Bundesgesetz
über das Bundesgericht
(Bundesgerichtsgesetz, BGG)


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Art. 107 Entscheid

1 Das Bun­des­ge­richt darf nicht über die Be­geh­ren der Par­tei­en hin­aus­ge­hen.

2 Heisst das Bun­des­ge­richt die Be­schwer­de gut, so ent­schei­det es in der Sa­che selbst oder weist die­se zu neu­er Be­ur­tei­lung an die Vor­in­stanz zu­rück. Es kann die Sa­che auch an die Be­hör­de zu­rück­wei­sen, die als ers­te In­stanz ent­schie­den hat.

3 Er­ach­tet das Bun­des­ge­richt ei­ne Be­schwer­de auf dem Ge­biet der in­ter­na­tio­na­len Rechts­hil­fe in Strafsa­chen oder der in­ter­na­tio­na­len Amts­hil­fe in Steu­er­sa­chen als un­zu­läs­sig, so fällt es den Nicht­ein­tre­tens­ent­scheid in­nert 15 Ta­gen seit Ab­schluss ei­nes all­fäl­li­gen Schrif­ten­wech­sels. Auf dem Ge­biet der in­ter­na­tio­na­len Rechts­hil­fe in Strafsa­chen ist es nicht an die­se Frist ge­bun­den, wenn das Aus­lie­fe­rungs­ver­fah­ren ei­ne Per­son be­trifft, ge­gen de­ren Asyl­ge­such noch kein rechts­kräf­ti­ger En­dent­scheid vor­liegt.96

4 Über Be­schwer­den ge­gen Ent­schei­de des Bun­de­spa­tent­ge­richts über die Er­tei­lung ei­ner Li­zenz nach Ar­ti­kel 40d des Pa­tent­ge­set­zes vom 25. Ju­ni 195497 ent­schei­det das Bun­des­ge­richt in­ner­halb ei­nes Mo­nats nach An­he­bung der Be­schwer­de.98

96 Fas­sung ge­mä­ss An­hang Ziff. 1 des Steu­er­amts­hil­fe­ge­set­zes vom 28. Sept. 2012, in Kraft seit 1. Fe­br. 2013 (AS 2013 231; BBl 2011 6193).

97 SR 232.14

98 Ein­ge­fügt durch An­hang Ziff. 2 des BG vom 20. März 2009 über das Bun­de­spa­tent­ge­richt, in Kraft seit 1. Jan. 2012 (AS 2010 513, 2011 2241; BBl 2008 455).

Court decisions

133 I 270 (1B_154/2007) from Sept. 14, 2007
Regeste: a Art. 31 Abs. 3 BV, Art. 5 Ziff. 3 EMRK, Art. 46 Abs. 1 BGG; Fristenstillstand bei strafprozessualer Haft. Der gesetzliche Fristenstillstand für die Beschwerdeführung beim Bundesgericht gilt in Fällen betreffend die strafprozessuale Haft nicht (E. 1.2.2). Diese neue Praxis war für den Beschwerdeführer nicht vorhersehbar. Auf die unter Beachtung des Fristenstillstands eingereichte Beschwerde ist nach Treu und Glauben einzutreten (E. 1.2.3).

133 II 409 (1C_86/2007) from Oct. 31, 2007
Regeste: Art. 82 ff. BGG, Art. 24 und 24c RPG; Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten betreffend Erweiterung einer Mobilfunkantenne ausserhalb der Bauzonen. Zulässigkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten auf dem Gebiet des Raumplanungs- und Baurechts (E. 1.1). Anfechtung eines Zwischenentscheids (Rückweisungsentscheid) durch die Gemeinde und einen betroffenen Nachbarn (E. 1.2). Beschwerdeberechtigung (E. 1.3). Eintreten auf rein kassatorischen Antrag (E. 1.4). Sachverhaltsfeststellungen in Bezug auf die Anwendung der Art. 24 und 24c RPG (E. 2). Die bestehende Antenne wird wegen der neuen Nutzung als UMTS-Antenne und der damit verbundenen Erhöhung der Sendeleistung nicht im Sinne von Art. 24c RPG bloss massvoll erweitert (E. 3). Die Bewilligungsvoraussetzungen gemäss Art. 24 RPG sind erfüllt (E. 4).

133 III 462 (4A_61/2007) from June 13, 2007
Regeste: Haftung des Staates für die Tätigkeit von Spitalärzten; Rechtsweg; entgangene Chance. Die Beschwerde in Zivilsachen steht offen gegen in Anwendung von kantonalem öffentlichem Recht ergangene Entscheide über die Verantwortlichkeit des Gemeinwesens für rechtswidrige Handlungen von in öffentlichen Spitälern angestellten Ärzten (Art. 72 Abs. 2 lit. b BGG; Art. 31 Abs. 1 lit. d BGerR; E. 2.1). Die Übernahme der Theorie der entgangenen Chance in das schweizerische Recht erscheint mindestens problematisch. Die Ablehnung dieser Theorie stellt insofern keine willkürliche Anwendung des kantonalen Rechts über die Verantwortlichkeit des Staates für medizinische Tätigkeiten dar (E. 3 und 4).

133 III 489 (4A_102/2007) from July 9, 2007
Regeste: Anforderungen an das Rechtsbegehren einer Beschwerde; Art. 42 Abs. 1 BGG. Der Beschwerdeführer darf sich grundsätzlich nicht darauf beschränken, die Aufhebung des angefochtenen Entscheids zu beantragen, sondern muss einen Antrag in der Sache stellen (E. 3).

133 III 545 (4A_12/2007) from July 3, 2007
Regeste: a Bundesgerichtsgesetz (BGG); Zulässigkeit der Beschwerde in Zivilsachen nach Art. 72 ff. BGG. Übergangsrecht (E. 1). Zulässigkeitsvoraussetzungen der Beschwerde in Zivilsachen (E. 2.1). Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts im Verfahren der Beschwerde in Zivilsachen (E. 2.2-2.4). Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (E. 5).

