Urteilskopf
147 II 49
6. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Migrationsamt des Kantons Zürich und Bezirksgericht Zürich, Zwangsmassnahmengericht (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_408/2020 vom 21. Juli 2020
Regeste
Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK
;
Art. 78 Abs. 6 lit. a AIG
;
Art. 99 Abs. 1 und
Art. 105 Abs. 1 BGG
; Zulässigkeit der Durchsetzungshaft; Unmöglichkeit der freiwilligen Ausreise wegen coronabedingter Reisebeschränkungen (Mali).
An der Beurteilung der EMRK-Konformität einer ausländerrechtlichen Administrativhaft besteht ein aktuelles Interesse, auch wenn inzwischen ein neuer Haftverlängerungsentscheid ergangen ist (E. 1).
Haben sich die Umstände seit dem angefochtenen Entscheid derart verändert, dass der Haftrichter auf ein Haftentlassungsgesuch ausserhalb der Sperrfristen eintreten müsste, kann das Bundesgericht trotz des Novenverbots neue Entwicklungen zu Gunsten des Inhaftierten in seinem Verfahren berücksichtigen (E. 3.3).
Scheitert die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise der sich in Durchsetzungshaft befindlichen ausländischen Person nicht (allein) an ihrem Verhalten, sondern an einem objektiven, in seiner Dauer zeitlich (noch) nicht absehbaren technischen Hindernis, verletzt eine Fortsetzung der Durchsetzungshaft das Übermassverbot. Weil coronabedingt keine Flüge stattfinden, beziehungsweise Ein- oder Ausreisesperren bestehen, kann der Betroffene weder freiwillig nach Mali reisen, noch können die Behörden ihn zwangsweise dorthin verbringen. Die Haftprüfung kann in diesem Fall nicht in dem Sinn "zweistufig" erfolgen, dass die ausländische Person erst mit den Behörden zusammenarbeiten muss, bevor geprüft wird, ob eine freiwillige Ausreise überhaupt möglich ist (E. 4 und 5).
A.
A. (geb. 1981) stammt nach eigenen Angaben aus Mali. Das Bundesamt für Flüchtlinge trat am 1. Februar 2002 auf sein Asylgesuch nicht ein und wies ihn weg. Vom 22. November 2001 bis 4. Februar 2002 befand sich A. in Vorbereitungshaft (2 ½ Monate); vom 5. Februar 2002 bis 5. Mai 2002 sowie vom 20. September 2003 bis 21. April 2004 wurde er in Ausschaffungshaft (10 Monate) gehalten. Ab dem 7. Juni 2004 war A. unbekannten Aufenthalts. Nach eigenen Angaben will er sich von 2007 bis 2017 hauptsächlich im französischen Annemasse in der Nähe von Genf aufgehalten haben. Er soll aber auch in Paris, Hannover und Berlin gewesen sein. A. wurde wegen mehrfachen Betäubungsmitteldelikten, wegen Hausfriedensbruchs und wegen geringfügigen Diebstahls strafrechtlich belangt.
B.
Das Migrationsamt des Kantons Zürich wies A. am 19. September 2019 weg und nahm ihn erneut in Ausschaffungshaft, welche das Zwangsmassnahmengericht des Bezirksgerichts Zürich (nachfolgend: Zwangsmassnahmengericht) am 20. September 2019 prüfte und bis zum 19. Dezember 2019 bestätigte; in der Folge verlängerte es die Ausschaffungshaft bis zum 17. März 2020. Am 14. Januar 2020 nahm das Migrationsamt A. in Durchsetzungshaft, welche das Zwangsmassnahmengericht am 16. April 2020 bestätigte. Die Durchsetzungshaft wurde wiederholt verlängert: Am 7. April 2020 bis zum 14. Juni 2020 und am 9. Juni 2020 bis zum 14. August 2020. Gegen den Verlängerungsentscheid vom 7. April 2020 gelangte A. an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, welches seine Beschwerde am 22. Mai 2020 bezüglich der unentgeltlichen Verbeiständung im Verfahren vor dem Zwangsmassnahmengericht guthiess; im Übrigen wies es die Beschwerde ab.
C.
