Urteilskopf
132 III 539
63. Auszug aus dem Urteil der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer i.S. Erbengemeinschaft E. (SchKG-Beschwerde)
7B.27/2006 vom 13. Juni 2006
Regeste
Grundstücksteigerung; Doppelaufruf; Überschuss; Legitimation zur Anfechtung der Verteilungsliste (
Art. 86, 142 Abs. 3, 147 und 148 SchKG
;
Art. 812 Abs. 2 ZGB
;
Art. 116 Abs. 2 VZG
).
Der Streit über die Höhe der Entschädigung, die den Berechtigten durch die Löschung ihrer Last im Grundbuch wegen des Doppelaufrufs zusteht, ist im Kollokationsverfahren, also vor dem Richter und nicht vor der Aufsichtsbehörde auszutragen. Der Schuldner kann den Kollokationsplan und die Verteilungsliste einzig wegen Verletzung von Vorschriften des SchKG durch das Betreibungsamt mit Beschwerde anfechten. Die Abfindungen für die Berechtigten bzw. die Höhe eines allfälligen Überschusses zu seinen Gunsten kann der Schuldner nur mit der Rückforderungsklage infrage stellen (E. 3).
Am 31. August 2004 versteigerte das Betreibungsamt Weinfelden das Grundstück Nr. x, Grundbuch G. Eigentümerin war die Erbengemeinschaft F. (nachfolgend: Schuldnerin). Weil die Liegenschaft mehrere, den grundpfandversicherten Forderungen nachgehende Lasten aufwies, verlangte die Grundpfandgläubigerin einen Doppelaufruf. Im ersten Aufruf erreichte die Liegenschaftssteigerung den Betrag von Fr. 6'800'000.-, im zweiten Aufruf ohne die nachgehenden Lasten einen Betrag von Fr. 8'005'000.-. Nach Abzug der pfandgesicherten Forderungen und der Kosten des Betreibungsamts resultierte aus der Verwertung ein Nettoüberschuss von Fr. 763'541.49. Die Erbengemeinschaft E. (nachfolgend: Ansprecherin 1) machte auf Anfrage des Betreibungsamts Weinfelden den gesamten Überschuss als Wert der gelöschten Lasten geltend. Daneben forderten O. (nachfolgend: Ansprecher 2) und P. (nachfolgend: Ansprecherin 3) Abfindungen von je Fr. 10'000.-. Das Betreibungsamt legte am 16. November 2004 die Verteilungsliste neu auf und setzte dabei als Wert der Dienstbarkeiten der Ansprecherin 1 den Betrag von Fr. 763'541.49 ein. Dem Ansprecher 2 und der Ansprecherin 3 wies es keinen Anteil am Überschuss zu. Die Letzteren wurden aufgefordert, innert 20 Tagen seit Empfang dieser Mitteilung beim Bezirksgericht Weinfelden Kollokationsklage zu erheben, falls sie die Forderung der Ansprecherin 1 bestreiten möchten.
Die Schuldnerin erhob gegen die Verteilungsliste am 29. November 2004 Beschwerde und beantragte, es sei ihr der gesamte Überschuss zuzuweisen. Am 31. Dezember 2004 wurde vom Ansprecher 2 und von der Ansprecherin 3 die Kollokationsklage beim Bezirksgericht Weinfelden anhängig gemacht; das Verfahren wurde wegen des pendenten Beschwerdeverfahrens sistiert. Das Vizegerichtspräsidium Weinfelden holte zum Wert der gelöschten
BGE 132 III 539 S. 541
Dienstbarkeiten eine Expertise ein. Mit Verfügung vom 20. Oktober 2005 schützte es die Beschwerde teilweise und wies einen Teil des aus der Verwertung der Liegenschaft resultierenden Überschusses im Betrag von Fr. 127'164.20 der Ansprecherin 1 zu.
Die Ansprecherin 1 gelangte am 26. Oktober 2005 an das Obergericht des Kantons Thurgau als obere Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung und Konkurs und beantragte, die Beschwerde der Schuldnerin sei abzuweisen. Eventuell seien die der Beschwerdeführerin erwachsenen Inkonvenienzen mit Fr. 200'000.- und die ideellen Werte mit Fr. 200'000.- zu berücksichtigen. Mit Entscheid vom 19. Dezember 2005 wurde das Rechtsmittel abgewiesen.
