BGE 142 III 515 vom 13. Juli 2016

Dossiernummer: 4A_100/2016

Datum: 13. Juli 2016

Artikelreferenzen:  Art. 6 ZPO, Art. 247 ZPO, Art. 248 ZPO, Art. 257 ZPO , Art. 6 Abs. 2 ZPO, Art. 243 Abs. 2 lit. c ZPO, Art. 6, 243 und 257 ZPO, Art. 257 Abs. 1 ZPO, Art. 243 ZPO, Art. 243 Abs. 3 ZPO, Art. 248 lit. b ZPO, Art. 248 lit. d ZPO, Art. 247 Abs. 2 lit. a ZPO

BGE referenzen:  138 III 471, 139 III 457, 140 III 355, 141 III 262, 142 III 402, 143 III 137, 143 III 495, 144 III 462 , 139 III 457, 141 III 262, 140 III 355, 138 III 471, 139 III 157, 142 III 402, 139 III 157, 142 III 402

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

142 III 515


64. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. AG (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_100/2016 vom 13. Juli 2016

Regeste

Art. 6, 243 und 257 ZPO ; Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Handels- und Mietgericht.
Zuständigkeit des Handelsgerichts für eine Mieterausweisung, die im Verfahren um Rechtsschutz in klaren Fällen beantragt wurde (E. 2.2).

Sachverhalt ab Seite 516

BGE 142 III 515 S. 516
Wegen ausstehender Mietzinse kündigte die B. AG (Vermieterin, Beschwerdegegnerin) den Mietvertrag mit A. (Mieterin, Beschwerdeführerin) für das von dieser betriebene Restaurant. Während die Mieterin die Kündigung gerichtlich anfocht, leitete die Vermieterin ein Verfahren um Rechtsschutz in klaren Fällen zur Ausweisung der Mieterin beim Regionalgericht Bern-Mittelland ein. Dieses trat nicht auf das Gesuch ein, da es einen klaren Fall im Sinne von Art. 257 Abs. 1 ZPO verneinte. Demgegenüber wies das von der Vermieterin angerufene Obergericht des Kantons Bern die Mieterin aus. Die von der Mieterin erhobene Beschwerde in Zivilsachen heisst das Bundesgericht gut und tritt nicht auf die Klage ein, weil das Handelsgericht sachlich zuständig gewesen wäre.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. (...)

2.2 Somit ist zu prüfen, ob das Handelsgericht sachlich zuständig ist.

2.2.1 Unbehelflich ist vorerst der Einwand der Beschwerdegegnerin, die Beschwerdeführerin habe sich auf das unzuständige Gericht eingelassen. Das Bundesgericht hat wiederholt festgestellt, dass die sachliche Zuständigkeit der Parteidisposition vorbehältlich im Gesetz ausdrücklich vorgesehener Wahlmöglichkeiten entzogen und eine Einlassung nicht zulässig ist ( BGE 140 III 355 E. 2.4 S. 365 f.; BGE 138 III 471 E. 3.1 S. 477).

2.2.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, es sei die geschäftliche Tätigkeit beider Parteien betroffen, weil die Beschwerdegegnerin das Geschäft der Immobilienverwaltung und -vermietung betreibe und die Beschwerdeführerin das Restaurant im Mietobjekt betreibe. Bezüglich der Beschwerdeführerin stelle die Mietstreitigkeit eine solche aus einer Neben- und Hilfstätigkeit dar, die aber für die Haupttätigkeit - das Betreiben des Restaurants - unentbehrlich sei, sodass die Mietstreitigkeit in den Bereich ihrer geschäftlichen Tätigkeit falle. Der Entscheid könne an das Bundesgericht weitergezogen werden und beide Parteien seien im schweizerischen Handelsregister eingetragen.
Die Beschwerdeführerin bringt zudem vor, nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sei bei Erfüllung der Voraussetzungen gemäss Art. 6 Abs. 2 ZPO im Summarexmissionsverfahren gemäss Art. 257 ZPO das Handelsgericht ausschliesslich und zwingend zuständig, sofern in einem Kanton ein Handelsgericht bestehe. Hierzu gebe es
BGE 142 III 515 S. 517
im Mietrecht eine einzige Ausnahme, nämlich Streitigkeiten des sogenannten Kernbereichs des Mietrechts (u.a. Kündigungs- und Mietzinsanfechtungen). Diese seien gemäss BGE 139 III 157 (recte: BGE 139 III 457 ) im vereinfachten Verfahren gemäss Art. 243 ZPO zu beurteilen. Diese Ausnahme komme aber vorliegend nicht zur Anwendung, da eine Ausweisung im Summarverfahren im Rahmen des Rechtsschutzes in klaren Fällen verlangt worden sei.