A. beantragt vor Bundesgericht, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 22. Mai 2020 insoweit aufzuheben, als seine Beschwerde abgewiesen und er in der Durchsetzungshaft belassen worden sei; er sei unverzüglich auf freien Fuss zu setzen; allenfalls sei die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gut, hebt das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich auf und ordnet an, dass A. unverzüglich aus der Haft zu entlassen sei.
BGE 147 II 49 S. 52
Aus den Erwägungen:
1.1
Gegen den kantonal letztinstanzlichen Entscheid über eine Zwangsmassnahme im Ausländerrecht kann die betroffene Person mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht gelangen (Art. 82 lit. a i.V.m.
Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG
; vgl. die Urteile 2C_386/2020 vom 9. Juni 2020 E. 1.1; 2C_65/ 2020 vom 18. Februar 2020 E. 1 und 2C_312/2018 vom 11. Mai 2018 E. 1). Wegen des mit der Anordnung ausländerrechtlicher Administrativhaft verbundenen schweren Eingriffs in die persönliche Freiheit kommt dem entsprechenden Freiheitsentzug eigenständige Bedeutung zu; die Haft erscheint nicht als bloss untergeordnete Vollzugsmassnahme zur Wegweisung, weshalb der Ausschlussgrund von
Art. 83 lit. c Ziff. 4 BGG
der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nicht entgegensteht (
BGE 142 I 135
E. 1.1.3 S. 139 f.;
BGE 135 II 94
E. 5.5 S. 101 f.; Urteil 2C_466/2018 vom 21. Juni 2018 E. 1.1).
1.2.1
Das Bundesgericht tritt - trotz Haftentlassung oder eines Verlängerungsentscheids, welcher den ursprünglich angefochtenen Haftentscheid ablöst (vgl.
BGE 139 I 206
E. 1.2.1-1.2.3 S. 208 ff.) - auf Beschwerden gegen die Genehmigung der ausländerrechtlichen Festhaltung durch den Haftrichter bzw. den entsprechenden kantonalen Rechtsmittelentscheid ein, wenn der Betroffene rechtsgenügend begründet (vgl.
Art. 42 BGG
) und in vertretbarer Weise ("griefs défendables") die Verletzung einer Garantie der EMRK rügt (vgl. die Urteile 2C_386/2020 vom 9. Juni 2020 E. 1.2.1 und 2C_548/2011 vom 26. Juli 2011 E. 1.3).
1.2.2
Dies ist hier der Fall: Zwar wurde die Durchsetzungshaft des Beschwerdeführers im Streitgegenstand bildenden Haftprüfungsverfahren nur bis zum 14. Juni 2020 genehmigt; dieser Entscheid ist durch einen neuen ersetzt worden, der eine Festhaltung bis zum 14. August 2020 vorsieht. Der Beschwerdeführer macht in vertretbarer Weise geltend, unter Verletzung von
Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK
in Haft belassen worden zu sein (Absehbarkeit des Vollzugs der Wegweisung; vgl. das Urteil des EGMR
Jusic gegen Schweiz
vom 2. Dezember 2010 [Nr. 4691/06], § 67 ff.). An der Beurteilung der Konventionskonformität seiner Administrativhaft hat er ein fortbestehendes Interesse, ohne dass er erst noch den Haftverlängerungsentscheid anfechten müsste (vgl.
BGE 139 I 206
E. 1.2.1-1.2.3 S. 208 ff.).
1.3
Da neben der Beschwerdelegitimation auch alle weiteren Prozessvoraussetzungen gegeben sind, ist auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten einzutreten (vgl.
Art. 42 und
Art. 100 Abs. 1 BGG
).
2.1
Hat eine ausländische Person ihre Pflicht zur Ausreise aus der Schweiz innerhalb der ihr angesetzten Frist nicht erfüllt und kann die rechtskräftige Weg- oder Ausweisung aufgrund ihres persönlichen Verhaltens nicht vollzogen werden, so darf sie in Durchsetzungshaft genommen werden, um der Ausreisepflicht Nachachtung zu verschaffen, sofern die Anordnung der Ausschaffungshaft nicht zulässig ist und keine andere, mildere Massnahme zum Ziel führt (
Art. 78 Abs. 1 AIG
[SR 142.20]; bis zum 31. Dezember 2018 AuG).
