Urteilskopf
145 III 436
51. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_977/2018 vom 22. August 2019
Regeste a
Art. 99 Abs. 1 und 2 BGG
; Feststellung der Nichtigkeit.
Die Nichtigkeit eines Urteils kann im bundesgerichtlichen Verfahren neu geltend gemacht werden (E. 3).
Regeste b
Art. 298b Abs. 3 und
Art. 298d Abs. 3 ZGB
;
Art. 304 Abs. 2 ZPO
; Kompetenzattraktion für Kinderbelange.
Sobald das Gericht mit der Unterhaltsfrage befasst ist, entscheidet es auch über die anderen Kindesbelange und die KESB verliert ihre diesbezügliche Entscheidbefugnis. Urteilt sie dennoch über die anderen Kindesbelange, ist ihr Entscheid aber nicht per se nichtig (E. 4).
A.
C. (geb. 2013) ist die Tochter der getrennt lebenden Eltern A. und B., unter deren gemeinsamer Sorge sowie alternierender Obhut sie steht (bis anhin Ausübung der Obhut zu 1/3 und an einem Wochenende durch die Mutter sowie zu 2/3 und an drei Wochenenden durch den Vater). Im Jahr 2015 wurde eine Beistandschaft gemäss
Art. 308 Abs. 1 und 2 ZGB
errichtet. Auch sonst musste die KESB mehrmals autoritativ Regelungen treffen.
B.
Am 27. Oktober 2017 beantragte die Mutter die Neubeurteilung der Betreuungssituation. Nach Anhörung der Eltern und Eingang diverser Berichte regelte die KESB Biel mit Entscheid vom 15. Juni 2018 die Betreuungsanteile der Eltern neu und erteilte ihnen Weisungen.
Die hiergegen erhobene Beschwerde des Vaters wies das Obergericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 23. Oktober 2018 ab.
C.
Gegen diesen Entscheid hat der Vater am 27. November 2018 beim Bundesgericht eine Beschwerde erhoben mit den Begehren um Feststellung der Nichtigkeit der beiden vorinstanzlichen Entscheide mangels sachlicher Zuständigkeit. Es wurden keine Vernehmlassungen, aber die kantonalen Akten eingeholt.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung)
BGE 145 III 436 S. 438
Aus den Erwägungen:
3.
Der Beschwerdeführer stellt ein neues Rechtsbegehren und trägt einen vollständig neuen Sachverhalt vor. Im obergerichtlichen Entscheid wird die während des KESB-Verfahrens vom Kind beim Regionalgericht eingereichte Unterhaltsklage mit keinem Wort erwähnt. Offensichtlich hatten die Parteien weder die KESB noch das Obergericht darauf hingewiesen, sondern wurde ihnen bzw. dem Beschwerdeführer die Zuständigkeitsproblematik erst aufgrund eines entsprechenden vorfrageweisen Hinweises des Regionalgerichtes an der Hauptverhandlung im Unterhaltsverfahren bewusst.
Grundsätzlich sind im bundesgerichtlichen Verfahren weder neue Begehren (
Art. 99 Abs. 2 BGG
) noch neue tatsächliche Vorbringen zulässig (
Art. 99 Abs. 1 BGG
). Eine Ausnahme gilt jedoch, wenn die Feststellung der Nichtigkeit verlangt wird (Urteil 2C_227/2015 vom 31. Mai 2016 E. 1.3; DORMANN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2018, N. 32 und 58a zu
Art. 99 BGG
); sie kann im Rechtsmittelverfahren geltend gemacht werden (
BGE 137 I 273
E. 3.1 S. 275;
BGE 137 III 217
E. 2.4.3 S. 225; Urteile 5A_758/2018 vom 18. April 2019 E. 1.3; 4A_415/2018 vom 7. Dezember 2018 E. 3.2; 5A_393/2018 vom 21. August 2018 E. 2.1; 4A_364/2017 vom 28. Februar 2018 E. 7.2.2). Vorliegend ist die Beschwerdeführung rechtzeitig und zulässig erfolgt; ausserhalb einer hängigen und zulässigen Beschwerde könnte die Nichtigkeit allerdings nicht geltend gemacht werden, weil dem Bundesgericht keine Oberaufsichtsfunktion über die KESB zukommt (Urteil 5A_393/2018 vom 21. August 2018 E. 2.1 betreffend Frage der KESB-Zuständigkeit bei hängigem Scheidungsverfahren; für weitere Konstellationen vgl.
BGE 135 III 46
E. 4.2 S. 48; Urteile 5D_159/2018 vom 13. November 2018 E. 5.1; 5A_580/2009 vom 2. Dezember 2009 E. 2.2).
4.
Fehlerhafte Entscheide sind nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung in der Regel nur anfechtbar. Als nichtig erweisen sie sich erst dann, wenn der ihnen anhaftende Mangel besonders schwer ist, wenn er sich als offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar erweist und die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Inhaltliche Mängel einer Entscheidung führen nur ausnahmsweise zur Nichtigkeit. Als Nichtigkeitsgründe fallen vorab funktionelle und sachliche Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde sowie krasse Verfahrensfehler in Betracht (
BGE 144 IV 362
E. 1.4.3 S. 368;
BGE 139 II 243
E. 11.2 S. 260;
BGE 138 II 501
E. 3.1 S. 503;
BGE 137 I 273
E. 3.1 S. 275).
BGE 145 III 436 S. 439
Die KESB ist grundsätzlich und insbesondere bei nicht verheirateten Eltern die zur Regelung von Kinderbelangen bzw. Kindesschutzmassnahmen zuständige Behörde (vgl.
