BGE 146 IV 358 vom 25. September 2020

Dossiernummer: 6B_1452/2019

Datum: 25. September 2020

Artikelreferenzen:  Art. 12 StGB, Art. 31 SVG, Art. 51 SVG , Art. 92 Abs. 2 SVG, Art. 92 SVG, Art. 51 Abs. 2 SVG, Art. 92 Abs. 1 SVG, Art. 100 Ziff. 1 SVG, Art. 12 Abs. 3 StGB, Art. 31 Abs. 1 SVG, Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11)

BGE referenzen:  93 IV 43, 131 IV 36 , 93 IV 43, 131 IV 36

Quelle: bger.ch

Urteilskopf

146 IV 358


38. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden (Beschwerde in Strafsachen)
6B_1452/2019 vom 25. September 2020

Regeste

Art. 92 Abs. 2 SVG ; Fahrlässige Führerflucht.
Führerflucht gemäss Art. 92 Abs. 2 SVG kann auch fahrlässig begangen werden (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 3).

Sachverhalt ab Seite 358

BGE 146 IV 358 S. 358

A. Am 29. Juli 2017 kam es zwischen A. und B. zu einem Verkehrsunfall. A. setzte mit seinem Auto auf der Geraden bei der Örtlichkeit U. zum Überholen des vor ihm fahrenden Motorrads von B. und eines Personenwagens mit Wohnanhänger an. Kurz bevor sich A. auf der Höhe von B. befand, setzte B. ebenfalls zu einem Überholmanöver an und es kam zu einer seitlichen Kollision. A. setzte die Fahrt fort, ohne für Hilfe zu sorgen oder die Polizei zu benachrichtigen. B. zog sich einen Schlüsselbeinbruch und seine Beifahrerin eine Ellbogenfraktur zu.

B. Die Staatsanwaltschaft Graubünden sprach A. mit Strafbefehl vom 30. Juli 2018 der Führerflucht gemäss Art. 51 Abs. 2 SVG in Verbindung mit Art. 92 Abs. 2 SVG schuldig und bestrafte ihn mit einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je Fr. 230.- unter Ansetzung einer Probezeit von zwei Jahren und einer Busse von Fr. 900.-.

C. Das Regionalgericht Albula sprach A. am 25. April 2019 der fahrlässigen Führerflucht im Sinne von Art. 51 Abs. 2 SVG in
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Verbindung mit Art. 92 Abs. 2 SVG schuldig und bestrafte ihn mit einer bedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je Fr. 230.- unter Ansetzung einer Probezeit von zwei Jahren und einer Busse von Fr. 450.-.

D. Mit Urteil vom 20. November 2019 sprach das Kantonsgericht Graubünden A. der fahrlässigen Führerflucht im Sinne von Art. 51 Abs. 2 SVG in Verbindung mit Art. 92 Abs. 2 SVG schuldig und bestrafte ihn mit einer bedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je Fr. 230.- unter Ansetzung einer Probezeit von zwei Jahren.

E. A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das Urteil des Kantonsgerichts sei aufzuheben und er sei vollumfänglich freizusprechen. Eventualiter beantragt er, er sei wegen Art. 92 Abs. 1 SVG in Verbindung mit Art. 51 SVG zu verurteilen und mit einer Busse von Fr. 450.- zu bestrafen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 51 Abs. 2 SVG und Art. 92 Abs. 2 SVG . Er macht geltend, der Tatbestand der Führerflucht könne nicht fahrlässig begangen werden. Es ergebe sich aus dem Wortlaut sowie dem Sinn und Zweck der Norm, dass ausschliesslich die vorsätzliche Führerflucht von Art. 92 Abs. 2 SVG erfasst werde. Mit Verweis auf die kantonale Rechtsprechung (Urteil des Obergerichts des Kantons Bern Nr. 348/I/2003 vom 15. Januar 2004) macht er geltend, die in Art. 92 Abs. 2 SVG verwendeten Begriffe "Ergreift" und "Flucht" wiesen auf einen bewussten Entschluss des Fahrzeugführers hin, sich vom Unfallort zu entfernen. Mit Bezug auf die Botschaft vom 24. Juni 1955 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über den Strassenverkehr (BBl 1955 II 63) bringt er vor, der Gesetzgeber habe mit der hohen Strafandrohung der verwerflichen Gesinnung desjenigen, der sich der Strafe und den übrigen Folgen des Unfalls entziehen wolle, begegnen wollen. Da man sich nicht fahrlässig einer Strafe und den übrigen Folgen entziehen wollen könne, sei eine fahrlässige Begehung nicht möglich.