2.2.1
Zweck der Durchsetzungshaft ist es, die ausreisepflichtige Person in jenen Fällen zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, in denen nach Ablauf der Ausreisefrist der Vollzug der rechtskräftig gegen sie angeordneten Weg- oder Ausweisung bzw. Landesverweisung - trotz entsprechender behördlicher Bemühungen - ohne ihre Kooperation nicht (mehr) möglich erscheint. Der damit verbundene Freiheitsentzug stützt sich auf
Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK
(Haft zur Sicherung eines "schwebenden" Ausweisungsverfahrens) und dient in diesem Rahmen der Durchsetzung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung (vgl.
Art. 90 AIG
;
Art. 5 Ziff. 1 lit. b EMRK
;
BGE 140 II 409
E. 2.1 S. 411).
2.2.2
Die Durchsetzungshaft bildet das letzte Mittel, wenn und soweit keine andere Massnahme (mehr) zum Ziel führt, den illegal anwesenden Ausländer auch gegen seinen Willen in seine Heimat verbringen zu können. Sie darf - zusammen mit einer bereits verbüssten Ausschaffungs- oder Vorbereitungshaft - maximal 18 Monate betragen (Art. 78 Abs. 2 i.V.m.
Art. 79 AIG
), muss aber in jedem Fall verhältnismässig sein. Innerhalb dieser Höchstdauer ist jeweils aufgrund der Umstände im Einzelfall zu prüfen, ob die ausländerrechtliche Festhaltung insgesamt (noch) geeignet bzw. erforderlich erscheint und nicht gegen das Übermassverbot verstösst (vgl.
BGE 140 II 409
E. 2.1 S. 411;
BGE 135 II 105
E. 2.2.1 S. 107;
BGE 134 II 201
E. 2 S. 204 ff.;
BGE 134 I 92
E. 2.3 S. 96 ff.).
2.2.3
Die Festhaltung hat, weil unverhältnismässig, dann als unzulässig zu gelten, wenn triftige Gründe für Verzögerungen beim
BGE 147 II 49 S. 54
Vollzug der Wegweisung sprechen oder praktisch feststeht, dass sich dieser im Einzelfall kaum innert nützlicher Frist wird realisieren lassen (
BGE 130 II 56
E. 4.1.3 S. 61). Nur falls keine oder bloss eine höchst unwahrscheinliche, rein theoretische Möglichkeit besteht, die Wegweisung zu vollziehen, ist die Haft zu beenden, nicht indessen bei einer ernsthaften, wenn auch allenfalls (noch) geringen Aussicht hierauf (
BGE 130 II 56
E. 4.1.3 S. 61 mit Hinweisen). Unter Vorbehalt einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung durch die betroffene Person ist die Frage nach der Durchführbarkeit des Wegweisungsvollzugs bzw. der Möglichkeit der freiwilligen Rückreise des Betroffenen nicht notwendigerweise im Hinblick auf die maximal mögliche Haftdauer, sondern vielmehr auf einen den gesamten Umständen des konkreten Falls angemessenen Zeitraum hin zu beurteilen (
Art. 78 Abs. 6 lit. a AIG
; vgl.
BGE 130 II 56
E. 4.1.3 S. 61;
BGE 125 II 217
E. 3b/bb S. 223).
3.1
Das Bundesgericht hat im Zusammenhang mit dem Vollzug der Ausschaffung bzw. der Landesverweisung im Hinblick auf die Corona-Pandemie entschieden, dass jeder Einzelfall gestützt auf seine konkreten Umstände zu beurteilen sei (vgl. die Urteile 2C_510/2020 vom 7. Juli 2020 E. 3.2.1 und 2C_518/2020 vom 10. Juli 2020 E. 4.3.1). Dies entspricht der Praxis in der EU: Danach soll aus den vorübergehenden Beschränkungen während der Pandemie nicht automatisch darauf geschlossen werden, dass in allen Fällen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht; die Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf, jeden Fall einzeln zu prüfen, um festzustellen, ob noch eine hinreichende Aussicht auf Abschiebung besteht oder nicht (Mitteilung der Kommission, COVID-19: Hinweise zur Umsetzung der einschlägigen EU-Bestimmungen im Bereich der Asyl- und Rückführungsverfahren und zur Neuansiedlung, ABl. C 126 vom 17. April 2020 S. 12 ff., 26).
