BGE 139 IV 220 vom 8. Juli 2013

Dossiernummer: 6B_708/2012

Datum: 8. Juli 2013

Artikelreferenzen:  Art. 1 StPO, Art. 8 StPO, Art. 12 StPO, Art. 13 StPO, Art. 310 StPO, Art. 319 StPO, Art. 320 StPO, Art. 324 StPO, Art. 328 StPO, Art. 329 StPO, Art. 351 StPO, Art. 393 StPO, Art. 52 StGB, Art. 53 StGB, Art. 54 StGB, Art. 55a StGB , Art. 52-54 StGB, Art. 329 Abs. 4 StPO, Art. 8 Abs. 1 StPO, Art. 52 ff. StGB, Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO, Art. 310 Abs. 1 lit. c StPO, Art. 86 Abs. 1 lit. b HMG, Art. 8 Abs. 4 StPO, Art. 1 Abs. 1 StPO, Art. 351 Abs. 1 StPO, Art. 319 Abs. 1 lit. e StPO, Art. 329 Abs. 1 StPO, Art. 328 ff., 351 StPO, Art. 322 Abs. 2, Art. 393 Abs. 1 lit. a StPO, Art. 329 Abs. 2 StPO, Art. 329 Abs. 3 StPO, Art. 320 Abs. 3 StPO

BGE referenzen:  135 IV 27, 143 IV 104 , 135 IV 27

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

139 IV 220


31. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Swissmedic, Schweizerisches Heilmittelinstitut (Beschwerde in Strafsachen)
6B_708/2012 vom 8. Juli 2013

Regeste

Art. 8 StPO (Verzicht auf Strafverfolgung); Art. 52-54 StGB (Strafbefreiung).
Art. 8 StPO bildet keine Grundlage für die Einstellung des Verfahrens durch das Gericht nach der Anklageerhebung in den Anwendungsfällen von Art. 52-54 StGB . Das Gericht hat über die Anklage zu entscheiden und im Falle eines Schuldspruchs von einer Bestrafung abzusehen (Bestätigung der unter dem früheren Prozessrecht begründeten Rechtsprechung). Unter den Gerichten im Sinne von Art. 8 StPO sind die Gerichte zu verstehen, die über Beschwerden gegen Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft entscheiden (E. 3.4).

Sachverhalt ab Seite 221

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A. X. ist als Fachärztin für Rheumatologie tätig. Sie bestellte in der Zeit vom 30. Mai 2005 bis zum 29. Mai 2006 insgesamt 700 Dosen zu je 100 Tabletten des damals von der Swissmedic nicht zugelassenen Präparats "GC" und gab dieses an Familienangehörige und Freunde sowie an Patienten mit Arthrosebeschwerden ab. Das Präparat "GC" wurde von der A. AG produziert und zum Befüllen der Dosen an die B. AG weitergegeben. Diese füllte das Präparat in Dosen zu 100 Tabletten ab, verschloss die Dosen und lieferte diese an die C. AG beziehungsweise an die D. AG, wo sie zwischengelagert und entsprechend den Bestellungen ausgeliefert wurden. X. respektive ihre Mitarbeiterinnen bestellten die Dosen mit dem Präparat "GC" über E. beziehungsweise dessen Firma F. GmbH.
Das Präparat "GC" ist ein Kombinationspräparat bestehend aus Glucosaminsulfat und Chondroitinsulfat. Der letztgenannte Wirkstoff ist in der Stoffliste der Swissmedic in der Kategorie B (Abgabe auf ärztliche oder tierärztliche Verschreibung) aufgeführt. Das Präparat "GC" wurde zur Behandlung von Arthrosebeschwerden eingesetzt und bis 2006 praktisch ausschliesslich über Ärzte vertrieben.

B.

B.a Mit Strafverfügung vom 10. Februar 2010 bestrafte das Statthalteramt des Bezirkes Zürich X. wegen mehrfacher fahrlässiger Übertretung des Bundesgesetzes vom 15. Dezember 2000 über Arzneimittel und Medizinprodukte (Heilmittelgesetz, HMG; SR 812.21) im
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Sinne von Art. 87 Abs. 1 lit. f und Abs. 3 i.V.m. Art. 86 Abs. 1 lit. b HMG mit einer Busse von 300 Franken.
X. erhob Einsprache und verlangte die gerichtliche Beurteilung.

