Urteilskopf
94 IV 5
2. Urteil des Kassationshofes vom 8. Februar 1968 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Baselland gegen Jakob.
Regeste
Art. 32 StGB
. Waffengebrauch der Polizei.
1. Zur Rechtfertigung seines Verhaltens kann der Beamte sich auch auf Verwaltungsvorschriften berufen, wenn seine Pflichten bloss in solchen Vorschriften statt in gesetzlichen Bestimmungen geregelt sind (Erw. 1).
2. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit als allgemeine Schranke polizeilicher Eingriffe in fremde Rechtsgüter; Anforderungen an die Verhältnismässigkeit des Eingriffes (Erw. 2 a).
3. Anwendung des Grundsatzes auf das Verhalten eines Polizeimannes, der auf einen vermeintlichen Verbrecher schiesst, um ihn festnehmen zu können (Erw. 2 b).
A.-
Polizeimann Jakob wollte am 17. April 1967, um 20 Uhr, in Läufelfingen zusammen mit Polizeikorporal Plattner drei Jugendliche kontrollieren, die am gleichen Tag aus der Erziehungsanstalt Aarburg entwichen waren und sich auf dem Weg nach Basel befanden. Es handelte sich um Marcel Hochuli, Herbert Heimo und Urs Jakob, alle zwischen 18 und 19 Jahre alt. Da sie den Polizeibeamten verdächtig erschienen, sich aber nicht ausweisen wollten, wurden sie aufgefordert, auf den Posten zu kommen. Auf diese Aufforderung hin ergriff Urs Jakob die Flucht. Der Polizeimann setzte ihm nach und konnte ihn mit der Warnung, dass er schiessen werde, nach etwa 100 m stellen. Mit der Pistole in der Hand trat er auf Urs Jakob zu und gab ihm deutlich zu verstehen, dass er bei nochmaligem Fluchtversuch von der Waffe Gebrauch machen werde.
Unterdessen hatte Plattner versucht, Hochuli und Heimo festzuhalten. Sie wehrten sich, und Heimo konnte sich losreissen. Polizeimann Jakob sah ihn gegen den Bahndamm flüchten und rief ihm zu, er solle halten und als er dies nicht tat, gab der Polizist einen Warnschuss ab. Heimo liess sich von seinem Vorhaben indes nicht abschrecken; er entkam.
Der Polizeimann gebot dann Urs Jakob, vor ihm her zum Posten zu marschieren. Auf halbem Wege drehte der Jugendliche sich plötzlich um und griff den Polizisten an. Dieser wehrte ab und packte den Burschen vorne am Hemd, konnte aber nicht verhindern, dass Urs Jakob sich losriss und von neuem die Flucht ergriff. Auf einen Warnruf und die nochmalige Drohung mit der Schusswaffe reagierte er nicht. Der Polizeimann gab daraufhin aus etwa 15 m Entfernung einen gezielten Schuss auf die Beine des Flüchtenden ab und traf ihn in den linken Oberschenkel. Zusammen mit seinem Vorgesetzten Plattner brachte er den Verletzten sogleich zu einem Arzt. Erst dort erkannte Polizeimann Jakob in dem Flüchtling seinen jüngern Bruder, den er seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Urs Jakob war wegen der erlittenen Verletzungen bis am 3. Juli 1967 in einem Spital, trug aber keinen bleibenden Nachteil davon.
B.-
Die Staatsanwaltschaft Baselland erhob gegen Polizeimann Jakob Anklage wegen vorsätzlicher einfacher Körperverletzung im Sinne von
Art. 123 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
. Das Strafgericht
BGE 94 IV 5 S. 7
Baselland erklärte den Angeklagten am 5. September 1967 dieses Vergehens schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von zehn Tagen.
Auf Appellation hin sprach das Obergericht des Kantons Baselland am 12. Dezember 1967 den Angeklagten dagegen frei. Es hält dafür, Jakob sei nach
Art. 32 StGB
in Verbindung mit dem Dienstreglement der Polizei zur Abgabe des gezielten Schusses berechtigt und verpflichtet gewesen; jedenfalls habe er unter den gegebenen Umständen mit guten Gründen solcher Meinung sein können.
C.-
Die Staatsanwaltschaft führt gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, es aufzuheben und die Sache zur Bestrafung des Angeklagten an das Obergericht zurückzuweisen.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.
Nach
Art. 32 StGB
ist die Tat, die das Gesetz gebietet oder für erlaubt erklärt, kein Verbrechen oder Vergehen. Das Gesetz, welches das Gebot oder die Erlaubnis enthält, braucht kein Bundesgesetz, auch kein Gesetz im formellen Sinne zu sein. Zur Rechtfertigung seines Verhaltens kann der Täter sich vielmehr auf jeden Rechtssatz berufen, gleichviel, ob dieser in einem Gesetz oder in einer Verordnung, in einem eidgenössischen oder kantonalen, zivil- oder öffentlichrechtlichen Erlass enthalten sei (vgl.
