Federal court decision 144 III 346 from July 11, 2018

Case number: 4A_565/2017

Date: July 11, 2018

Related articles:  Art. 91 ZPO, Art. 257 ZPO, Art. 271a OR, Art. 74 BGG , Art. 271a Abs. 1 lit. e OR, Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG, Art. 243 Abs. 2 lit. c ZPO

Related court decisions:  136 III 196, 137 III 389, 138 III 620, 141 III 262, 142 III 690, 146 III 63 , 137 III 389, 136 III 196, 141 III 262, 138 III 620, 142 III 690, 142 III 690

Source: bger.ch

Urteilskopf

144 III 346


40. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. AG (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_565/2017 vom 11. Juli 2018

Regeste

Streitwertberechnung in Ausweisungsklagen bei Rechtsschutz in klaren Fällen.
Regeln für die Streitwertberechnung (E. 1.2).

Erwägungen ab Seite 346

BGE 144 III 346 S. 346
Aus den Erwägungen:

1. (...)

1.2 Der erforderliche Streitwert beträgt Fr. 30'000.- ( Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG ; BGE 136 III 196 E. 1.1). Die Vorinstanz führte unter Hinweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung (Urteil 4D_79/2015 vom 22. Januar 2016 E. 1 mit zahlreichen Verweisen) aus, im Verfahren nach Art. 257 ZPO (Rechtsschutz in klaren Fällen) sei als Streitwert der durch die Verzögerung mutmasslich entstehende Schaden zu betrachten, der im hypothetisch anfallenden bzw. entgangenen Miet- (bzw. Pacht-) oder Gebrauchswert für die Zeit besteht, bis voraussichtlich ein Ausweisungsentscheid in einem Prozess im ordentlichen Verfahren ergehen könnte. Praxisgemäss sei von einer Dauer von sechs Monaten auszugehen, was beim vorliegenden Pachtzins von jährlich Fr. 20'000.- einen Streitwert von Fr. 10'000.- ergebe.
Die Beschwerdeführerin hält dem im Wesentlichen entgegen, es sei absolut praxisfern, für ein ordentliches Verfahren von einer Verfahrensdauer
BGE 144 III 346 S. 347
von sechs Monaten auszugehen. Vielmehr sei hierfür (inkl. Rechtsmittelverfahren) mit mindestens drei Jahren zu rechnen.
Diese Ausführungen lassen es als angezeigt erscheinen, die Grundsätze zur Streitwertberechnung bei Ausweisungsklagen im Verfahren nach Art. 257 ZPO zu präzisieren und im Sinne der Rechtssicherheit für die häufig zu beurteilenden Fälle einer Ausweisung im Zusammenhang mit der Beendigung eines Mietverhältnisses einheitliche Regeln aufzustellen: Dabei ist danach zu unterscheiden, ob nur die Ausweisung als solche oder ob vorfrageweise (vgl. dazu BGE 141 III 262 E. 3.2 S. 265 und Urteil 4A_440/2016 vom 24. Oktober 2016 E. 5.2.2) auch die Kündigung streitig ist.

1.2.1 Geht es nur um die Frage der Ausweisung, besteht das wirtschaftliche Interesse der Parteien im Mietwert, der durch die Verzögerung infolge des Summarverfahrens selber entsteht (Urteile 4A_72/2007 vom 22. August 2007 E. 2.2; 4A_107/2007 vom 22. Juni 2007 E. 2.3). Diesbezüglich ist unabhängig von allfälligen kantonalen Unterschieden in der tatsächlichen Bewältigung solcher Summarverfahren von einer Dauer von sechs Monaten auszugehen (vgl. auch PETER DIGGELMANN, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Brunner und andere [Hrsg.], Bd. I, 2. Aufl. 2016 , N. 46 zu Art. 91 ZPO in fine).

1.2.2 Ist dagegen die Kündigung ebenfalls strittig, ist diese selber Streitgegenstand. Diesbezüglich wird in der Praxis des Bundesgerichts zum Streitwert auf zwei unterschiedliche Gesichtspunkte verwiesen.