B.b Die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich sprach X. am 17. Oktober 2012 in Bestätigung des Entscheids des Einzelgerichts des Bezirkes Zürich (10. Abteilung) vom 20. Februar 2012 der mehrfachen fahrlässigen Widerhandlung gegen das Heilmittelgesetz im Sinne von Art. 87 Abs. 1 lit. f in Verbindung mit Art. 86 Abs. 1 lit. b und Art. 87 Abs. 3 HMG schuldig. Sie sah unter Hinweis auf das Verbot der "reformatio in peius" wie das Einzelgericht von der Ausfällung einer Strafe ab. Sie verpflichtete X., dem Staat als Ersatz für widerrechtlich erlangten Vermögensvorteil Fr. 11'500.- zu bezahlen.

C. X. führt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben, und sie sei freizusprechen. In jedem Fall sei auf die Einziehung eines Vermögensvorteils zu verzichten. Eventualiter sei die Ersatzforderung angemessen zu reduzieren. Subeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung des einzuziehenden Vermögensvorteils an die erste Instanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eingetreten ist.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.3 In den Anwendungsfällen der Strafbefreiung im Sinne von Art. 52 bis 54 StGB ist im Stadium des gerichtlichen Verfahrens nach der Anklageerhebung nur ein Schuldspruch unter Verzicht auf Strafe möglich. Ein Freispruch fällt ausser Betracht (FRANZ RIKLIN, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, N. 18, 26 vor Art. 52 ff. StGB ). Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 52, 53 und 54 StGB , wonach die zuständige Behörde von einer "Bestrafung" absieht (renonce à lui "infliger une peine"; prescinde "dalla punizione").
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist in diesen Fällen auch eine Verfahrenseinstellung ausgeschlossen ( BGE 135 IV 27 E. 2 betreffend Art. 53 StGB ). Zu prüfen ist, ob diese Rechtsprechung in Anbetracht der Schweizerischen Strafprozessordnung, die am 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist, zu ändern beziehungsweise obsolet geworden ist.
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3.4 Gemäss Art. 8 Abs. 1 StPO sehen Staatsanwaltschaft und Gerichte von der Strafverfolgung ab, wenn das Bundesrecht es vorsieht, namentlich unter den Voraussetzungen der Artikel 52, 53 und 54 StGB. Nach Art. 8 Abs. 4 StPO verfügen sie in diesen Fällen, dass kein Verfahren eröffnet oder das laufende Verfahren eingestellt wird.
Es stellt sich die Frage, ob das Gericht, das im Verfahren nach der Anklageerhebung die Voraussetzungen von Art. 52, 53 oder 54 StGB als erfüllt erachtet, entsprechend BGE 135 IV 27 E. 2 über die Anklage entscheiden und im Falle eines Schuldspruchs von einer Bestrafung absehen muss oder ob es gemäss Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO das Verfahren einzustellen hat.

3.4.1 In der Lehre sind die Meinungen geteilt. Nach der überwiegenden Auffassung hat das Gericht in den Anwendungsfällen von Art. 52 bis 54 StGB gestützt auf Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO das Verfahren einzustellen (siehe FIOLKA/RIEDO, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2010, N. 105 ff. zu Art. 8 StPO ; WOLFGANG WOHLERS, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2010, N. 11 zu Art. 8 StPO ; NIKLAUS SCHMID, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2009, N. 202 Fn. 335; ROBERT ROTH, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 8 zu Art. 8; JEANNERET/KUHN, Précis de procédure pénale, 2013, n. 4091; wohl auch PIERRE CORNU, Exemption de peine et classement, ZStrR 127/2009 S. 393 ff., 418). Diese Ansicht stützt sich im Wesentlichen auf den Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 StPO , worin neben der Staatsanwaltschaft auch die Gerichte genannt werden, sowie auf Art. 329 Abs. 4 StPO , wonach unter der darin genannten Voraussetzung das Gericht nach Anklageerhebung das Verfahren einstellt. Nach der anderen Auffassung hat das Gericht bei Vorliegen der diesbezüglichen Voraussetzungen einen Schuldspruch auszufällen und von einer Bestrafung abzusehen. Mit den "Gerichten" im Sinne von Art. 8 StPO seien offensichtlich gerichtliche Beschwerdeinstanzen gemeint, die im Vorverfahren wegen einer Verfahrenseinstellung oder deren Ablehnung angerufen werden (RIKLIN, a.a.O., N. 27 vor Art. 52 ff. StGB ).