2.2.3 Die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 2 ZPO sind erfüllt; die geschäftliche Tätigkeit mindestens einer Partei ist betroffen (lit. a), gegen den Entscheid steht die Beschwerde an das Bundesgericht offen (lit. b) und beide Parteien sind im schweizerischen Handelsregister eingetragen (lit. c).

2.2.4 Zu prüfen bleibt, ob wegen der mietrechtlichen Natur der Klage eine Ausnahme von der handelsgerichtlichen Zuständigkeit gegeben ist. Das Bundesgericht hat kürzlich entschieden, der Begriff "Kündigungsschutz" gemäss Art. 243 Abs. 2 lit. c ZPO sei weit zu verstehen. Soweit in einem Ausweisungsverfahren das Gericht die Gültigkeit einer Kündigung zu beurteilen habe, sei auch darauf das vereinfachte Verfahren anwendbar ( BGE 142 III 402 E. 2.5, insb. E. 2.5.4). Wie die Beschwerdeführerin selber erkannt hat, ist gemäss BGE 139 III 457 E. 4 das Handelsgericht nicht zuständig für Streitigkeiten, die gemäss Art. 243 Abs. 2 lit. c ZPO im vereinfachten Verfahren zu beurteilen sind. Wäre also vorliegend die Ausweisung nicht in einem Verfahren um Rechtsschutz in klaren Fällen verlangt worden, wäre das Handelsgericht dafür nicht zuständig.
Das Bundesgericht hat in BGE 139 III 457 die Ausnahme von der handelsgerichtlichen Zuständigkeit damit begründet, dass es aufgrund der erheblichen Unterschiede zwischen den Verfahrensarten und mit Blick auf die mit der ZPO angestrebte Vereinheitlichung nicht angehe, wenn je nach sachlicher Zuständigkeit ein anderes Verfahren zur Anwendung gelange (E. 4.4.3.3). Für Streitigkeiten vor dem Handelsgericht komme gemäss dem klaren Wortlaut von Art. 243 Abs. 3 ZPO das vereinfachte Verfahren nicht zur Anwendung und es sei gewichtiger, die für Mietstreitigkeiten gemäss Art. 243 Abs. 2 lit. c ZPO vorgesehene soziale Untersuchungsmaxime in allen diesen Fällen anzuwenden, weshalb die Regelung der Verfahrensart jener über die sachliche Zuständigkeit vorgehe (E. 4 und 5). Beim Verfahren um Rechtsschutz in klaren Fällen handelt es sich um ein summarisches Verfahren ( Art. 248 lit. b ZPO ), das - anders als das vereinfachte Verfahren - auch vor dem Handelsgericht zulässig ist (Urteil
BGE 142 III 515 S. 518
4A_184/2015 vom 11. August 2015 E. 1, nicht publ. in: BGE 141 III 262 ; vgl. auch Art. 6 Abs. 5 i.V.m. Art. 248 lit. d ZPO betr. vorsorgliche Massnahmen). Es besteht daher vorliegend kein Konflikt zwischen Verfahrensart und sachlicher Zuständigkeit, sodass bereits aus diesem Grund die Rechtsprechung gemäss BGE 139 III 457 nicht greift. Wenn, wie hier, die Kündigung angefochten und daher deren Gültigkeit im Ausweisungsverfahren als Vorfrage zu beurteilen ist, beziehen sich die Voraussetzungen von Art. 257 Abs. 1 ZPO auch darauf; sind sie nicht erfüllt, ist auf das Gesuch nicht einzutreten ( BGE 141 III 262 E. 3.2 S. 265). Damit das vom Gesetzgeber mit Art. 243 Abs. 2 lit. c i.V.m. Art. 247 Abs. 2 lit. a ZPO für den mietrechtlichen Kündigungsschutz verfolgte Ziel nicht über den Rechtsschutz in klaren Fällen unterlaufen werden kann, ist dieser nur zu gewähren, wenn keine Zweifel an der Vollständigkeit der Sachverhaltsdarstellung bestehen und die Kündigung gestützt darauf als klar berechtigt erscheint (Urteil 4A_184/2015 vom 11. August 2015 E. 4.2.2 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 141 III 262 ). Dass die Zuständigkeiten für die gleiche Materie aufgeteilt sind und die Mieterausweisung (inkl. der vorfrageweisen Beurteilung der Gültigkeit einer Kündigung) bei Verfahren des Rechtsschutzes in klaren Fällen bei gegebenen Voraussetzungen gemäss Art. 6 Abs. 2 ZPO vom Handelsgericht, in allen übrigen Fällen von den Mietgerichten bzw. den ordentlichen Gerichten beurteilt werden, erlaubt nicht, vom geltenden Recht abzuweichen. (...)

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