133 III 634 (4A_232/2007) from Oct. 2, 2007
Regeste: Voraussetzungen, unter denen die Beschwerde in Zivilsachen gegen Zwischenentscheide der über die Nichtigkeitsbeschwerde gemäss nationalem Schiedsverfahren urteilenden Behörde zulässig ist (Art. 36 ff. KSG; Art. 93 Abs. 1 BGG). Ein Zwischenentscheid, der nicht die Zuständigkeit oder ein Ausstandsbegehren betrifft, kann nur nach Massgabe von Art. 93 Abs. 1 BGG Gegenstand einer Beschwerde in Zivilsachen bilden. Da die Nichtigkeitsbeschwerde in einem nationalen Schiedsverfahren kassatorischer Natur ist, kann das Bundesgericht bei Gutheissung der Beschwerde nur einen Endentscheid herbeiführen, wenn die für die Nichtigkeitsbeschwerde zuständige Behörde selbst hätte entscheiden können oder das Schiedsurteil von der Gutheissung nicht betroffen ist (E. 1.1 und 1.2).

133 III 687 (5A_86/2007) from Sept. 3, 2007
Regeste: Art. 172 Ziff. 3 SchKG; Abweisung des Konkursbegehrens zufolge Tilgung oder Stundung. Anfechtung von Entscheiden des Konkursrichters mit Beschwerde in Zivilsachen (E. 1.2). Anfechtung eines vor dem 1. Januar 2007 ergangenen Entscheides des oberen kantonalen Gerichts gemäss Art. 100 Abs. 6 BGG (E. 1.3 und 1.4). Unter die Kosten, welche der Schuldner gemäss Art. 172 Ziff. 3 SchKG zu tilgen hat, kann die Entschädigung an den Gläubiger für die Konkursverhandlung fallen (E. 2).

133 IV 150 (6B_46/2007) from May 29, 2007
Regeste: Art. 51 StGB; Anrechnung der Untersuchungshaft. Auf die Strafe ist auch die Untersuchungshaft anzurechnen, die in einem anderen Verfahren angeordnet worden ist. Zu entziehende Freiheit ist wenn immer möglich mit bereits entzogener Freiheit zu kompensieren (E. 5).

133 IV 293 (6B_146/2007) from Aug. 24, 2007
Regeste: Verfahren bei mangelhafter Sachverhaltsfeststellung. Ein Urteil ohne die zur Subsumtion notwendigen tatsächlichen Grundlagen ist bundesrechtswidrig. Ist ein Sachverhalt in diesem Sinne lückenhaft und kann deshalb die Gesetzesanwendung nicht nachgeprüft werden, so ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur ergänzenden Tatsachenfeststellung und neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen (E. 3.4). Die Einholung einer Stellungnahme der Gegenpartei ist entbehrlich, da bei der Rückweisung zur Sachverhaltsergänzung der Entscheid in der Sache nicht präjudiziert wird (E. 3.4.2).

134 I 65 (8C_92/2007) from Dec. 14, 2007
Regeste: Art. 12 BV; Art. 2 Abs. 2, Art. 289 Abs. 2, Art. 328 und 329 ZGB; Art. 3c Abs. 1 lit. g ELG. Sozialhilfe an einen zum Bezug von Ergänzungsleistungen zur AHV berechtigten Vater, der freiwillig auf einen Teil seines Vermögens verzichtet hat, indem er diesen seinen Kindern als Erbvorbezug überlassen hat. Da kein offensichtlicher Rechtsmissbrauch vorliegt, darf das in Art. 12 BV garantierte Existenzminimum nicht verweigert werden. Regressmöglichkeit gegenüber den Kindern gestützt auf Art. 328 und 329 ZGB (E. 2-7).

134 II 186 (2C_637/2007) from April 4, 2008
Regeste: Art. 82 ff., Art. 107 Abs. 2 BGG; Art. 73 StHG. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten; Legitimation der kantonalen Steuerverwaltung zur Beschwerde gegen einen Zwischenentscheid im Bereich des harmonisierten kantonalen Rechts (Einhaltung der 30-tägigen Einsprachefrist gemäss Art. 48 Abs. 1 StHG durch den Steuerpflichtigen); Zulässigkeit reformatorischer Anträge. Zulässigkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten im Sinne von Art. 82 ff. BGG und Art. 73 StHG (E. 1.1) gegen einen Zwischenentscheid (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG; E. 1.2). Bedeutung von Art. 73 Abs. 1 StHG seit Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes (E. 1.3). Beschwerdelegitimation der kantonalen Steuerverwaltung gemäss Art. 73 Abs. 2 StHG in Verbindung mit Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG (E. 1.4). Anträge reformatorischer Natur sind zulässig, weil gemäss historischer und logischer Interpretation Art. 73 Abs. 3 StHG nicht lex specialis zu Art. 107 Abs. 2 BGG bildet (E. 1.5).

134 II 207 (2C_648/2007) from May 15, 2008
Regeste: Art. 13 Abs. 1 und Art. 14 StHG; Bewertungsvorschriften im Bereich der Vermögenssteuer natürlicher Personen; Besteuerung einer zum Geschäftsvermögen eines Selbständigerwerbenden gehörenden Liegenschaft; Genfer Gesetzgebung. Zulässigkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen die Entscheide gemäss Art. 73 Abs. 1 StHG (E. 1). Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts (E. 2). Verhältnis zwischen den Buchhaltungsvorschriften und dem Steuerrecht (E. 3.3). Besteuerung der zum Geschäftsvermögen Selbständigerwerbender gehörenden Liegenschaften zum Verkehrswert/Ertragswert im Sinne von Art. 14 Abs. 1 StHG, unter Ausschluss des Buchwertes (E. 3.4 und 3.5); Spielraum der Kantone bei der Bewertung (E. 3.6); Vereinbarkeit der einschlägigen Genfer Gesetzgebung mit dem Bundesrecht (E. 3.7-3.9).