Die Ansprecherin 1 hat die Sache mit Beschwerde an die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts weitergezogen. Sie beantragt im Wesentlichen die Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Sodann begehrt sie die Zuweisung des gesamten Überschusses an sie gemäss der Neuauflage der Verteilungsliste vom 16. November 2004. Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts hebt den Beschluss des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 19. Dezember 2005 von Amtes wegen auf und erklärt die Beschwerde der Ansprecherin 1 vom 26. Oktober 2005 als unzulässig.
Aus den Erwägungen:
3.
Selbst bei einer formell unzureichenden Beschwerde, wie sie hier vorliegt, kann die erkennende Kammer eingreifen, wenn sie auf eine nichtige Verfügung (
Art. 22 SchKG
) tatsächlich aufmerksam wird (
BGE 94 III 65
E. 2 S. 68 und 71). Verfügungen, mit denen die Vollstreckungsbehörden offensichtlich ihre sachliche Zuständigkeit überschreiten, sind nichtig (
BGE 111 III 56
E. 3 S. 61).
Unter diesen Umständen bleibt allein von Amtes wegen zu prüfen, ob über die Verteilung des Überschusses, der sich wegen des Doppelaufrufs bei der Grundstücksteigerung ergeben hatte, trotz des Verweises in Art. 116 Abs. 2 der Verordnung des Bundesgerichts vom 23. April 1920 über die Zwangsverwertung von Grundstücken (VZG; SR 281.42) auf die analoge Anwendung von
Art. 147 und
Art. 148 SchKG
im Beschwerdeverfahren nach
Art. 17 ff. SchKG
entschieden werden durfte.
3.1
Ist der betreibende Gläubiger aufgrund des Doppelaufrufs befriedigt worden und resultiert ein Überschuss, so ist dieser in erster
BGE 132 III 539 S. 542
Linie bis zur Höhe des Wertes der Last zur Entschädigung des Berechtigten zu verwenden (
Art. 142 Abs. 3 SchKG
). Gemäss
Art. 812 Abs. 3 ZGB
hat der aus der Dienstbarkeit oder Grundlast Berechtigte gegenüber nachfolgenden Eingetragenen für den Wert der Belastung Anspruch auf vorgängige Befriedigung aus dem Erlös, wenn die Last bei der Pfandverwertung gemäss
Art. 812 Abs. 2 ZGB
gelöscht werden muss. Aus dem gesetzlichen Rangprinzip (Alterspriorität) folgt, dass der Berechtigte seine Befriedigung vor jedem später Eingetragenen (Pfandgläubiger, Dienstbarkeits- oder Grundlastberechtigten) erhält (HANS LEEMANN, Berner Kommentar, N. 32 zu
Art. 812 ZGB
, S. 776; BERNHARD TRAUFFER, Basler Kommentar, 2. Aufl. 2003, N. 23 zu
Art. 812 ZGB
, S. 1632). Bleibt noch ein Überrest, so kommt er den nachfolgenden Belastungen (z.B. späteren Grundpfandgläubigern) zugute oder fällt, wenn es keine solchen gibt, dem Grundeigentümer zu (TUOR/SCHNYDER/RUMO-JUNGO, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 12. Aufl., S. 935; BERNHARD TRAUFFER, a.a.O.).
3.2
Gemäss
Art. 116 Abs. 2 VZG
ist die Angabe des Wertes der Belastung in die Verteilungsliste aufzunehmen. Die Vorschriften der
Art. 147 und 148 SchKG
finden in Bezug auf diese Forderung entsprechende Anwendung. Der Rechtsstreit über die Höhe einer solchen Entschädigung ist im Kollokationsverfahren, also vor dem Richter und nicht vor der Aufsichtsbehörde auszutragen (FRITZSCHE/ WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, Bd. I, N. 33 S. 449 mit Hinweis auf CARL JAEGER, Schuldbetreibung und Konkurs, 3. Aufl. 1911, Bd. I, N. 16 zu
Art. 141 SchKG
, gemäss welchem nur die zur Anfechtung des Kollokationsplans Legitimierten die geltend gemachte Forderung
gerichtlich
bestreiten können).
