Urteilskopf
129 III 209
35. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. C. und Mitb. gegen A.-Fonds (Berufung)
4C.246/2002 vom 30. Oktober 2002
Regeste
Art. 27 Abs. 2 ZGB
; Rechtsfolgen einer übermässigen Bindung.
Ein Vertrag, der den höchstpersönlichen Kernbereich einer Person betrifft, bei dem jede vertragliche Bindung gegen die guten Sitten verstösst, ist nichtig. Ausserhalb dieses Bereichs erfordert der mit
Art. 27 Abs. 2 ZGB
bezweckte Schutz der persönlichen Freiheit nicht die von Amtes wegen zu beachtende Nichtigkeit übermässiger Bindungen, sondern bloss das Recht der übermässig gebundenen Partei, die Vertragserfüllung zu verweigern (Präzisierung der Rechtsprechung). Dieses Recht ist höchstpersönlicher Natur und damit unvererblich (E. 2).
A.-
Am 9. Oktober 1941 erwarb der A.-Fonds (nachstehend: Kläger) in der Gemeinde Y., ein grosses Areal. Im Jahre 1942 entschloss sich der Kläger dieses Land im Sinne eines Sozialwerkes Arbeitnehmern der A.-Betriebe zur Verfügung zu stellen, um ihnen zu ermöglichen, günstig zu einem Einfamilienhaus mit Pflanzland zu kommen. Dazu schenkte der Kläger einzelne Parzellen an Arbeitnehmer der A.-Betriebe, die Mitglieder der Genossenschaft "Wohnkolonie Feldbreite" waren, subventionierte den Bau von Häusern, sorgte für die entsprechenden staatlichen Subventionen und für die Finanzierung der restlichen Erstellungskosten. In diesem Rahmen schenkte der Kläger Herrn B. mit Vertrag vom 12. Juni 1944 das Grundstück. Der Schenkungsvertrag enthielt folgendes Kaufsrecht, welches insbesondere sicherstellen sollte, dass die Häuser zu Gunsten der Arbeitnehmer der A.-Betriebe erhalten bleiben:
"4.) Der Beschenkte räumt dem Schenker am geschenkten Grundstücke samt dem von der Genossenschaft Wohnkolonie Feldbreite für Rechnung des Beschenkten, auf Grund des Schenkungsversprechens vom 19. Okt. 1942, darauf erstellten Hause ein Kaufsrecht ein zu den nach Abzug der Subventionen verbleibenden Gestehungskosten der Baute abzüglich Entwertung zufolge Abnützung, worüber noch folgendes vereinbart wird: a) Die Gestehungskosten, von denen bei Bestimmung des Kaufpreises ausgegangen wird, betragen nach bisheriger Berechnung Fr. 21'360.-. Dazu kommen allfällige Mehrkosten für Nachtragsarbeiten, sowie eigene im Laufe der Zeit, in Übereinstimmung mit den Genossenschafts-Statuten vom Beschenkten vorgenommene, wertvermehrende Aufwendungen. Die Entwertung zufolge Abnützung ist nach dem Zustande der Baute im Zeitpunkte der Ausübung des Kaufsrechtes zu schätzen. Allfällige gegenüber der bisherigen Berechnung vom 4.4.44 sich ergebende Abänderungen der endgültigen Subventionen sind ebenfalls zu berücksichtigen.
b) ...
c) Sofern die Parteien sich bei Ausübung des Kaufsrechtes über den anzurechnenden Kaufpreis nicht einigen können, so ist derselbe auf Grund obiger Bestimmungen von einem Fachmann als Schiedsrichter endgültig festzusetzen. Dieser Schiedsrichter wird von den Parteien, oder wenn sie sich über dessen Wahl nicht einigen können, auf Begehren einer Partei vom Amtsgerichtspräsident von Hochdorf ernannt.
d) ...
e) Dieses Kaufsrecht ist im Sinne von
Art. 683 ZGB
für die Dauer von 10 Jahren im Grundbuche vorzumerken als Kaufsrecht zu den Gestehungskosten des Hauses abzüglich Entwertung zufolge Abnützung. Auf Verlangen des Schenkers wird der Beschenkte oder
BGE 129 III 209 S. 211
Rechtsnachfolger vor Ablauf von 10 Jahren jeweilen die nötigen Formalitäten erfüllen, um die Vormerkung zu erneuern."