134 III 379 (4D_81/2007) from March 17, 2008
Regeste: Bundesgerichtsgesetz; beschwerdefähiger Entscheid; Umwandlung des Rechtsmittels; Anforderungen an die in der Rechtsschrift enthaltenen Anträge. Der Entscheid über die Verweigerung der Streitverkündung stellt einen Teilentscheid nach Art. 91 lit. b BGG dar (E. 1.1). Die unrichtige Bezeichnung eines Rechtsmittels schadet dem Beschwerdeführer nicht, sofern die Prozessvoraussetzungen desjenigen Rechtsmittels, das hätte eingereicht werden müssen, erfüllt sind und es möglich ist, das Rechtsmittel als Ganzes umzuwandeln (E. 1.2). Der Beschwerdeführer darf sich nicht darauf beschränken, die Aufhebung des angefochtenen Entscheids zu beantragen, sondern muss grundsätzlich auch Anträge in der Sache stellen, es sei denn, das Bundesgericht wäre im Fall der Gutheissung der Beschwerde nicht in der Lage, in der Sache selbst zu entscheiden (E. 1.3).

134 III 420 (4A_76/2008) from May 30, 2008
Regeste: Übereinkommen über das auf Strassenverkehrsunfälle anzuwendende Recht; IPRG; Regress des Unfallversicherers der Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer des Schädigers. Anwendbarkeit des IPRG auf den vorliegenden Fall (E. 2). Aus Art. 9 des Übereinkommens über das auf Strassenverkehrsunfälle anzuwendende Recht lässt sich mit Bezug auf die Position des Versicherers nichts ableiten; für das Rückgriffsrecht ist Art. 144 IPRG massgebend (E. 3).

135 I 265 (1D_8/2008) from July 7, 2009
Regeste: Art. 7-9, 29 und 35 BV, Art. 92 und 115 BGG; Zuständigkeit zur Beurteilung von Einbürgerungsgesuchen, die von der kommunalen Bürgerversammlung zweimal ohne hinreichende Begründung abgewiesen wurden. Anfechtung eines Vor- oder Zwischenentscheids über die Zuständigkeit zur Einbürgerung (E. 1.2). Beschwerdeberechtigung der nicht eingebürgerten Gesuchsteller (E. 1.3). Anwendbares Recht (E. 2). Regelung des Einbürgerungsverfahrens im kan tonalen Recht (E. 3.1 und 3.2). Der im Beschwerdeverfahren zulässige Antrag auf Beurteilung der Einbürgerungsgesuche durch die Beschwerdeinstanz ist keine Angelegenheit der Staatsaufsicht (E. 3.4). Bindung staatlicher Organe an die Grundrechte (E. 4.2). Tragweite der Ansprüche auf Begründung und auf Beurteilung innert angemessener Frist im Einbürgerungsverfahren (E. 4.3-4.5).

135 II 138 (1C_271/2008) from Jan. 8, 2009
Regeste: Art. 16a Abs. 1 lit. a und Abs. 3, Art. 16b Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a SVG; Verstoss gegen das Strassenverkehrsgesetz, Abgrenzung der leichten von der mittelschweren Widerhandlung, Verwarnung, Führerausweisentzug. Die Annahme einer leichten Widerhandlung, bei der eine Verwarnung möglich ist, setzt voraus, dass der Lenker eine geringe Gefahr für die Sicherheit anderer hervorgerufen hat und ihn ein leichtes Verschulden trifft. Beide Elemente müssen kumulativ gegeben sein. Fall eines Lastwagenfahrers, der mangels genügender Aufmerksamkeit in einen vor ihm fahrenden Personenwagen geprallt ist. Leichte Widerhandlung verneint, da der Lastwagenfahrer keine geringe Gefahr geschaffen hat. Entzug des Führerausweises für die Dauer eines Monats (E. 2).

135 II 334 (1C_130/2009) from Sept. 1, 2009
Regeste: Art. 16 Abs. 3 SVG, Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK; keine Unterschreitung der Mindestdauer des Führerausweisentzugs wegen Verletzung des Anspruchs auf Beurteilung innert angemessener Frist. Die Mindestdauer des Führerausweisentzugs darf auch bei Verletzung des Anspruchs auf Beurteilung innert angemessener Frist nicht unterschritten werden (E. 2.2). Frage offengelassen, ob im Falle einer schweren Verletzung des Anspruchs auf Beurteilung innert angemessener Frist, der nicht in anderer Weise Rechnung getragen werden kann, ausnahmsweise gänzlich auf eine Massnahme verzichtet werden darf (E. 2.3). Feststellung im Dispositiv des bundesgerichtlichen Urteils, dass der Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist verletzt worden ist (E. 3).

135 III 31 (5A_277/2008) from Oct. 21, 2008
Regeste: Art. 174 Abs. 2 Ziff. 2 i.V.m. Art. 194 Abs. 1 SchKG; Konkurseröffnung ohne vorgängige Betreibung; Aufhebung der Konkurseröffnung durch Hinterlegung des geschuldeten Betrages beim oberen Gericht zuhanden des Gläubigers. Der Schuldner kann bei der Hinterlegung gemäss Art. 174 Abs. 2 Ziff. 2 SchKG die Aushändigung des hinterlegten Forderungsbetrages an den Gläubiger ausnahmsweise vom Ausgang eines weiteren Prozesses abhängig machen. Ein berechtigtes Interesse zu diesem Vorgehen hat der Schuldner, über den der Konkurs ohne vorgängige Betreibung eröffnet worden ist, wenn die zur Konkurseröffnung Anlass gebende Forderung strittig bzw. der Bestand dieser Forderung nie in einem ordentlichen Verfahren überprüft worden ist (E. 2.2.5). Der Schuldner darf jedoch die Aushändigung des hinterlegten Betrages an den Gläubiger nicht zusätzlich von seiner Zustimmung abhängig machen (E. 2.2.6).