3.2
Der Vollzug der Wegweisung lässt sich während der Corona-Pandemie nur dann als innert absehbarer Frist möglich und damit durchführbar bezeichnen, wenn dem Haftrichter hierfür hinreichend konkrete Hinweise - insbesondere seitens des SEM - vorliegen; andernfalls fehlt es an der ernsthaften Aussicht auf den Vollzug der Wegweisung bzw. der Möglichkeit der freiwilligen Ausreise nach der Kooperation des Betroffenen mit den Behörden, auf welche die Durchsetzungshaft ausgerichtet ist (vgl. die Urteile 2C_414/2020 vom 12. Juni 2020 E. 3.3.1; 2C_386/2020 vom 9. Juni 2020 E. 4.2.2 und
BGE 147 II 49 S. 55
2C_312/2020 vom 25. Mai 2020 E. 2.3.1). Die bloss
vage
Möglichkeit, dass ein Vollzugshindernis potentiell in absehbarer Zeit entfallen könnte - wie dies etwa bei den Luftangriffen der NATO im früheren Jugoslawien der Fall war -, genügt nicht, um eine Ausschaffungs- bzw. Durchsetzungshaft aufrechtzuerhalten (vgl.
BGE 125 II 217
E. 3b/bb S. 223 f.; Urteil 2C_386/2020 vom 9. Juni 2020 E. 4.2.4).
3.3
Das Bundesgericht ist im Rahmen von
Art. 105 BGG
grundsätzlich an den Sachverhalt im angefochtenen Entscheid gebunden; es stellt deshalb in Fällen wie dem vorliegenden praxisgemäss auf die sachverhaltlichen Elemente im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids ab (vgl. die Urteile 2C_386/2020 vom 9. Juni 2020 E. 4.2.2 und 2C_442/2020 vom 24. Juni 2020 E. 5.3.1). Das Bundesgericht kann echte Noven grundsätzlich nicht berücksichtigen (
Art. 99 Abs. 1 BGG
;
BGE 133 IV 342
E. 2.1 S. 343 f.). Dies gilt indessen nicht, wenn die Umstände sich seit dem angefochtenen Entscheid zugunsten des Betroffenen derart verändert haben, dass der Haftrichter auf ein Haftentlassungsgesuch auch ausserhalb der Sperrfristen hätte eintreten und gestützt auf die neuen Umstände dieses gegebenenfalls gutheissen müssen (vgl.
Art. 80 Abs. 5 AIG
;
BGE 130 II 56
E. 4.2.1 S. 62;
BGE 125 II 217
E. 3b/bb und 3c S. 222 ff.;
BGE 124 II 1
E. 3a S. 5 f.). In diesem Rahmen können die vom Bundesgericht eingeholten Amtsberichte des SEM und die darin enthaltenen Angaben berücksichtigt werden, um die Rechtmässigkeit der Aufrechterhaltung der ausländerrechtlichen Festhaltung zu beurteilen (vgl. die Urteile 2C_1017/ 2012 vom 30. Oktober 2012 E. 2 und 2C_518/2020 vom 10. Juli 2020 E. 4.3.2).
4.1
Der Beschwerdeführer macht geltend, der Vollzug seiner Wegweisung bzw. die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise seien wegen der Reisebeschränkungen im Rahmen der Bekämpfung der Corona-Pandemie technisch nicht (mehr) in einem vernünftigerweise absehbaren Zeitraum möglich und verstosse deshalb gegen
Art. 78 Abs. 6 lit. a AIG
. Diese Bestimmung sieht vor, dass die Durchsetzungshaft zu beenden ist, wenn "eine selbständige und pflichtgemässe Ausreise nicht möglich" erscheint, "obwohl die betroffene Person den behördlich vorgegebenen Mitwirkungspflichten nachgekommen ist".
Art. 78 Abs. 6 lit. a AIG
ist im Lichte von
Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK
so zu verstehen, dass das Ausschaffungsverfahren "schwebend" sein muss, was nur der Fall ist, wenn der
BGE 147 II 49 S. 56
Vollzug der Wegweisung bzw. die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise als hinreichend absehbar gelten können; hiervon kann nicht (mehr) ausgegangen werden, wenn diesen ein objektives - vom Willen des Betroffenen unabhängiges - technisches Hindernis auf eine den konkreten Umständen des Falles angemessene Dauer hin entgegensteht.
