überzeugend wäre oder ob dieser nicht vielmehr zu einer Scheingenauigkeit führt, kann offen bleiben.
f) (identisch mit
BGE 125 IV 103
E. 3f) g) Bei der Neubeurteilung wird die Vorinstanz den Strafrahmen des Grundtatbestandes anzuwenden haben. Dies ist auch sachgerecht angesichts der Umstände des vorliegenden Falles. Wie sich aus den kantonalen Urteilen ergibt, handelt es sich beim Beschwerdeführer um einen «kleinen Fisch». Er verkaufte zu einem Freundschaftspreis. Der Gewinn betrug Fr. 1.- pro Tablette. Diesen verwendete der Beschwerdeführer für den Eigenkonsum und für Eintritte an Parties. Er ist überdies nicht vorbestraft. Im Verfahren verhielt er sich kooperativ; er ist geständig und einsichtig.
Für die Vermutung, dass der Vorinstanz die Anwendung des für den schweren Fall vorgesehenen Strafrahmens in Anbetracht dieser Umstände selbst Mühe bereitete, spricht die verhängte Strafe von einem Jahr und einem Tag Gefängnis. Da die Mindeststrafe nach
Art. 68 Ziff. 1 StGB
zu erhöhen war, entsprach dies der tiefsten möglichen Sanktion, obgleich der angenommene Grenzwert deutlich überschritten wurde und die Widerhandlungen sich auf längere Zeit erstreckten.