135 III 253 (4A_519/2008) from Feb. 6, 2009
Regeste: Art. 273 Abs. 5 und Art. 274f Abs. 1 OR; Entscheidungsbefugnis der Schlichtungsbehörde in Mietsachen; Rechtslage, wenn eine der Parteien den Richter anruft. Ruft mindestens eine der Parteien des Mietvertrages rechtmässig den Richter an, fällt der Entscheid der Schlichtungsbehörde dahin, so dass die andere Partei in den Schranken des anwendbaren Verfahrensrechts grundsätzlich frei ist, materielle Rechtsbegehren zu stellen und eine Widerklage zu erheben (E. 2).

135 III 397 (4A_14/2009) from April 2, 2009
Regeste: Art. 74 Abs. 2 lit. a BGG; Art. 45 Abs. 1 OR; Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung; Bestattungskosten. Eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung liegt vor, wenn diese zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit führt und daher dringend einer Klärung durch das Bundesgericht bedarf (E. 1). Wer den Tod einer Person zu verantworten und die Bestattungskosten zu ersetzen hat (Art. 45 Abs. 1 OR), kann nicht als Umstand, für den der Geschädigte einstehen muss (Art. 44 Abs. 1 OR), geltend machen, dass der Tod in nächster Zeit aus einem anderen Grund ohnehin eingetreten wäre, namentlich aufgrund des hohen Alters des Opfers (E. 2).

135 III 496 (5A_32/2008) from Jan. 29, 2009
Regeste: Art. 731, 968 und 971 ZGB; Art. 48 SchlT ZGB; Art. 25 Abs. 4 und Art. 35 GBV; Eintragung einer Grunddienstbarkeit. Bestimmungen über die Eintragung von Grunddienstbarkeiten (E. 4.1). Die Praxis des Kantons Freiburg, wonach das herrschende und das dienende Grundstück anhand von "Vermutungen" bestimmt werden (vgl. E. 3.1 für die Angabe "Weg gemäss Plan"), ist bundesrechtswidrig (E. 4.2.1).

135 IV 87 (6B_538/2008) from Jan. 7, 2009
Regeste: a Verwertung entfernter Strafregistereinträge; Art. 369 Abs. 7 StGB. Verurteilungen, die aus dem Strafregister entfernt wurden, dürfen in einem neuen Strafverfahren bei der Strafzumessung und beim Entscheid über den Strafaufschub nicht mehr verwertet werden. Bei einer neuen Begutachtung können die einer entfernten Verurteilung zugrunde liegenden Taten jedoch berücksichtigt werden (E. 2).

135 IV 212 (1B_217/2009) from Sept. 17, 2009
Regeste: Art. 14 EAUe, Art. 38 Abs. 2 IRSG; Spezialitätsprinzip, Schonfrist. Eine an die Schweiz ausgelieferte Person muss die Vollstreckung von Strafurteilen, für welche die Auslieferung nicht bewilligt wurde, nicht über sich ergehen lassen, ohne vorher über die Konsequenzen des Ablaufs der Schonfrist informiert worden zu sein (E. 2 und 3).

135 V 13 (9C_476/2008) from Nov. 21, 2008
Regeste: Art. 23 lit. a und Art. 26 Abs. 1, Art. 30c Abs. 1 und 2 BVG bzw. Art. 331e Abs. 1 und 2 OR; Art. 30d Abs. 3 lit. b BVG; Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 3 Abs. 2 und 3 FZG; Eintritt des Vorsorgefalles Invalidität, Zulässigkeit der Ausrichtung und der Rückerstattung eines Vorbezuges zur Förderung des Wohneigentums und einer Austrittsleistung. Bis zum Eintritt des Vorsorgefalles Invalidität (welcher zeitlich übereinstimmt mit der Entstehung des Anspruchs auf Invalidenleistungen [E. 2.6]) ist ein Vorbezug zur Förderung des Wohneigentums zulässig (E. 2.1-2.8). Eine Rückzahlung des Vorbezuges nach Eintritt des Vorsorgefalles Invalidität ist ausgeschlossen (E. 2.9). Rechtmässig erfolgt ist eine Austrittsleistung auch dann, wenn sich im Nachhinein ergibt, dass diese nicht hätte überwiesen werden dürfen, weil der Vorsorgefall Invalidität bereits vorher eingetreten war (E. 3.1-3.5). Eine Rückerstattung der Austrittsleistung ist auch nach Eintritt des Vorsorgefalles Invalidität zulässig (E. 3.6).

135 V 65 (9C_915/2008) from Feb. 13, 2009
Regeste: Art. 50 ATSG; Art. 52 AHVG; Zulässigkeit eines Vergleichs in Beschwerdeverfahren um Schadenersatzforderungen; Anforderungen an die Begründung des Abschreibungsbeschlusses. Auch unter der Herrschaft des ATSG ist für Schadenersatzforderungen nach Art. 52 AHVG im gerichtlichen Beschwerdeverfahren ein Vergleich zulässig (E. 1). Der Beschluss, mit welchem ein Gericht das Verfahren infolge eines vor ihm geschlossenen Vergleichs abschreibt, muss zumindest eine summarische Begründung enthalten, welche darlegt, dass und inwiefern der Vergleich mit Sachverhalt und Gesetz übereinstimmt (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 2.1-2.6).