BGE 85 IV 5
; ferner WAIBLINGER, Schweiz. Juristische Kartothek, Karte 1204 Ziff. 12). Selbst blosse Verwaltungsvorschriften können ausreichen. Dies ergibt sich daraus, dass
Art. 32 StGB
durch Amtspflicht gebotenes Handeln ebenfalls als Rechtfertigungsgrund anerkennt, die Amtspflichten aber, was dem Gesetzgeber nicht entgangen sein kann, bei weitem nicht alle in gesetzlichen Bestimmungen geregelt sind. Das gilt namentlich für Amtshandlungen der Polizei. So sind gerade die kantonalen Vorschriften über den Waffengebrauch der Polizei noch heute durchwegs nicht in einem Gesetz, sondern in blossen Dienstanweisungen oder Dienstreglementen zu finden. Auch im Kanton Baselland verhält es sich nicht anders. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ist das allerdings, wie NOLL in ZStrR 1964 S. 182 mit Recht bemerkt, nicht unbedenklich.
2.
Nach § 44 des Dienstreglementes hat die Polizei im Kanton Baselland die Waffe als letztes Mittel zu verwenden, insbesondere wenn Personen, welche ein schweres Verbrechen oder ein schweres Vergehen begangen haben oder eines solchen
BGE 94 IV 5 S. 8
dringend verdächtigt sind, sich durch Flucht der Festnahme zu entziehen suchen (Ziff. 3). Die Staatsanwaltschaft macht geltend, diese Voraussetzungen für den Waffengebrauch seien hier entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht erfüllt gewesen. Ob das Obergericht das kantonale Recht richtig ausgelegt und angewendet habe, kann das Bundesgericht auf Nichtigkeitsbeschwerde hin jedoch nicht überprüfen (Art. 269 Abs. 1, 273 Abs. 1 lit. b BStP). Fragen kann sich nur, ob das angefochtene Urteil vor
Art. 32 StGB
standhalte. Die Staatsanwaltschaft fügt denn auch bei, dass die Dienstvorschrift durch die bundesrechtliche Norm jedenfalls nicht mehr gedeckt sei, wenn man sie so weit auslege, wie das Obergericht dies tue.
a)
Art. 32 StGB
enthält selber keine Schranken für das kantonale Recht. Solche können sich indes aus dem allgemeinen Vorrang des Bundesrechts und, was das kantonale Amts- oder Dienstrecht insbesondere anbelangt, aus den Normen der allgemeinen Rechtsordnung ergeben (
BGE 47 II 179
und 508). Hiezu gehört in erster Linie der Grundsatz der Angemessenheit oder Verhältnismässigkeit, der besagt, dass Eingriffe in fremde Rechtsgüter nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung des Zweckes, der sie rechtfertigt, erforderlich ist. Dieser Satz gilt zwar vor allem im Verwaltungsrecht (statt vieler:
BGE 87 I 453
,
BGE 91 I 327
; RUCK, Schweiz. Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Bd. I S. 49), ist aber bei der Anwendung der
Art. 32 ff. StGB
ebenfalls zu beachten, gleichviel, ob er in der kantonalen Vorschrift, auf die sich der Täter zu seiner Rechtfertigung oder Entschuldigung beruft, zum Ausdruck kommt oder nicht. Der Kassationshof hat denn schon bisher die Angemessenheit von Handlungen kantonaler Beamten immer unabhängig von kantonalen Vorschriften geprüft (vgl.
BGE 72 IV 178
,
BGE 76 IV 26
). Zu beachten ist ferner, dass alle Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe eine Wertabwägung voraussetzen, bei der nicht nur der Wert der kollidierenden Rechtsgüter, sondern sämtliche Unrechts- und Rechtfertigungselemente zu berücksichtigen sind (NOLL, a.a.O. S. 165).
Welche Anforderungen an die Verhältnismässigkeit des Eingriffes und damit an die Rechtfertigung zu stellen sind, entscheidet sich nicht allgemein, sondern nach den Umständen des Einzelfalles, namentlich nach dem Grund und der Art der Massnahme, den Mitteln und der Zeit, die dem Handelnden zur Verfügung stehen. Je schwerwiegender der Eingriff ist und je mehr Mittel und Zeit dem Handelnden zur Verfügung stehen, desto
BGE 94 IV 5 S. 9
schwieriger die Rechtfertigung, und umgekehrt. Das gilt auch für das Vorgehen der Polizei, was aber nicht heisst, dass sie stets volle Verhältnismässigkeit wahren müsse. Bei Notwehr ergibt sich schon aus der Natur der Abwehr, dass dieser Massnahme keine engen Grenzen zu ziehen sind, und bei geringfügigen Verletzungen oder Gefährdungen kann schon eine minimale Verhältnismässigkeit zur Rechtfertigung genügen. Und wo einlässliche Vorschriften fehlen oder verschiedene Mittel zur Verfügung stehen, kommt dem Polizeibeamten notwendigerweise ein gewisses Ermessen zu, weshalb ihm z.B. aus dem Gebrauch der Waffe kein Vorwurf gemacht werden kann, wenn er nach den gegebenen Umständen Anlass hat, gerade zu diesem Mittel zu greifen. Denn Angemessenheit und Rechtfertigung seines Verhaltens beurteilen sich nicht nach dem Sachverhalt, wie er sich nachträglich dem Richter darstellt; massgebend ist vielmehr, was der Beamte im Zeitpunkt, als er sich zum Gebrauch der Waffe entschliesst, von der Sachlage halten muss (vgl.