B. erneuerte das Kaufsrecht am 24. Mai 1954, am 25. Mai 1964, am 21. Mai 1974, am 14. Mai 1984 und am 25. Februar 1994, worauf es jeweils für die weitere Dauer von zehn Jahren im Grundbuch vorgemerkt wurde. In der ersten und zweiten Kaufsrechtserneuerung verpflichtete er sich, vor Ablauf von zehn Jahren das Kaufsrecht zwecks Erneuerung der Vormerkung wieder zu erneuern. Nachdem B. am 9. Oktober 1995 verstorben war, übte der Kläger mit Erklärung vom 26. Juni 1996 sein Kaufsrecht per 30. September 1996 gegenüber den Erben von B. aus. Diese stimmten der Eigentumsübertragung nicht zu und beriefen sich auf Nichtigkeit des Kaufsrechts und Unverbindlichkeit der letzten Kaufsrechtserneuerung wegen Grundlagenirrtums.
B.-
Am 10. Februar 1997 reichte der Kläger beim Amtsgericht Hochdorf gegen die Erben von B. Klage ein. Damit beantragte der Kläger im Wesentlichen die Übertragung des Grundstücks Y. auf ihn, wobei der Kaufpreis gemäss Ziff. 4 lit. a-c des am 12. Juni 1944 mit Herrn B. sel. abgeschlossenen Schenkungsvertrages durch ein Schiedsgerichtsurteil festzusetzen sei. Zudem verlangte der Kläger, die Beklagten zu verpflichten, ihm unter solidarischer Haftbarkeit ab 1. Oktober 1996 Fr. 105.- pro Monat bis zum rechtskräftigen Abschluss der vorliegenden Auseinandersetzung zuzüglich Zins zu 5% ab mittlerem Verfall zu bezahlen. Die Beklagten schlossen auf Abweisung der Klage, soweit darauf einzutreten sei. Eventualiter verlangten sie, es sei festzustellen, dass der von einem Schiedsgericht endgültig festzusetzende Kaufpreis aufgrund des aktuellen Gebäudewertes zu bemessen sei.
Das Amtsgericht kam zum Ergebnis, das Kaufsrecht sei gültig. Jedoch rechtfertige sich, die Kaufpreisregelung gemäss Schenkungsvertrag vom 12. Juni 1944 in Anwendung von
Art. 2 ZGB
insoweit anzupassen, als die Gestehungskosten grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Ausübung des Kaufsrechts per 30. September 1996 zu aktualisieren seien. Demnach hiess das Amtsgericht am 30. Juni 2000 die Klage teilweise gut und wies das Grundbuchamt Hochdorf an, den Kläger als neuen Eigentümer des Grundstücks Y., im Grundbuch einzutragen, wenn er den Nachweis erbringt, dass er den Beklagten den Kaufpreis bezahlt oder gerichtlich hinterlegt hat, welcher nach dem Neuwert des Gebäudes und Nebenkosten per 30. September 1996 abzüglich Alterungsentwertung und abzüglich 19.77% (Subventionen) zu berechnen und im Übrigen nach Ziffer 4
BGE 129 III 209 S. 212
lit. b und c des Schenkungsvertrages zwischen dem Kläger und B. sel. zu bestimmen und zu bezahlen sei. Die anderslautenden Begehren wies das Amtsgericht ab.
Auf Appellation der Beklagten und Anschlussappellation des Klägers hin, wies das Obergericht des Kantons Luzern mit Urteil vom 21. Mai 2002 das Grundbuchamt Hochdorf an, den Kläger als neuen Eigentümer des Grundstücks Y., im Grundbuch einzutragen, wenn dieser nachweise, dass er den Beklagten den Kaufpreis bezahlt oder gerichtlich hinterlegt habe; dieser bestehe in den Gestehungskosten abzüglich der Subventionen und der Entwertung zufolge Abnützung, wobei Vertragsbestimmung Ziff. 4 lit. a-c des Schenkungsvertrages zwischen dem Kläger und B. vom 12. Juni 1944 massgebend sei. Zudem verpflichtete das Obergericht die Beklagten, dem Kläger in solidarischer Haftung ab 1. Oktober 1996 bis zum rechtskräftigen Abschluss dieser Auseinandersetzung monatlich Fr. 105.- nebst 5% Zins ab mittlerem Verfall zu bezahlen. Die übrigen Begehren der Parteien hat das Obergericht abgewiesen.
C.-
Die Beklagten erheben eidgenössische Berufung mit den Anträgen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Klage abzuweisen. Eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Der Kläger schliesst auf Abweisung der Berufung.
Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es darauf eintritt.
Aus den Erwägungen:
2.1
Das Obergericht ging davon aus, das letztmals 1994 erneuerte Kaufsrecht habe nicht zu einer übermässigen Bindung von B. geführt, weshalb eine Verletzung von
Art. 27 Abs. 2 ZGB
zu verneinen sei.
Die Beklagten rügen, das Obergericht habe verkannt, dass die Kaufsrechtsverpflichtung nichtig sei, da sie bei einer Gesamtwürdigung der Umstände die Freiheit von B. übermässig beschränkt und damit gegen
Art. 27 Abs. 2 ZGB
verstossen habe. Die Beklagten könnten sich daher auf die Ungültigkeit der Kaufsrechtsklausel berufen.
Der Kläger wendet dem Sinne nach ein, der Schutz gemäss
Art. 27 Abs. 2 ZGB
vor übermässigen Bindungen könne nur von der Person geltend gemacht werden, deren Persönlichkeitsrecht dadurch geschützt wird. Der Anspruch auf diesen Schutz sei als höchstpersönliches Recht unvererblich. Er könne von den Erben - gleich wie
BGE 129 III 209 S. 213
bei Genugtuungsansprüchen - nur geltend gemacht werden, soweit er beim Ableben der zu schützenden Partei anerkannt oder eingeklagt worden sei. Da B. nie eine übermässige Bindung geltend gemacht habe, sei es seinen Erben verwehrt, dies an seiner Stelle zu tun.
2.2
Von den gesetzlichen Vorschriften abweichende Vereinbarungen sind nur zulässig, wo das Gesetz nicht eine unabänderliche Vorschrift aufstellt oder die Abweichung nicht einen Verstoss gegen die öffentliche Ordnung, gegen die guten Sitten oder gegen das Recht der Persönlichkeit in sich schliesst (
Art. 19 Abs. 2 OR
). Ein Vertrag, der einen unmöglichen oder widerrechtlichen Inhalt hat oder gegen die guten Sitten verstösst, ist gemäss
Art. 20 Abs. 1 OR
nichtig. Der gesetzlich nicht definierte Begriff der Nichtigkeit wird traditionell als ursprüngliche Unwirksamkeit verstanden, welche von Amtes wegen zu beachten ist (
BGE 97 II 108
E. 4 S. 115;
BGE 110 II 360
E. 4 S. 368;
BGE 123 III 60
E. 3b; HUGUENIN JACOBS, Basler Kommentar, 2. Aufl., N. 53 zu Art. 19/20 OR, mit weiteren Hinweisen; vgl. für das öffentliche Recht
BGE 115 Ia 1
E. 3 S. 4 mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und der herrschenden Lehre ist
Art. 20 OR
insoweit einschränkend auszulegen, als gegen zwingendes Recht verstossende Verträge nur nichtig sind, wenn diese Rechtsfolge ausdrücklich gesetzlich vorgesehen ist oder sich aus dem Sinn und Zweck der verletzten Norm ergibt (