3.2 Gemäss Art. 92 SVG (Pflichtwidriges Verhalten bei Unfall) wird mit Busse bestraft, wer bei einem Unfall die Pflichten verletzt, die ihm dieses Gesetz auferlegt (Abs. 1). Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer als Fahrzeugführer bei
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einem Verkehrsunfall einen Menschen getötet oder verletzt hat und die Flucht ergreift (Abs. 2). Die Flucht setzt immer voraus, dass das Entfernen vom Unfallort pflichtwidrig im Sinne von Art. 51 SVG ist (Urteil 6B_575/2018 vom 22. November 2018 E. 2.5 mit Hinweis). Art. 51 Abs. 2 SVG schreibt das folgende Verhalten bei Unfällen vor: Sind Personen verletzt, so haben alle Beteiligten für Hilfe zu sorgen, Unbeteiligte, soweit es ihnen zumutbar ist. Die Beteiligten, in erster Linie die Fahrzeugführer, haben die Polizei zu benachrichtigen. Alle Beteiligten, namentlich auch Mitfahrende, haben bei der Feststellung des Tatbestandes mitzuwirken. Ohne Zustimmung der Polizei dürfen sie die Unfallstelle nur verlassen, soweit sie selbst Hilfe benötigen, oder um Hilfe oder die Polizei herbeizurufen.
Nach Art. 100 Ziff. 1 SVG gilt, dass neben der vorsätzlichen stets auch die fahrlässige Handlung strafbar ist, sofern es das SVG nicht ausdrücklich anders bestimmt. Fahrlässig handelt, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist ( Art. 12 Abs. 3 StGB ).

3.3

3.3.1 Das Bundesgericht hat bereits in BGE 93 IV 43 E. 2 unter Berücksichtigung des Wortlauts sowie Sinn und Zweck von Art. 92 Abs. 2 SVG festgehalten, dass Führerflucht auch fahrlässig begangen werden kann. Es verwies insbesondere auf die fehlende Einschränkung auf eine vorsätzliche Begehung in Verbindung mit Art. 100 Ziff. 1 SVG und verfolgte einen rechtsvergleichenden Ansatz ( BGE 93 IV 43 E. 2c S. 45 f.). Betreffend Sinn und Zweck von Art. 92 Abs. 2 SVG wies das Bundesgericht darauf hin, dass die Bestimmung die Opfer eines Verkehrsunfalls vor gesundheitlicher und wirtschaftlicher Gefährdung bewahren und die Aufklärung der Unfallursachen ermöglichen wolle ( BGE 93 IV 43 E. 2d S. 46). Der Zweck der Norm könne mit der Ahndung der bloss vorsätzlichen Führerflucht nicht erreicht werden, da die beschuldigte Person häufig mit Erfolg geltend machen könne, sie habe weder um die Verletzung oder Tötung des Menschen gewusst noch habe sich ihr diese Möglichkeit zwingend aufgedrängt ( BGE 93 IV 43 E. 2d S. 46).
In BGE 131 IV 36 E. 2.1 S. 38 hat das Bundesgericht festgehalten, dass die Verletzung der Verhaltenspflichten nach Art. 51 SVG nach einem Unfall sowohl bei Vorsatz wie auch bei Fahrlässigkeit den
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Tatbestand des pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall im Sinne von Art. 92 SVG erfüllt. Diese Aussage hat es nicht auf Art. 92 Abs. 1 SVG beschränkt. Ferner hat das Bundesgericht ausgeführt, dass sich die Frage, ob der Täter die Führerflucht vorsätzlich oder fahrlässig beging, lediglich auf die Strafhöhe auswirke (Urteil 6B_575/2018 vom 22. November 2018 E. 2.7).