135 V 124 (9C_781/2008) from March 25, 2009
Regeste: Art. 89 Abs. 1 und 2, Art. 56 Abs. 1 und 2 sowie Art. 32 Abs. 1 KVG; Art. 116 und 139 OR; Art. 46 Abs. 1 und Art. 83 Abs. 2 SchKG; sachliche und örtliche Zuständigkeit des Schiedsgerichts zur Beurteilung der Aberkennungsklage eines Leistungserbringers. Ein einzelrichterlicher Nichteintretensentscheid mangels örtlicher oder sachlicher Zuständigkeit ist im Verfahren nach Art. 89 KVG unzulässig (E. 3). Das Schiedsgericht nach Art. 89 KVG ist sachlich zuständig zur Beurteilung der Aberkennungsklage eines Leistungserbringers betreffend eine vom Krankenversicherer auf dem Betreibungsweg geltend gemachte Forderung gestützt auf eine Vereinbarung im Zusammenhang mit einer behaupteten Verletzung des Gebots der wirtschaftlichen Behandlung (Art. 56 Abs. 1 und 2 sowie Art. 32 Abs. 1 KVG), auch wenn die Vereinbarung alle Merkmale einer Neuerung im Sinne von Art. 116 OR aufweist (E. 4.3.1). Der Gerichtsstand nach Art. 89 Abs. 2 KVG (Kanton, in welchem die ständige Einrichtung des Leistungserbringers liegt) geht dem Gerichtsstand des Betreibungsortes nach Art. 83 Abs. 2 SchKG vor (E. 4.3.2). Fristwahrung durch Klage beim örtlich unzuständigen Gericht (Art. 139 OR analog; E. 5).

135 V 324 (9C_1051/2008, 9C_10/2009) from Sept. 3, 2009
Regeste: Art. 30c Abs. 6 BVG; Art. 22 und 25a FZG; Art. 122 ZGB; Berücksichtigung des Vorbezugs im Rahmen der Teilung der Austrittsleistungen bei Scheidung. Hat der geschiedene Ehegatte als Schuldner der Ausgleichsforderung im Sinne von Art. 122 ZGB einen Vorbezug getätigt und reicht sein Guthaben bei der Vorsorge- oder Freizügigkeitseinrichtung nicht mehr aus, um die Ausgleichsforderung zu bedienen, so kann die Vorsorgeeinrichtung nur zur Übertragung der bei ihr noch vorhandenen Mittel verpflichtet werden. Die Differenz ist durch den geschiedenen Ehegatten als Schuldner zu begleichen (E. 5.2).

135 V 361 (9C_572/2008) from July 17, 2009
Regeste: Art. 10 Abs. 1 und 3 AHVG; Art. 28 Abs. 4 AHVV; Festsetzung der Beiträge nichterwerbstätiger Personen. Die Beitragsfestsetzung gemäss Art. 28 Abs. 4 AHVV auch nach rechtskräftiger gerichtlicher Ehetrennung (Art. 117 f. ZGB) ist gesetzes- und verfassungskonform (E. 4 und 5).

135 V 436 (9C_691/2009) from Nov. 24, 2009
Regeste: a Art. 30c Abs. 6 und Art. 30d Abs. 5 BVG; Art. 331e Abs. 6 und 8 OR; Art. 22 FZG; Art. 122 ZGB. Ein während der Ehe realisierter Verlust auf dem Vorbezug ist bei der Ermittlung der Austrittsleistung nicht zu berücksichtigen (E. 3).

136 I 80 (1C_444/2009, 1C_445/2009, 1C_482/2009) from Jan. 14, 2010
Regeste: Art. 30 Abs. 3 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II; Art. 17 KV/ZH; Art. 86 Abs. 2, Art. 90 und 92 BGG; Strafuntersuchung, Anspruch auf Einsicht in eine rechtskräftige Einstellungsverfügung, letztinstanzliche kantonale Zuständigkeit. Die Beschwerde gegen die Verweigerung der Einsicht in die rechtskräftige Einstellungsverfügung unterliegt der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (E. 1.1 und 2.1). Anfechtbarkeit des kantonal letztinstanzlichen Entscheids über die Zuständigkeit (E. 1.2). Rechtliche Grundlagen des Informationsanspruchs (E. 2.2). Letzte Rechtsmittelinstanz im Kanton Zürich ist das Verwaltungsgericht (E. 2.3). Nichteintreten auf die Beschwerde gegen den Entscheid der Oberstaatsanwaltschaft, da diese Behörde kein oberes kantonales Gericht ist (E. 3).

136 II 23 (2C_909/2008) from Nov. 2, 2009
Regeste: Art. 112 DBG; Art. 105bis Abs. 2 BStP; Art. 28 Abs. 1 lit. a SGG; Art. 31 ff. VGG; Rechtsmittel gegen einen Entscheid der Bundesanwaltschaft, welche über ein Amtshilfegesuch der Eidgenössischen Steuerverwaltung befunden hat. Der Entscheid der Bundesanwaltschaft über ein Gesuch um Einsicht in Akten eines Strafverfahrens, das die Eidgenössische Steuerverwaltung gestützt auf Art. 112 DBG eingereicht hat, kann nicht Gegenstand einer Beschwerde beim Bundesstrafgericht sein (E. 3). Der Entscheid kann hingegen mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden (E. 4).

136 II 214 (1C_344/2007) from March 12, 2010
Regeste: Art. 24 RPG, Art. 2 f., 7 f. und 12f NHG; Restaurant auf dem Gipfelplateau des Aroser Weisshorns. Standortgebundenheit von Bergrestaurants (E. 2). Erteilung einer Ausnahmebewilligung als Bundesaufgabe; Pflicht zur Prüfung von Alternativen unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Landschaft (E. 3). ENHK-Begutachtung wichtiger Fälle, wenn kein Objekt von nationaler Bedeutung betroffen ist (E. 4). Funktion und Tragweite des ENHK-Gutachtens (E. 5). Stellungnahme der ENHK zum Vorhaben und Beurteilung durch das Bundesgericht (E. 6). Anordnung zusätzlicher Auflagen zum Bauvorhaben und Kostenfolgen des bundesgerichtlichen Verfahrens (E. 7).