1.2.2.1 Entsprechend der Praxis zum Streitwert in Fällen, wo es nur um die Ausweisung geht (E. 1.2.1 hiervor), wird auf die voraussichtliche bzw. mögliche Dauer des Verfahrens abgestellt, wobei in dem von der Vorinstanz zitierten Urteil (4D_79/2015 vom 22. Januar 2016 E. 1) und anderen früheren Urteilen (Urteile 4A_152/2015 vom 8. Juni 2015 E. 1.2; 4A_449/2014 vom 19. November 2014 E. 2.1; 4A_273/2012 vom 30. Oktober 2012 E. 1.2.2, nicht publ. in: BGE 138 III 620 ) auf die Dauer des ordentlichen Verfahrens verwiesen wurde, in welchem über die Gültigkeit der Kündigung und damit die Ausweisung entschieden werden müsste, wenn der Ausweisung im Verfahren gemäss Art. 257 ZPO nicht stattgegeben würde.
Aufgrund der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung fallen nun alle Streitigkeiten, in denen die angerufene Behörde über die Beendigung des Mietverhältnisses befinden muss - also auch
BGE 144 III 346 S. 348
mietrechtliche Ausweisungsklagen, die nicht im summarischen Verfahren gemäss Art. 257 ZPO ausgetragen werden können - unter den Begriff "Kündigungsschutz" gemäss Art. 243 Abs. 2 lit. c ZPO ( BGE 142 III 690 E. 3 S. 692 ff.) und damit in den Anwendungsbereich des vereinfachten Verfahrens (Urteil 4A_300/2016 vom 5. Oktober 2016 E. 2). Bei gleichzeitig streitiger Kündigung wäre es aufgrund dieser Rechtsprechung also sachgerecht, auf die voraussichtliche Dauer eines summarischen Verfahrens nach Art. 257 ZPO und eines anschliessenden vereinfachten Verfahrens abzustellen. Die Lösung berücksichtigt aber nicht, dass der Entscheid bei Gutheissung der Klage dieselben Wirkungen zeitigt wie ein im gewöhnlichen oder vereinfachten Verfahren ergangener.

1.2.2.2 In anderen Entscheiden wurde denn auch - wenn es sich um die Miete von Wohn- und Geschäftsräumen handelte - auf die dreijährige Kündigungssperrfrist gemäss Art. 271a Abs. 1 lit. e OR verwiesen und diese Dauer bei der Berechnung des Streitwerts berücksichtigt (Urteile 4A_100/2018 vom 5. März 2018 E. 3; 4A_541/2015 vom 20. Mai 2016 E. 1; 4A_622/2013 vom 26. Mai 2014 E. 2, je mit Hinweis u.a. auf BGE 137 III 389 E. 1.1). Gemäss BGE 137 III 389 ergibt sich dieser Streitwert, weil während dieser Sperrfrist nicht gekündigt werden darf, nachdem eine vom Mieter angefochtene Kündigung im ordentlichen (bzw. jetzt: vereinfachten) Verfahren als ungültig erklärt wurde.
Durch einen Entscheid im Verfahren nach Art. 257 ZPO wird keine solche Sperrfrist ausgelöst. Wird klares Recht bejaht und der Mieter ausgewiesen, bleibt es bei diesem rechtskräftigen Entscheid. Wird dagegen klares Recht verneint und kommt es zu einem Nichteintretensentscheid, begründet ein solcher keine Kündigungssperrfrist (vgl. Urteil 4A_588/2013 vom 15. April 2014 E. 2.6, wo das Bundesgericht einen vorinstanzlichen Entscheid schützte, wonach ein Nichteintretensentscheid nach Art. 257 ZPO nicht geeignet ist, eine Kündigungssperrfrist nach Art. 271a Abs. 1 lit. e OR auszulösen. Zustimmend: SUTTER-SOMM/LÖTSCHER, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm und andere[Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N. 38 zu Art. 257 ZPO ;ROGER WEBER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 6. Aufl. 2015, N. 25 zu Art. 271/271a OR). Bei der zitierten Rechtsprechung geht es denn auch nicht darum, dass das Summarverfahren selber nach Art. 257 ZPO eine Kündigungssperrfrist auslösen soll. Vielmehr wird damit berücksichtigt, dass die Gültigkeit der Kündigung und damit die
BGE 144 III 346 S. 349
Ausweisung bei Nichteintreten auf das Gesuch im Summarverfahren allenfalls im ordentlichen (bzw. vereinfachten) Verfahren erstritten werden muss und dieser Entscheid dann die Sperrfrist auslösen kann.

1.2.2.3 Gemäss dem Grundgedanken für die Streitwertberechnung, nämlich welches die mutmassliche Dauer der weiteren Nutzung des Mietobjekts ist, wenn die Kündigung sich allenfalls als ungültig erweisen sollte, muss deshalb die mögliche Sperrfrist bis zur nächsten möglichen Kündigungsgelegenheit (E. 1.2.2.2) berücksichtigt werden, nicht aber auch die voraussichtliche Verfahrensdauer (vgl. auch Zürcher Mietrechtspraxis [ZMP] 2017 Nr. 11, www.gerichte-zh.ch/entscheide/zmp/jahrgang-2017.html , zuletzt besucht am 11. Juli 2018; kritisch: MATTHIAS TSCHUDI, Entwicklungen im Mietrecht, SJZ 114/2018 S. 324), die nicht zuverlässig abgeschätzt werden kann (vgl. BGE 137 III 389 E. 1.1 S. 391). Ist die Beendigung des Mietverhältnisses ebenfalls Streitgegenstand und würde deren Unzulässigkeit die Schutzfrist auslösen, entspricht der Streitwert mithin in der Regel dem Mietwert für drei Jahre.

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