3.3.2 Die Auffassung, dass Art. 92 Abs. 2 SVG auch bei fahrlässiger Begehung anwendbar ist, wird auch von der herrschenden Lehre vertreten (LEA UNSELD, in: Basler Kommentar, Strassenverkehrsgesetz, 2014, N. 49 zu Art. 92 SVG ; PHILIPPE WEISSENBERGER, Kommentar Strassenverkehrsgesetz und Ordnungsbussengesetz, 2. Aufl. 2015, N. 27 zu Art. 51 SVG ; YVAN JEANNERET, Les dispositions pénales de la Loi sur la circulation routière [LCR], 2007, N. 215 zu Art. 92 SVG ; HANS GIGER, SVG, Kommentar, Strassenverkehrsgesetz mit weiteren Erlassen, 8. Aufl. 2014, N. 8 zu Art. 92 SVG ).

3.3.3 Im Vergleich zum Grundtatbestand der einfachen Pflichtverletzung gemäss Art. 92 Abs. 1 SVG sieht der qualifizierte Tatbestand der Führerflucht gemäss Art. 92 Abs. 2 SVG eine höhere Strafandrohung vor. Der qualifizierte Straftatbestand setzt die Verletzung oder Tötung eines Menschen voraus. Angesichts der Gefährdung von Leib und Leben sowie der allfälligen Vereitelung der Unfallaufklärung wiegt das pflichtwidrige Verhalten nach Art. 92 Abs. 2 SVG massgebend schwerer. Mit der höheren Strafandrohung wird diesem Umstand Rechnung getragen, wie sich auch der Botschaft entnehmen lässt (vgl. BBl 1955 II 1 ff., 63). Der Schlussfolgerung des Beschwerdeführers, aus dem in der Botschaft verwendeten Ausdruck der verwerflichen Gesinnung ergebe sich, dass die Führerflucht nicht fahrlässig begangen werden könne, ist nicht zu folgen.

3.3.4 Während der Fahrzeugführer in BGE 93 IV 43 in pflichtwidriger Weise keine Kenntnis vom Personenschaden genommen hat, geht es vorliegend um die Kenntnisnahme des Verkehrsunfalls. Gemäss Art. 31 Abs. 1 SVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11) muss der Fahrzeugführer seine Aufmerksamkeit der Strasse und dem Verkehr zuwenden. Fahrlässig handelt in der Regel, wer nicht bemerkt, dass er möglicherweise einen Fussgänger oder ein anderes Fahrzeug angefahren hat und weiterfährt (Nichterkennen des Unfalls), da eine Kollision bei auf das Verkehrsgeschehen gerichteter Aufmerksamkeit grundsätzlich erkennbar ist (LEA UNSELD, a.a.O., N. 31 zu Art. 92 SVG ; YVAN JEANNERET, a.a.O., N. 134
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zu Art. 92 SVG ). Der Fahrzeugführer macht sich der fahrlässigen Führerflucht schuldig, wenn er aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit den Verkehrsunfall oder den Personenschaden nicht bemerkt. Auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach Führerflucht gemäss Art. 92 Abs. 2 SVG auch fahrlässig begangen werden kann, ist nicht zurückzukommen.

3.4 Die Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach die Verhaltenspflichten bei Unfall erst entstehen können, wenn die beschuldigte Person den Unfall tatsächlich wahrgenommen hat, beruhen auf der Annahme, dass die Führerflucht nicht fahrlässig begangen werden kann. Darauf ist nach den vorangehenden Erwägungen nicht weiter einzugehen.

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