136 II 337 (2C_802/2009) from April 19, 2010
Regeste: Art. 85 BV; Art. 7 und 8 SVAG; Art. 14 SVAV (Fassung vom 12. September 2007); Erhebung der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) gestützt auf den vom Bundesrat per 1. Januar 2008 erhöhten Abgabetarif. Rechtliche Grundlagen für die Erhebung der LSVA in Verfassung (E. 2.1), Gesetz (E. 2.2) und Verordnung (E. 2.3). Vereinbarkeit der streitigen Tariferhöhung (E. 3) mit dem Landverkehrsabkommen (E. 4.1); Verhältnis zwischen der Kostendeckungsvorgabe gemäss Art. 7 SVAG und der Delegationsnorm von Art. 8 SVAG (E. 4.2). Zulässige Mitberücksichtigung der vom Schwerverkehr bei den übrigen Verkehrsteilnehmern verursachten Stauzeitkosten als externe Kosten im Sinne der gesetzlichen Konzeption der LSVA (E. 5). Nicht zu beanstandende Berechnung der Kosten zulasten der Allgemeinheit bezüglich der Faktoren Klimakosten (E. 6.3) und Unfallkosten (E. 6.4) sowie des externen Nutzens des Schwerverkehrs (E. 6.5).

136 II 457 (2C_61/2010, 2C_98/2010) from Aug. 26, 2010
Regeste: Art. 71 Abs. 1 VwVG, Art. 10, 16, 49a und 50 TG, Art. 8 Abs. 1 BV; Aufsicht des Bundes im Zusammenhang mit der Erhebung eines Kontrollzuschlages für sog. Graufahren (Fahren mit einem lediglich in der zweiten Klasse gültigen Fahrschein in der ersten Klasse) bei der Benutzung eines öffentlichen Verkehrsbetriebes. Rechtsnatur der Aufsichtstätigkeit im Bereich der Personentransporte (E. 2.2 und 3). Streitgegenstand vor dem Bundesverwaltungsgericht (E. 4). Rechtsnatur des Kontrollzuschlages und Befugnisse der Aufsichtsbehörde im Zusammenhang mit der Erhebung eines solchen Zuschlages im Einzelfall (E. 6). Zwar sind gewisse Schematisierungen und Pauschalierungen bei der Erhebung eines Kontrollzuschlages zulässig; die gänzlich undifferenzierte Behandlung von Grau- und Schwarzfahrern (Fahren ohne Fahrschein), soweit keine Hinweise auf absichtliches Verhalten bzw. Missbrauch bestehen, ist aber rechtsungleich und verstösst gegen Bundesrecht (E. 7).

136 III 605 (4A_234/2010) from Oct. 29, 2010
Regeste: Art. 190 Abs. 2 lit. a IPRG; internationale Schiedsgerichtsbarkeit; Zusammensetzung des Schiedsgerichts; Ablehnung. Die Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Mitglieder eines Schiedsgerichts gelten sowohl für die von den Parteien bezeichneten Schiedsrichter als auch für den Präsidenten des Schiedsgerichts (E. 3.2 und 3.3.1). Das Bundesgericht überprüft die Beachtung dieser Anforderungen, selbst wenn der Schiedsentscheid einstimmig gefällt worden ist (E. 3.3.2). Es trägt dabei den Besonderheiten der Sportschiedsgerichtsbarkeit Rechnung (E. 3.3.3). Falls sich die auf Art. 190 Abs. 2 lit. a IPRG gestützte Rüge als begründet erweist, kann das Bundesgericht selbst über die Ablehnung des betreffenden Schiedsrichters befinden (E. 3.3.4). Beurteilung der Umstände des konkreten Falls (E. 3.4).

136 IV 20 (1C_381/2009) from Oct. 13, 2009
Regeste: a Art. 93 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 sowie Art. 84 BGG; Auslieferungshaft, anfechtbarer Entscheid, besonders bedeutender Fall. Ein Entscheid über die Auslieferungshaft stellt einen anfechtbaren Zwischenentscheid dar (E. 1.1). Auch insoweit muss die Eintretensvoraussetzung des besonders bedeutenden Falles gegeben sein. Diese wird bejaht, da sich eine rechtliche Grundsatzfrage stellt (E. 1.2).

136 IV 70 (1B_102/2010) from April 28, 2010
Regeste: Art. 58 Abs. 1 i.V.m. Art. 59 StGB, § 75 Abs. 5 StPO/AG; vorzeitiger Antritt einer stationären therapeutischen Massnahme. Der vorzeitige Massnahmeantritt stellt für das Sachgericht eine Entscheidungshilfe dar. Es ist nicht auf die Würdigung des psychiatrischen Gutachtens beschränkt, sondern kann Erfahrungen, die im vorzeitigen Massnahmevollzug gesammelt werden konnten, berücksichtigen. Der vorzeitige Massnahmeantritt ermöglicht überdies, die Zeit der Untersuchung sinnvoll zu nutzen. Ausserdem lässt sich mit ihm vermeiden, dass die Therapiebereitschaft des Beschuldigten durch eine längere Haft zerstört wird. Dem hat die zuständige Behörde Rechnung zu tragen. Sie darf den vorzeitigen Massnahmeantritt nicht allein mit der Begründung ablehnen, dieser sei nicht dringlich (E. 2).

136 V 131 (9C_848/2009) from Jan. 6, 2010
Regeste: Art. 90 und 98 BGG; Art. 26 Abs. 4 BVG; Anfechtbarkeit eines Entscheides über die Vorleistungspflicht; Regressanspruch der vorleistungspflichtigen Vorsorgeeinrichtung. Der Entscheid über die Vorleistungspflicht einer Vorsorgeeinrichtung ist ein Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG. Er ist nicht ein Entscheid über eine vorsorgliche Massnahme im Sinne von Art. 98 BGG (E. 1.1 und 1.3.1). Die Vorsorgeeinrichtung, welche Vorleistungen erbracht hat, kann unmittelbar von Gesetzes wegen im Umfang der geleisteten Zahlungen einen Regressanspruch gegen die leistungspflichtige Vorsorgeeinrichtung geltend machen (E. 3.6).