Art. 315 ZGB
), soweit nicht bereits ein Gericht mit den entsprechenden Fragen befasst ist, namentlich im Rahmen eines Eheschutz- oder Scheidungsverfahrens (vgl. Art. 133, Art. 176 Abs. 3, Art. 298 und Art. 315a f. ZGB; Botschaft vom 16. November 2011 zu einer Änderung des ZGB [Elterliche Sorge], BBl 2011 9094; Urteil 5A_393/2018 vom 21. August 2018 E. 2.2.2). Von der generellen aussergerichtlichen Regelungszuständigkeit ausgenommen ist jedoch der Kindesunterhalt: Die KESB kann zwar elterliche Unterhaltsvereinbarungen genehmigen (
Art. 134 Abs. 3 und
Art. 287 Abs. 1 ZGB
), darf aber in diesem Bereich nicht autoritativ entscheiden.
In der ursprünglichen Fassung von
Art. 298b Abs. 3 und
Art. 298d Abs. 3 ZGB
wurde die Klage auf Leistung des Unterhalts vorbehalten, jedoch keine Koordinationsregel in Bezug auf die weiteren Kinderbelange aufgestellt (vgl. AS 2014 360). In der Folge war unklar, ob das mit dem Unterhalt befasste Gericht über diese, namentlich über die für die Unterhaltsfestsetzung ausschlaggebende Obhuts- und Betreuungsfragen selbst zu urteilen oder ob es das Unterhaltsverfahren zu sistieren und das Ergebnis des KESB-Verfahrens über die Obhutszuteilung abzuwarten habe (zur betreffenden seinerzeitigen Kontroverse in der Lehre vgl. AFFOLTER-FRINGELI/VOGEL, Berner Kommentar, 2016, N. 38 zu
Art. 298b ZGB
).
Im Rahmen der Revision des Kindesunterhaltes hat der Gesetzgeber durch eine Ergänzung von
Art. 298b Abs. 3 und
Art. 298d Abs. 3 ZGB
sowie durch den neu geschaffenen
Art. 304 Abs. 2 ZPO
mit einer Koordinationsregel Klarheit geschaffen (AB 2014 N 1219 und AB 2014 S 1126). Die auf den 1. Januar 2017 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen gehen dahin, dass das mit der Unterhaltsfrage befasste Gericht im Sinn einer Kompetenzattraktion auch über die Zuteilungsfragen und die weiteren Kinderbelange entscheidet (vgl. AS 2015 4302 f. und 4307; AFFOLTER-FRINGELI/VOGEL, a.a.O., N. 25 und 38 f. zu
Art. 298b ZGB
sowie N. 27 zu
Art. 298d ZGB
; MEIER/STETTLER, Droit de la filiation, 6. Aufl. 2019, Rz. 770). Nur am Rand, weil vorliegend nicht weiter interessierend, sei erwähnt, dass im KESB-Verfahren die Eltern die Verfahrensparteien sind, während die Unterhaltsklage vom Kind gegen den einen Elternteil eingeleitet wird. Demzufolge werden im Kind-Eltern-Verfahren Themen der Elternebene attrahiert, was den förmlichen Einbezug des anderen Elternteils
BGE 145 III 436 S. 440
(welcher in vielen Fällen das Kind im Unterhaltsprozess vertreten wird) in das Verfahren verlangt. Dies scheint vom Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen worden zu sein.
Aus dem Gesagten erhellt, dass die KESB zwar die Entscheidkompetenz namentlich über die Obhut und die Betreuungsanteile an das Gericht abzugeben hat, sobald dieses mit der Unterhaltsfrage befasst ist. Dennoch lässt sich nicht sagen, dass ein in Verletzung der richterlichen Kompetenzattraktion ergangener KESB-Entscheid über die Obhut und/oder die Betreuungsanteile nichtig wäre, entscheidet doch die KESB hier im Bereich ihrer genuinen Kernzuständigkeit (vgl. zur Rechtsprechung, wonach keine Nichtigkeit vorliegt, wenn eine Behörde auf dem Gebiet ihrer allgemeinen Entscheidungsgewalt tätig wird:
BGE 137 III 217
E. 2.4.3 S. 225;
BGE 129 V 485
E. 2.3 S. 488;
BGE 127 II 32
E. 3g S. 47 f.; Urteile 5A_393/2018 vom 21. August 2018 E. 2.2.1; 1C_447/2016 vom 31. August 2017 E. 3.2; 5A_737/2014 vom 26. Mai 2015 E. 3.1). Zudem wird ihre Entscheidkompetenz in hängigen Verfahren lediglich im Zusammenhang mit Unterhaltsklagen und damit bloss ausnahmsweise derogiert; Grundsatz ist, dass die KESB jene Verfahren, die bei ihr im Zeitpunkt der Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens anhängig sind, zu Ende führt (vgl.
Art. 315a Abs. 3 Ziff. 1 ZGB
). Dass vor diesem Hintergrund der zufolge richterlicher Kompetenzattraktion nachträglich eingetretene Zuständigkeitsverlust jedenfalls nicht "offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar" im Sinn der vorstehend zitierten Rechtsprechung war, zeigt sich gerade im Umstand, dass sie bis über das abgeschlossene kantonale Rechtsmittelverfahren hinaus keiner der anwaltlich vertretenen Parteien auffiel. Auch dieser Umstand, d.h. dass sie sich vorbehaltlos auf das Verfahren eingelassen und dieses auch nach Hängigkeit der Unterhaltsklage vorbehaltlos weitergeführt haben, ist bei der Frage der Nichtigkeit zu berücksichtigen (
BGE 136 II 489
E. 3.3 S. 496).