Gemäss ständiger Rechtsprechung (
BGE 81 III 23
E. 1, bestätigt in
BGE 114 III 60
E. 2b S. 62) kann nur der Gläubiger Klage auf Anfechtung des Kollokationsplans im Sinne von
Art. 148 SchKG
erheben, der die Kollokation eines andern beanstandet (ERNST BLUMENSTEIN, Handbuch des Schweizerischen Schuldbetreibungsrechtes, S. 495 mit Hinweis auf CARL JAEGER, N. 1 zu
Art. 148 SchKG
; R. GÖSCHKE, Kollokationsplan und Kollokationsklage im schweizerischen Betreibungsrecht, Diss. Bern 1915, S. 240). Der Schuldner kann zwar den Kollokationsplan und die Verteilungsliste oder nur die Letztere durch Beschwerde anfechten, wenn er findet, dass das Betreibungsamt die Vorschriften des SchKG verletzt habe
BGE 132 III 539 S. 543
(PIERRE-ROBERT GILLIÉRON, Commentaire de la loi fédérale sur la poursuite pour dettes et la faillite, N. 35 zu
Art. 148 SchKG
mit Hinweis auf
BGE 81 III 23
E. 1 und 38 I 324 ff.; CARL JAEGER, a.a.O., N. 4 zu
Art. 148 SchKG
, S. 499), ist jedoch zu dieser - derjenigen gemäss Art. 147 f. SchKG nachgebildeten - Klage nicht legitimiert.
Nicht Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens konnten nach dem Angeführten die Höhe der Abfindungssummen für die Dienstbarkeitsberechtigten sein. Die untere Aufsichtsbehörde hätte deshalb über die von der Schuldnerin aufgeworfenen Fragen nicht befinden dürfen. Denn aufgrund des in
Art. 116 Abs. 2 VZG
vorgegebenen Verfahrensablaufes wurde damit in die Kompetenz des Richters eingegriffen.
3.3
Die Schuldnerin kann - wie in E. 3.2 hiervor ausgeführt - auf den Ausgang des Kollokationsprozesses, in welchem die Entschädigungen für die gelöschten Dienstbarkeiten zu bestimmen sind, keinen Einfluss nehmen. Falls sie der Auffassung sein sollte, die Abfindungen für die Berechtigten seien zu hoch bzw. der allfällig an sie fallende Überrest sei zu gering ausgefallen, so bliebe ihr nichts anderes übrig, als die Rückforderungsklage gemäss
Art. 86 SchKG
gegenüber den Gläubigern anzustrengen (VIKTOR URS FURRER, Die Kollokationsklagen nach schweizerischem Recht, Diss. Zürich 1978, S. 122/123).
Die Rückforderungsklage ist auch dann zulässig, wenn der Gläubiger durch die Verwertung von Vermögensgegenständen des Schuldners durch das Zwangsvollstreckungsverfahren befriedigt worden ist, d.h. wenn es nicht um die Bezahlung einer Nichtschuld im Sinne von
Art. 86 Abs. 1 SchKG
geht (
BGE 131 III 586
E. 2.1;
BGE 115 III 36
E. 2d; siehe dazu auch: KURT AMONN/FRIDOLIN WALTHER, Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 7. Aufl. 2003, N. 29, S. 142; JAEGER/WALDER/KULL/KOTTMANN, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, 4. Aufl. 1997, Bd. I, N. 2 ff. zu
Art. 86 SchKG
, S. 404 ff.; BERNHARD BODMER, in: Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Hrsg. Staehelin/ Bauer/Staehelin, SchKG I, Basel 1998, N. 11 ff. zu
Art. 86 SchKG
; anderer Meinung PIERRE-ROBERT GILLIÉRON, Poursuite pour dettes, faillite et concordat, 4. Aufl. 2005, N. 885 ff., S. 175). Das gälte auch hier für die eingangs erwähnten (potenziellen) Ansprüche seitens der Schuldnerin und Grundeigentümerin, wo es - wie erwähnt - nicht eigentlich um die Bezahlung einer Nichtschuld und
BGE 132 III 539 S. 544
auch nicht um die Verwertung des Grundstücks an sich geht, sondern um einen aus Letzterer resultierenden Überschuss. Mit Bezug auf die Bedeutung von
Art. 86 SchKG
hat denn VITAL SCHWANDER (BlSchK 1943 S. 98 I./1.) zu Recht ausgeführt, die Rückforderung wegen ungerechtfertigter Bereicherung stelle eine Selbstkorrektur des Rechts gegen unbillige Härten dar und bedürfe deshalb einer Ausdehnung auf das gesamte Recht.