136 V 295 (9C_1042/2009) from Sept. 7, 2010
Regeste: Abschnitt A Nr. 1 Bst. o Ziff. 3b/aa Anhang II FZA; Art. 13 Abs. 2 Bst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71; Art. 3 Abs. 3 lit. a KVG; Art. 1 Abs. 2 lit. d und Art. 2 Abs. 6 KVV; Versicherungspflicht und Wahlrecht. Ist nicht bewiesen, dass der Rechtsakt, welcher, mittels Fristwiederherstellung, die Möglichkeit der gesuchsweisen Befreiung von der schweizerischen Versicherungspflicht und Unterstellung unter das italienische Gesundheitssystem einräumt, zugestellt (oder zumindest in einem amtlichen Publikationsorgan veröffentlicht) wurde, kann der Beschwerdeführer (italienischer Grenzgänger) dieses Wahlrecht im Moment der behördlich verfügten Unterstellung unter das KVG rechtsgültig ausüben (E. 5.8-5.10). Voraussetzungen und Modalitäten der Ausübung des Wahlrechts (E. 2.3.3 und 6.1).

137 I 257 (2C_740/2009) from July 4, 2011
Regeste: Art. 49 BV; Art. 2, 30, 31b, 31c, 32 und 32a USG; Art. 3 TVA; Abfallreglement vom 2. April 2009 der Gemeinde Romanel-sur-Lausanne; Finanzierung der Entsorgung der Siedlungsabfälle; Verursacherprinzip, Kausalgebühr, Lenkungseffekt. Das Verursacherprinzip gemäss Art. 32a USG schliesst eine Finanzierung der Entsorgung der Siedlungsabfälle über Steuern aus und verlangt eine Finanzierung mittels Lenkungskausalabgaben. Die Körperschaften können von diesem Finanzierungsmodus abweichen, wenn sie konkret dartun, dass die strikte Anwendung des Kausalitätsprinzips eine Gefährdung der umweltverträglichen Entsorgung der Siedlungsabfälle zur Folge hätte (E. 4). Im vorliegenden Fall ist Art. 11 Abs. 6 des Reglements vom 2. April 2009 nicht notwendigerweise bundesrechtswidrig, da seine Gültigkeit vom Verhältnis der Kosten der Entsorgung der Siedlungsabfälle im Vergleich zu den übrigen in der Gemeinderechnung ausgewiesenen Kosten abhängt wie auch von der Umsetzung von allfälligen Ausnahmen gestützt auf Art. 32a Abs. 2 USG (E. 5). Hingegen ist Art. 12 des Reglements vom 2. April 2009 bundesrechtswidrig, weil er eine Pauschalgebühr unabhängig von der angefallenen Abfallmenge vorsieht (E. 6).

137 I 284 (2C_711/2010) from April 1, 2011
Regeste: Art. 8 EMRK; Art. 13 Abs. 1 BV; Art. 44 AuG; Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG; Familiennachzug durch Ausländer mit Aufenthaltsbewilligung. Kein Anspruch auf Nachzug von Stiefkindern durch Schweizer Bürger gestützt auf Art. 42 Abs. 1 AuG. Auch kein Anspruch im Sinne von Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG für den ausländischen Ehepartner mit einer Aufenthaltsbewilligung bei einem nach Art. 44 AuG begehrten Nachzug seiner Kinder. Allerdings grundsätzlicher Anspruch gestützt auf Art. 8 EMRK und Art. 13 Abs. 1 BV (E. 1.2 und 1.3). Nachzug von Kindern durch einen Ausländer, der über eine Aufenthaltsbewilligung verfügt und einen Anspruch auf Verlängerung derselben hat. Änderung bzw. Anpassung der Praxis im Zusammenhang mit neuerlichen Entwicklungen auf sozialer und rechtlicher Ebene (E. 2).

137 II 199 (2C_343/2010, 2C_344/2010) from April 11, 2011
Regeste: Art. 2, 3, 7, 30, 39 und 49a KG, Art. 11 aFMG, Art. 25 VwVG; kartellrechtliche Sanktion wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung bei den Geschäftsbedingungen der Übernahme von Telefongesprächen anderer Anbieterinnen in das eigene Mobilfunknetz (so genannte Terminierung). Wird eine kartellrechtliche Sanktion wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung als Folge des Erzwingens unangemessener Preise oder Geschäftsbedingungen geprüft, kommt dem Gesichtspunkt des Erzwingens selbständige Bedeutung zu; ein solches ergibt sich nicht bereits allein aus der marktbeherrschenden Stellung. Bei der Beurteilung des Marktmissbrauchs ist auch die fernmelderechtliche Gesetzesordnung zu berücksichtigen. Standen den Konkurrentinnen die Möglichkeiten der Interkonnektion offen, insbesondere um die fraglichen Terminierungspreise behördlich festsetzen zu lassen, schliesst dies aus, dass die Preise und Geschäftsbedingungen der Konkurrenz aufgezwungen wurden (E. 3-5). Der Gesichtspunkt der Marktbeherrschung bildet ein Tatbestandsmerkmal und damit Voraussetzung der kartellrechtlichen Sanktion. Ohne entsprechendes schutzwürdiges Interesse ist es ausgeschlossen, darüber separat eine förmliche Feststellung zu treffen (E. 6).