3.4.2 Bereits der Vorentwurf des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom Juni 2001 zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung sowie der Entwurf des Bundesrates vom Dezember 2005 enthielten in Art. 8 eine Regelung betreffend das "Opportunitätsprinzip" beziehungsweise den "Verzicht auf Strafverfolgung" unter anderem bei geringfügiger Tat. Art. 8 Abs. 3 sah vor, dass
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Staatsanwaltschaft und Gerichte in diesen Fällen eine Nichtanhandnahme- oder Einstellungsverfügung erlassen. Der Verzicht auf Strafverfolgung sollte nur in Form einer solchen Verfügung erfolgen können, gegen welche die Beschwerde an das Gericht zulässig ist (Begleitbericht zum Vorentwurf, S. 36; Botschaft des Bundesrates vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085 ff., 1131 f. zu Art. 8).
Der Begleitbericht zum Vorentwurf enthält keine Anhaltspunkte für die Auffassung, dass das Gericht nach Anklageerhebung gestützt auf Art. 8 das Verfahren einstellen muss, wenn es beispielsweise die Tat als geringfügig erachtet. Aus den Ausführungen in der Botschaft des Bundesrates ergibt sich nicht, dass durch Art. 8 StPO etwas an der bisherigen Rechtslage betreffend das Vorgehen in den Anwendungsfällen von Art. 52 bis 54 StGB geändert werden sollte. Diese Bestimmungen sehen neben dem Absehen von einer Strafverfolgung und einer Überweisung an das Gericht ausdrücklich auch das Absehen von Bestrafung vor. Mit Letzterem ist nicht eine Verfahrenseinstellung, sondern ein Schuldspruch unter Verzicht auf Strafe gemeint. Dies folgt auch aus der Botschaft des Bundesrates vom 21. September 1998 zur Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches, worin zu Art. 52 des Entwurfs (entsprechend Art. 52 StGB ) festgehalten wird, dass die zuständige Behörde unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen zwingend darauf verzichten muss, das laufende Verfahren fortzusetzen oder eine Strafe aufzuerlegen (Botschaft zur Änderung des StGB vom 21. September 1998, BBl 1999 1979 ff., 2064 Ziff. 213.31). Die Botschaft weist darauf hin, dass in der künftigen eidgenössischen Strafprozessordnung gemäss dem Konzeptbericht der Expertenkommission von 1997 ein gemässigtes Opportunitätsprinzip gelten soll, welches unter anderem geringfügige Straftaten erfasst. Bei den Ausnahmen vom Verfolgungszwang soll in der eidgenössischen Strafprozessordnung besonderes Gewicht gelegt werden auf die rechtsstaatliche Überprüfbarkeit der Verfügungen, die den Verzicht auf die Strafverfolgung begründen (Botschaft, a.a.O., S. 2065 Ziff. 213.31). Damit ist offenkundig die Überprüfung von Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft durch ein Gericht gemeint.

3.4.3 Gemäss Art. 52 bis 54 StGB sieht die zuständige Behörde unter den darin genannten Voraussetzungen "von einer Strafverfolgung, einer Überweisung an das Gericht oder einer Bestrafung" ab. Nach
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Art. 8 Abs. 1 StPO sehen Staatsanwaltschaft und Gerichte "von der Strafverfolgung" ab, wenn das Bundesrecht es vorsieht, namentlich unter den Voraussetzungen der Art. 52, 53 und 54 StGB . Gemäss Art. 8 Abs. 4 StPO verfügen sie in diesen Fällen, "dass kein Verfahren eröffnet oder das laufende Verfahren eingestellt wird". Art. 8 StPO erfasst nur die "Strafverfolgung", von welcher in Art. 52 bis 54 StGB ebenfalls die Rede ist, nicht auch die in Art. 52 bis 54 StGB darüber hinaus genannte "Bestrafung". Art. 8 StPO betrifft nur die Verfahrensabschnitte bis zur Anklageerhebung, mithin die Strafverfolgung (siehe Art. 1 Abs. 1 StPO ) durch die Strafverfolgungsbehörden (vgl. Art. 12 StPO ), nicht auch die Beurteilung (siehe Art. 1 Abs. 1 StPO ) durch die Gerichte (vgl. Art. 13 StPO ) nach der Anklageerhebung (siehe Art. 351 Abs. 1 StPO ). Aus Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO kann somit nicht geschlossen werden, dass das Gericht, welches nach der Anklageerhebung im Rahmen der Beurteilung die Voraussetzungen von Art. 52, 53 oder 54 StGB als erfüllt erachtet, abweichend von der in diesen Bestimmungen ausdrücklich vorgesehenen Möglichkeit der Befreiung von einer Bestrafung das Verfahren einzustellen hat. Soweit in Art. 8 Abs. 1 StPO neben der Staatsanwaltschaft auch die "Gerichte" genannt werden, sind damit nicht die Gerichte gemeint, die im Hauptverfahren über die Anklage entscheiden (siehe Art. 328 ff., 351 StPO ), sondern diejenigen Gerichte, welche über Beschwerden gegen Nichtanhandnahmeverfügungen und Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft befinden. Dies ergibt sich auch aus nachstehenden Gründen.