BGE 119 II 222
E. 2; HUGUENIN JACOBS, a.a.O., N. 54 zu Art. 19/20 OR, je mit Hinweisen).
Art. 27 Abs. 2 ZGB
statuiert zum Schutz der Persönlichkeit vor übermässiger Bindung (vgl. Marginalie), dass sich niemand seiner Freiheit entäussern oder sich in ihrem Gebrauch in einem das Recht oder die Sittlichkeit verletzenden Grade beschränken kann. Das Bundesgericht ging davon aus, eine gemäss
Art. 27 Abs. 2 ZGB
übermässige Bindung verstosse gegen die guten Sitten und sei damit gemäss
Art. 20 OR
als nichtig oder teilnichtig zu qualifizieren (
BGE 84 II 355
E. 3 S. 366 f.;
BGE 106 II 369
E. 4 S. 379;
112 II 433
E. 3 S. 436;
BGE 114 II 159
E. 2c;
BGE 120 II 35
E. 4a S. 40 f.). In der Literatur wird demgegenüber angenommen, ein Verstoss gegen die von Amtes wegen zu beachtenden guten Sitten sei nur soweit anzunehmen, als ein Vertrag den höchstpersönlichen Kernbereich einer Person betreffe, welcher jeder vertraglichen Verpflichtung entzogen sein soll. Soweit eine Bindung an sich zulässig und nur das Mass der Bindung als übermässig zu qualifizieren sei, liege kein Verstoss gegen die guten Sitten, sondern alleine ein Verstoss gegen das Recht der Persönlichkeit vor (BUCHER, Berner Kommentar, N. 114 ff. und N. 127 zu
BGE 129 III 209 S. 214
Art. 27 ZGB
; KRAMER, Berner Kommentar, N. 212 ff. und N. 374 zu
Art. 19 und 20 OR
; a.M. GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I., 7. Aufl., S. 125 f. Rz. 658-661, die jedoch ebenfalls zwischen dem Gegenstand und dem Übermass der Bindung unterscheiden). Die bloss übermässige Bindung solle gemäss dem Zweck von
Art. 27 Abs. 2 ZGB
, die individuelle Freiheit einer Person zu schützen, nur zur Unverbindlichkeit des Vertrages führen, wenn die betroffene Person den Schutz in Anspruch nehme und sich von der Bindung lösen möchte (BUCHER, Berner Kommentar, N. 127 zu
Art. 27 ZGB
; im Ergebnis ebenso KRAMER, Berner Kommentar, N. 371 ff. zu
Art. 19 und 20 OR
; HUGUENIN JACOBS, Basler Kommentar, N. 21 zu
Art. 27 ZGB
; BRÜCKNER, Das Personenrecht des ZGB, S. 276 f. Rz. 905 f.; vgl. auch GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY, a.a.O., S. 133 Rz. 687; TUOR/SCHNYDER/SCHMID/RUMO-JUNGO, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 12. Aufl., S. 100). Dieser Auffassung, welche gleich wie
Art. 19 Abs. 2 OR
zwischen einem Verstoss gegen die Persönlichkeit und einem Verstoss gegen die guten Sitten unterscheidet, ist zuzustimmen. Die gegenüber der Nichtigkeit eingeschränkte Rechtsfolge bei bloss übermässigen Bindungen ist gerechtfertigt, da die zu schützende Freiheit einer Person ihr die Möglichkeit belassen soll, im Rahmen der im öffentlichen Interesse zu wahrenden guten Sitten für die Gegenwart auf den Schutz von
Art. 27 Abs. 2 ZGB
zu verzichten und einen objektiv betrachtet übermässig bindenden Vertrag rechtsgültig zu erfüllen, ohne dass sich die Gegenpartei auf das Übermass der Bindung berufen kann (vgl.
Art. 28 Abs. 2 ZGB
; ähnlich schon
BGE 106 II 369
E. 4 S. 379). Der Zweck von
Art. 27 Abs. 2 ZGB
verlangt jedoch, dass die übermässig gebundene Person die Vertragserfüllung verweigern kann (vgl.
BGE 108 II 405
E. 3 S. 409). Der Anspruch auf Schutz vor übermässigen Bindungen gemäss
Art. 27 Abs. 2 ZGB
ist höchstpersönlicher Natur und damit unvererblich (vgl.
BGE 104 II 225
E. 5b S. 234 f.). Es steht den Erben daher nicht zu, sich auf eine übermässige Bindung des Erblassers zu berufen, wenn er dies nicht selbst getan hat.
2.3
Das dem Kläger eingeräumte Kaufsrecht betrifft ein Verfügungsgeschäft und berührt den Kerngehalt der Persönlichkeit von B. nicht, weshalb - auch wenn insbesondere in zeitlicher Hinsicht eine übermässige Bindung anzunehmen wäre - eine von Amtes wegen zu beachtende Sittenwidrigkeit des Vertrages im Sinne von
Art. 20 OR
zu verneinen ist. Da B. gemäss den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gegenüber dem Kläger nicht zum Ausdruck
BGE 129 III 209 S. 215
brachte, dass er das Kaufsrecht als übermässige Bindung empfand und er sich nie davon lösen wollte, können die Beklagten nicht geltend machen, B. sei durch dieses Kaufsrecht übermässig gebunden gewesen. Es kann daher offen bleiben, ob gemäss der Annahme des Obergerichts eine übermässige Bindung von B. zu verneinen sei. Auf die dagegen gerichtete Kritik der Beklagten ist demnach mangels eines genügenden Rechtsschutzinteresses nicht einzutreten. Dass das dem Kläger eingeräumte Kaufsrecht die Beklagten selbst übermässig binde, wird von ihnen nicht geltend gemacht und ist auch nicht ersichtlich. Das Obergericht hat demnach kein Bundesrecht verletzt, wenn es zum Ergebnis kam,
Art. 27 Abs. 2 ZGB
sei nicht verletzt.