BGE 47 II 181
und 509).
b) Nach diesen Grundsätzen kann im vorliegenden Fall nicht zweifelhaft sein, dass das Verhalten des Angeklagten durch
Art. 32 StGB
gedeckt, seine Freisprechung folglich nicht zu beanstanden ist. Gewiss heben Staatsanwaltschaft und Strafgericht mit Recht hervor, dass die Polizei sich schon nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit grosse Zurückhaltung auferlegen muss, die Waffe in Fällen, wie hier, daher nur verwenden darf, wenn der Fliehende ein schweres Delikt begangen oder eines solchen dringend verdächtig erscheint und andere Mittel nicht ausreichen. Selbst dann soll die Polizei nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Zweckes erforderlich ist, lebensgefährliche Verletzungen also möglichst vermeiden. Im Schrifttum wird denn auch mit Recht vor leichtfertigem Waffengebrauch eindringlich gewarnt und eine Beschränkung dieses Mittels auf Fälle verlangt, die es nach den Grundsätzen der Wertabwägung und der Verhältnismässigkeit überhaupt als zulässig erscheinen lassen (s. inbes. NOLL, a.a.O. S. 182 ff.; HARTMANN, Der Waffengebrauch der Polizei, in Festgabe Max Obrecht S. 331 ff.).
Das heisst indes nicht, dass die Angemessenheit polizeilichen Vorgehens auch dann zu verneinen sei, wenn gewichtige Gründe einen Polizeibeamten zur Auffassung bringen konnten, er habe mit einem gefährlichen Verbrecher zu tun, den er nur mit der Waffe zu stellen vermöge. Solche Gründe aber hatte der Angeklagte.
BGE 94 IV 5 S. 10
Die Staatsanwaltschaft bestreitet nicht, dass Läufelfingen ein "heisses Pflaster" ist. Die Polizei will damit offenbar sagen, es seien dort in den letzten Jahren verhältnismässig viele Verbrecher aufgetaucht oder schwere Straftaten begangen worden. Einzig daraus durfte der Angeklagte freilich noch nicht schliessen, die drei Burschen seien Verbrecher oder hätten sich schwere Delikte zuschulden kommen lassen, selbst wenn sie nicht nur ihm, sondern auch seinem Vorgesetzten schon auf den ersten Blick verdächtig vorkamen. Diesen Schluss durfte der Angeklagte dagegen aus der Art und Weise ziehen, wie die Verdächtigen auf die Aufforderung, sich auszuweisen, reagierten. Urs Jakob ergriff sogleich die Flucht und liess sich zunächst nur durch die Drohung mit der Waffe aufhalten. Die beiden andern wehrten sich heftig gegen die Festnahme und versuchten ebenfalls zu entkommen, was dem Heimo, der sich weder durch einen Warnruf noch durch einen Schreckschuss des Angeklagten davon abbringen liess, auch gelungen ist. Urs Jakob konnte hierauf nicht mehr im Zweifel sein, dass es dem Polizisten mit der Drohung, bei einem erneuten Fluchtversuch auf ihn zu schiessen, ernst war. Er wusste zudem, dass dieser ihm mit schussbereiter Waffe unmittelbar folgte. Gleichwohl drehte er sich plötzlich um, griff den Polizisten, wie das Obergericht feststellt, tätlich an und versuchte dann durch eine Bahnunterführung erneut zu entfliehen.
Unter diesen Umständen durfte der Angeklagte mit Grund der Meinung sein, er habe mit einem gefährlichen Verbrecher zu tun, der sich dem Zugriff der Polizei um jeden Preis entziehen wolle. Das Obergericht stellt übrigens ausdrücklich fest, dass der Angeklagte tatsächlich dieser Meinung war. Was die Staatsanwaltschaft dagegen vorbringt, ist Kritik an der Beweiswürdigung und daher nicht zu hören. Der Angeklagte hat von der Waffe auch nicht leichtfertig, sondern erst nach mehreren Warnungen und nachdem er offenbar keine andere Möglichkeit zur Festnahme des vermeintlichen Verbrechers mehr sah, Gebrauch gemacht. Er vergewisserte sich zudem, dass keine Drittpersonen gefährdet waren, und schoss absichtlich auf die Beine des Flüchtenden, um dessen Leben zu schonen. Auch dieses Vorgehen des Angeklagten war angemessen und ist folglich durch
Art. 32 StGB
gedeckt. Er ist daher zu Recht freigesprochen worden.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.