4.2.1
Die Vorinstanz geht davon aus, dass bei der Durchsetzungshaft zunächst zu prüfen sei, ob der Beschwerdeführer bei der Papierbeschaffung kooperiere; erst danach sei auf die Frage einzugehen, ob die selbständige und pflichtgemässe Ausreise des Betroffenen sich technisch als möglich erweise. Da der Beschwerdeführer im konkreten Fall bei der Papierbeschaffung nicht mit den Behörden zusammengearbeitet habe, obwohl seine Mitwirkung ohne Weiteres möglich gewesen wäre, spiele es bezüglich der Absehbarkeit des Wegweisungsvollzugs keine Rolle, dass er in einer späteren Phase möglicherweise (coronabedingt) nicht ausreisen könnte. Die entsprechende Frage stelle sich erst, wenn der Beschwerdeführer bei der Papierbeschaffung mit den Behörden tatsächlich zusammengearbeitet habe, was hier bisher nicht der Fall gewesen sei.
4.2.2
Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden: Entscheidend ist, ob die Ausreise
"objektiv"
möglich ist. Es liegt keine relevante Unmöglichkeit vor, falls die betroffene Person
freiwillig
ausreisen kann, d.h. diesbezüglich keine technischen Hindernisse bestehen; ebenso verhält es sich, wenn die zwangsweise Ausschaffung ausgeschlossen ist, sich eine freiwillige Ausreise aber technisch als möglich erweist; die Durchsetzungshaft ist mit anderen Worten dann untauglich, wenn sowohl die Ausschaffung als auch die freiwillige Ausreise objektiv unmöglich sind (in diesem Sinn zur Problematik der Ein- und Ausgrenzung:
BGE 144 II 16
ff.; Urteil 2C_323/2020 vom 18. Juni 2020 E. 5.4.3 2. Abschnitt; vgl. auch THOMAS HUGI YAR, EINGRENZUNG BEI FREIWILLIGER AUSREISEMÖGLICHKEIT, DER DIGITALE RECHTSPRECHUNGS-KOMMENTAR [DRSK], 13. FEBRUAR 2018). Eine teleologische und konventionskonforme Auslegung ergibt, dass
Art. 78 Abs. 6 lit. a AIG
in diesem Sinn verstanden werden muss. Im Lichte von
Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK
ist auch bei der Durchsetzungshaft entscheidend, ob mit dem Wegweisungsvollzug bzw. der freiwilligen Ausreise in absehbarer Zeit gerechnet werden kann oder diesen objektive Hindernisse entgegenstehen;
Art. 78 Abs. 6 lit. a AIG
lässt in diesem Fall eine zweistufige Haftprüfung, wie sie die Vorinstanz
BGE 147 II 49 S. 57
vertritt, nicht zu. Es ist deshalb zu prüfen, ob ein - auf eine im konkreten Fall angemessene Zeitspanne hin - andauerndes technisches Hindernis (Massnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie) der freiwilligen Ausreise entgegensteht.
4.3
Zwar hat das Bundesgericht am 4. Juni 2020 im Urteil 2C_368/ 2020 die Aufrechterhaltung der Durchsetzungshaft eines algerischen Beschwerdeführers geschützt; der entsprechende Fall kann mit dem vorliegenden indessen nicht verglichen werden: Bei seinem Entscheid vom 4. Juni 2020 stellte das Bundesgericht auf den Amtsbericht des Staatssekretariats für Migration ab, wonach die Air Algérie am 14. März 2020 den Flugbetrieb weitgehend eingestellt, inzwischen jedoch wieder öffentlich angekündigt habe, sich auf die Wiederaufnahme der Flugtätigkeit vorzubereiten. Aufgrund der damaligen Entwicklungen und insbesondere der Lockerungen der behördlichen Pandemie-Massnahmen könne - so der Amtsbericht weiter - davon ausgegangen werden, dass die Beeinträchtigung im Flugverkehr "vorübergehender Natur" sei. Die Abklärungen würden fortgesetzt. Das Bundesgericht nahm gestützt hierauf an, dass eine freiwillige Ausreise bzw. Ausschaffung technisch in einem vernünftigen zeitlichen Rahmen als absehbar gelten konnte; dies ist hier nicht der Fall.