3.4.4 Die Staatsanwaltschaft verfügt die Nichtanhandnahme unter anderem, wenn "aus den in Artikel 8 genannten Gründen auf eine Strafverfolgung zu verzichten ist" ( Art. 310 Abs. 1 lit. c StPO ). Sie verfügt die Einstellung des Verfahrens unter anderem, wenn "nach gesetzlicher Vorschrift auf Strafverfolgung oder Bestrafung verzichtet werden kann" ( Art. 319 Abs. 1 lit. e StPO ). Die Nichtanhandnahme- und die Einstellungsverfügung sind mit Beschwerde an die gerichtliche Beschwerdeinstanz anfechtbar ( Art. 322 Abs. 2, Art. 393 Abs. 1 lit. a StPO ). Art. 310 Abs. 1 lit. c und Art. 319 Abs. 1 lit. e StPO wären überflüssig, wenn sich die Kompetenz der Staatsanwaltschaft zum Erlass einer Nichtanhandnahme- beziehungsweise Einstellungsverfügung in den Anwendungsfällen von Art. 52 bis 54 StGB bereits aus Art. 8 StPO ergeben würde.

3.4.5 Wird das Verfahren von der Staatsanwaltschaft nicht eingestellt, so erhebt sie Anklage beim zuständigen Gericht, wenn sie aufgrund
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der Untersuchung die Verdachtsgründe als hinreichend erachtet und keinen Strafbefehl erlassen kann ( Art. 324 StPO ). Damit wird das Verfahren beim Gericht rechtshängig ( Art. 328 StPO ). Die Verfahrensleitung prüft gemäss Art. 329 Abs. 1 StPO , ob (a.) die Anklageschrift und die Akten ordnungsgemäss erstellt sind; (b.) die Prozessvoraussetzungen erfüllt sind; (c.) Verfahrenshindernisse bestehen. Ergibt sich aufgrund dieser Prüfung oder später im Verfahren, dass ein Urteil zurzeit nicht ergehen kann, so sistiert das Gericht das Verfahren. Falls erforderlich, weist es die Anklage zur Ergänzung oder Berichtigung an die Staatsanwaltschaft zurück ( Art. 329 Abs. 2 StPO ). Das Gericht entscheidet, ob ein sistierter Fall bei ihm hängig bleibt ( Art. 329 Abs. 3 StPO ). Kann ein Urteil definitiv nicht ergehen, so stellt das Gericht gemäss Art. 329 Abs. 4 StPO das Verfahren ein, nachdem es den Parteien und weiteren durch die Einstellung beschwerten Dritten das rechtliche Gehör gewährt hat. Art. 329 Abs. 4 StPO steht offensichtlich im Kontext mit Art. 329 Abs. 1 StPO und betrifft somit Fälle, in welchen eine Prozessvoraussetzung definitiv nicht erfüllt ist oder ein Verfahrenshindernis definitiv bestehen bleibt. Art. 329 Abs. 4 StPO bezieht sich nicht auf gesetzliche Vorschriften, wonach auf Strafverfolgung und/oder Bestrafung verzichtet werden kann oder verzichtet werden muss. In den Anwendungsfällen von Art. 52 bis 54 StGB kann ohne weiteres ein Urteil ergehen, nämlich ein Entscheid in Form eines Schuldspruchs unter Verzicht auf Strafe, und ist daher die in Art. 329 Abs. 4 StPO genannte Voraussetzung, dass ein Urteil definitiv nicht ergehen kann, nicht erfüllt. Art. 328 ff. StPO betreffend das gerichtliche Hauptverfahren enthalten keine Bestimmung, welche Art. 310 Abs. 1 lit. c StPO (bezüglich Nichtanhandnahmeverfügung der Staatsanwaltschaft) oder Art. 319 Abs. 1 lit. e StPO (hinsichtlich Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft) entspricht. Die Strafprozessordnung sieht nicht vor, dass das Gericht nach der Anklageerhebung über die in Art. 329 Abs. 4 StPO genannten Fälle hinaus das Verfahren einstellen muss.
Kann das Gericht materiell über die Anklage entscheiden, so fällt es ein Urteil über die Schuld, die Sanktionen und die weiteren Folgen ( Art. 351 Abs. 1 StPO ). Ist Anklage erhoben worden, so hat das Gericht, auch wenn es einen Anwendungsfall von Art. 52 bis 54 StGB als gegeben erachtet, im Hauptverfahren zu prüfen, ob und inwiefern der eingeklagte Sachverhalt erstellt ist und einen Straftatbestand erfüllt. Fehlt es an einem Straftatbestand, muss das Gericht die beschuldigte Person freisprechen. Ist ein Straftatbestand gegeben und
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sind auch die übrigen Voraussetzungen für einen Schuldspruch erfüllt, hat es sie schuldig zu sprechen und in Anwendung von Art. 52, 53 oder 54 StGB von einer Bestrafung abzusehen.
Dies liegt auch im Interesse der Privatklägerschaft, die im Strafverfahren adhäsionsweise Zivilansprüche geltend gemacht hat. Denn das Gericht müsste im Falle der Verfahrenseinstellung die Zivilklage nicht behandeln (siehe Art. 329 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 320 Abs. 3 StPO ). Auch die beschuldigte Person, welche den eingeklagten Sachverhalt beziehungsweise dessen Tatbestandsmässigkeit bestreitet, kann ein berechtigtes Interesse daran haben, dass das Gericht über die Anklage entscheidet, womit auch die Chance eines Freispruchs besteht.

3.4.6 Über den Anwendungsbereich von Art. 329 Abs. 4 StPO hinaus kommt nach der Anklageerhebung eine Verfahrenseinstellung durch das Gericht nur in Betracht, soweit das Gesetz eine solche vorsieht. Dies gilt beispielsweise für Art. 55a StGB (Ehegatte usw. als Opfer), wonach bei den in dieser Bestimmung aufgeführten Straftaten unter den darin genannten Voraussetzungen (Ersuchen des Opfers etc.) die Staatsanwaltschaft und die Gerichte die Einstellung des Verfahrens verfügen. Diese Regelung ergibt sich daraus, dass das Ersuchen des Opfers um Sistierung beziehungsweise die Zustimmung des Opfers zu einem entsprechenden Antrag der zuständigen Behörde als ein Prozesshindernis zu qualifizieren ist, das in jedem Stadium des Verfahrens, mithin auch im gerichtlichen Hauptverfahren nach der Anklageerhebung, zur Verfahrenseinstellung führt. Art. 55a StGB unterscheidet sich von Art. 52 bis 54 StGB, welche nicht Prozessvoraussetzungen beziehungsweise Prozesshindernisse, sondern Strafbefreiungsgründe zum Inhalt haben. Daher kann aus Art. 55a StGB nicht abgeleitet werden, dass das Gericht auch in den Anwendungsfällen von Art. 52 bis 54 StGB das Verfahren einzustellen hat.

3.4.7 Art. 8 Abs. 1 StPO bildet demnach keine Grundlage für die Einstellung des Verfahrens durch das Gericht nach der Anklageerhebung in den Anwendungsfällen von Art. 52 bis 54 StGB. Dies ergibt sich aus Art. 310 Abs. 1 lit. c, Art. 319 Abs. 1 lit. e, Art. 329 Abs. 4 und Art. 351 Abs. 1 StPO einerseits sowie aus Art. 52 bis 54 und 55a StGB andererseits.
An der in BGE 135 IV 27 begründeten Rechtsprechung ist unter dem Geltungsbereich der StPO festzuhalten.
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Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, die kantonalen Instanzen hätten, da sie die Schuld und die Tatfolgen im Sinne von Art. 52 StGB als geringfügig erachteten, das Verfahren gestützt auf Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO einstellen müssen, ist unbegründet.

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