5.1
Obwohl der Beschwerdeführer seinen Mitwirkungspflichten - entgegen seinen Behauptungen - nicht nachgekommen ist und alles vorkehrt, um seine Identifikation und Verbringung in seinen Heimatstaat zu erschweren (Erklärung, die Schweiz nicht zu verlassen; Weigerung, mit Sprachspezialisten und der malischen Delegation in seiner Muttersprache zu kommunizieren usw.), kann seine Ausschaffung bzw. "seine selbständige und pflichtgemässe Ausreise" nicht als in absehbarer Zeit möglich gelten. Seine Ausschaffung bzw. die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise scheitert derzeit nicht (allein) an seinem Verhalten, sondern an einer zeitlich (noch) nicht absehbaren, vorübergehenden technischen Unmöglichkeit, nach Mali zurückzukehren. Weder kann der Beschwerdeführer freiwillig in die Heimat reisen, noch können die Behörden ihn zwangsweise dorthin verbringen, weil coronabedingt keine Flüge stattfinden bzw. Ein- oder Ausreisesperren bestehen. Es liegen damit technische Hindernisse vor, welche auch bei einer Kooperation des Beschwerdeführers nicht dazu führen würden, dass er in seine Heimat reisen oder dorthin verbracht werden könnte. Es wird vom Betroffenen mit dem Freiheitsentzug etwas verlangt, was zurzeit aus objektiven Gründen nicht zum bezweckten Ziel führen kann.
BGE 147 II 49 S. 58
5.2
Das Verwaltungsgericht hat bezüglich der Vollziehbarkeit implizit auf die maximal mögliche Dauer der Durchsetzungshaft abgestellt und festgehalten, dass eine freiwillige Rückkehr nach Mali aufgrund des Coronavirus vorübergehend "erschwert" sei. Prognosen über die weltweite Entwicklung der Situation betreffend COVID-19 seien sehr schwierig; ob sich die Lage in der Schweiz und in Mali wieder normalisieren werde und wann wieder Flüge stattfinden könnten, sei ungewiss, dennoch habe der Vollzug der Wegweisung als absehbar zu gelten. Ob dieser technisch möglich sei, spiele bei der Durchsetzungshaft keine entscheidende Rolle (vgl. diesbezüglich aber die vorstehende E. 4.2).
5.3.1
In seinem Amtsbericht konkretisiert das Staatssekretariat für Migration die Möglichkeit, den Beschwerdeführer in absehbarer Zeit nach Mali verbringen zu können, nur beschränkt. Es weist darauf hin, dass die Schweiz mit Mali kein Rückübernahmeabkommen habe, doch bestehe "seit Jahren" dennoch "eine gute operationelle Zusammenarbeit". Im letzten Jahr hätten acht Personen selbständig nach Mali zurückkehren können; eine zwangsweise Rückführung habe nicht stattgefunden. Diese Ausführungen beziehen sich nicht auf die konkrete Ausschaffungs- bzw. Ausreisemöglichkeit im Rahmen der verschiedenen sanitarischen Beschränkungen im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie. Es ist gerichtsnotorisch, dass für den hier relevanten Zeitraum zahlreiche Staaten Einreise- und Ausreisebeschränkungen verfügt haben, um die Verbreitung des Coronavirus (COVID-19) einzudämmen, was zu erheblichen Beeinträchtigungen des internationalen Personenflugverkehrs geführt hat (vgl. das Urteil 2C_323/2020 vom 18. Juni 2020 E. 5.1).
5.3.2
Zur Problematik der Corona-Pandemie und den entsprechenden sanitarischen Massnahmen hält der Bericht fest, dass Mali - wie der Grossteil der afrikanischen Staaten - aufgrund der COVID-19-Pandemie den internationalen Flughafen Bamako Senou am 20. März 2020 für internationale Passagierflüge geschlossen habe. Erste afrikanische Länder (z.B. Äthiopien, Tansania) hätten inzwischen den Flugbetrieb wieder aufgenommen und einzelne Rückreisen ausreisepflichtiger Personen nach Afrika seien bereits erfolgt. Es sei - so das SEM weiter - "davon auszugehen, dass in absehbarer Zeit weitere Länder - so auch Mali - folgen werden". Dies genügt jedoch nicht, um hinreichend konkretisiert davon ausgehen zu können, dass die Ausschaffung bzw. Rückreise nach Mali in einer dem
BGE 147 II 49 S. 59
Einzelfall angemessenen Zeitspanne trotz der Corona-Pandemie möglich sein wird. Es handelt sich dabei um blosse Vermutungen; solche vermögen die Aufrechterhaltung der Haft des Beschwerdeführers nicht zu rechtfertigen (vgl. das Urteil 2C_442/2020 vom 24. Juni 2020 E. 5.3.2). Es finden sich in den Akten keine Hinweise, dass eine Rückreise des Beschwerdeführers nach Mali in absehbarer Zeit erfolgen könnte (vgl. das Urteil 2C_323/2020 vom 18. Juni 2020 E. 5.2). Dem Haftrichter lagen keine hinreichend konkreten Hinweise dafür vor, dass der Vollzug der Ausschaffung bzw. die freiwillige Rückkehr des Beschwerdeführers in absehbarer Frist wieder möglich sein könnte (vgl. die vorstehende E. 3.2).
5.4.1
Entgegen der Einschätzung der Vorinstanz handelte es sich bei der Absehbarkeit des Vollzugs der Wegweisung zum Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids damit um eine bloss theoretische Möglichkeit im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (
BGE 130 II 56
E. 4.1.3 S. 61), auch wenn in der Schweiz und in Europa aufgrund der neueren Entwicklungen inzwischen gewisse Öffnungen erfolgt sind, die aber teilweise bereits wieder zurückgenommen werden mussten. Die vage Möglichkeit, dass ein technisches Vollzugshindernis potentiell in absehbarer Zeit entfallen könnte, genügt - wie dargelegt (vgl. vorstehende E. 3.2) - nicht, um eine ausländerrechtlich begründete Festhaltung aufrechtzuerhalten (Urteile 2C_442/ 2020 vom 24. Juni 2020 E. 5.3.3 und 2C_386/2020 vom 9. Juni 2020 E. 4.2.4;
BGE 125 II 217
E. 3b/bb S. 223 f.).
5.4.2
Die Vorinstanz hat in ihrer pflichtgemäss vorzunehmenden Prognose zudem nicht berücksichtigt, dass die Durchsetzungshaft des Beschwerdeführers seit Januar 2020 bereits wiederholt verlängert wurde und er sich zuvor bereits für einige Monate in ausländerrechtlicher Haft befunden hat. Diese ist zwar nicht auf die Maximaldauer von ausländerrechtlich begründeten Freiheitsentzügen von 18 Monaten anzurechnen (
Art. 79 Abs. 2 AIG
), da sich der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben dazwischen wiederholt im Ausland aufgehalten hat; dennoch sind sie im Zusammenhang mit der Absehbarkeit des Wegweisungsvollzugs bzw. der Verhältnismässigkeit der Festhaltung des Beschwerdeführers von Bedeutung. Schliesslich macht der Beschwerdeführer geltend, in der Schweiz eine Tochter zu haben, was im Rahmen der persönlichen Verhältnisse durch die kantonalen Instanzen näher zu prüfen bzw. zu berücksichtigen gewesen wäre (vgl.
Art. 80 Abs. 4 AIG
).
BGE 147 II 49 S. 60
5.4.3
Nach dem Dargelegten bestanden im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids keine ernsthaften Aussichten darauf, dass sich der Vollzug der Wegweisung des Beschwerdeführers bzw. seine freiwillige Rückkehr innert einer vernünftigerweise absehbaren Frist technisch realisieren liessen. Die kantonalen Behörden hätten unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse die Durchsetzungshaft des Beschwerdeführers deshalb nicht verlängern dürfen. Ihr gegenteiliges Vorgehen verletzt das Übermassverbot (vgl. das Urteil 2C_323/ 2020 vom 18. Juni 2020 E. 3.2;
BGE 140 II 409
E. 2.1 S. 411; je mit Hinweisen) sowie
Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK
und
Art. 78 Abs. 6 lit. a AIG
.