137 II 313 (2C_783/2010) from March 11, 2011
Regeste: Art. 83 lit. f BGG; Art. 37 VGG i.V.m. Art. 48 Abs. 1 lit. c VwVG; Art. 16 und 29 BöB; Art. 13 Abs. 1 lit. c VöB; öffentliches Beschaffungswesen des Bundes; Legitimation zur Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht gegen Freihandvergaben. Vorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne von Art. 83 lit. f Ziff. 2 BGG bejaht (E. 1.1). Gegen den freihändigen Zuschlag ist die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht zulässig, soweit der Zuschlag im Anwendungsbereich des BöB erfolgte (E. 2.3). Das Bundesverwaltungsgericht hat die Legitimation der Beschwerdeführerinnen zu Recht verneint: Wird geltend gemacht, das Freihandverfahren sei unzulässigerweise durchgeführt worden, steht die Beschwerdelegitimation nur den potenziellen Anbietern des von der Vergabestelle definierten Beschaffungsgegenstandes zu (E. 3.3 und 3.4). Indem das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen des Eintretens prüfte, ob das Produkt, welches die Beschwerdeführerinnen anbieten, dem von der Vergabestelle umschriebenen Beschaffungsgegenstand entspreche und ob die anbieterbezogene Einschränkung des Beschaffungsgegenstandes unzulässig sei, hat es keine unzulässige Umkehr der Beweislast vorgenommen (E. 3.5). Die Beschwerdeführerinnen haben weder konkret ein Alternativprodukt angeboten noch dessen funktionale und wirtschaftliche Gleichwertigkeit dargelegt (E. 3.6).

137 II 371 (2C_719/2010) from May 27, 2011
Regeste: Art. 20 BEHG und Art. 46a aBEHV-EBK; Pflicht zur Offenlegung von Beteiligungen und Ausnahmen hievon; Übergangsrecht. Anwendbares Recht: Ob die Beschwerdeführer ihre Beteiligungen an der E. AG im Jahr 2008 melden mussten, beurteilt sich im Lichte von Art. 46a aBEHV-EBK (E. 4). Art. 20 Abs. 5 BEHG stellt eine genügende formell-gesetzliche Grundlage dar, gestützt auf welche die Aufsichtsbehörde eine Übergangsbestimmung betreffend die Meldepflicht in Art. 46a aBEHV-EBK erlassen konnte (E. 5). Die den Beschwerdeführern auferlegte Meldepflicht stellt keinen schweren Eingriff in ihre Privatsphäre dar; es handelt sich dabei um eine übergangsrechtliche Massnahme, welche im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist (E. 6).

137 II 431 (2C_127/2010) from July 15, 2011
Regeste: Art. 36 Abs. 1 und Art. 185 Abs. 3 BV; Art. 25 f. BankG; Art. 10 VwVG und Art. 11 des Organisationsreglements FINMA 2008; Zulässigkeit der Herausgabe von Bankkundendaten der UBS an die amerikanischen Behörden durch die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA) im Februar 2009. Inhalt und Stellenwert des Bankkundengeheimnisses im schweizerischen Recht (E. 2.1). Bankenrechtliche Schutzmassnahmen müssen das Bankkundengeheimnis wahren und dürfen nicht dazu dienen, die Kompetenzen der Rechtshilfe- oder Steuerbehörden bzw. die von diesen zu prüfenden, für die amtshilfeweise Aufhebung des Bankkundengeheimnisses erforderlichen Voraussetzungen zu umgehen (E. 2.2 und 2.3). Bejahung der Zulässigkeit der Herausgabe der Kundendaten gestützt auf die polizeiliche Generalklausel (E. 3 und 4). Feststellung des Anscheins einer Befangenheit des damaligen Präsidenten der FINMA (E. 5).

137 III 193 (5A_882/2010) from March 16, 2011
Regeste: a Art. 72 Abs. 2 lit. b, Art. 74 Abs. 1 lit. b, Art. 95 und 98 BGG; Rechtsnatur eines Entscheides über eine Schuldneranweisung gemäss Art. 291 ZGB. Die Schuldneranweisung gemäss Art. 291 ZGB stellt eine privilegierte Zwangsvollstreckungsmassnahme sui generis dar, die in engem Zusammenhang mit dem Zivilrecht steht und vermögensrechtlicher Natur ist (E. 1.1). Das Urteil über eine solche Schuldneranweisung ist grundsätzlich ein materielles Endurteil und keine vorsorgliche Massnahme (E. 1.2).

137 III 580 (4A_314/2011) from Nov. 3, 2011
Regeste: Art. 74 Abs. 2 lit. a BGG, Art. 269b und 270c OR; Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, Mietzinserhöhung, indexierte Mietzinse. Begriff der Streitigkeit, die eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (Zusammenfassung der Rechtsprechung; E. 1). Wenn ein Mietvertrag, der eine Indexklausel enthält, stillschweigend für eine Mindestdauer von fünf Jahren verlängert wird, ist die nächste Mietzinserhöhung ausgehend vom Stand des offiziellen schweizerischen Landesindexes der Konsumentenpreise im Zeitpunkt der letzten Mietzinsfestsetzung zu berechnen, ohne Rücksicht auf die seither erfolgte stillschweigende Verlängerung (E. 2).

137 V 314 (9C_310/2011) from July 18, 2011
Regeste: Art. 61 lit. d ATSG; Art. 28 IVG; reformatio in peius bei Rückweisungsentscheiden in IV-Rentenstreitigkeiten. Der Beschwerde führenden Partei ist auch dann Gelegenheit zum Rückzug der Beschwerde zu geben, wenn eine rentenzusprechende (z.B. Viertelsrente) Verfügung aufgehoben und die Sache zu weiterer Abklärung und neuer Entscheidung an die IV-Stelle zurückgewiesen werden soll (Änderung der Rechtsprechung; E. 3.2).

138 I 6 (1C_289/2009) from Nov. 2, 2011
Regeste: Recht auf Achtung des Privatlebens, Einsicht in Staatsschutzakten, indirektes Auskunftsrecht; Art. 8 und 13 EMRK, Art. 82 lit. a und Art. 83 lit. a BGG. Die Mitteilung des Abteilungspräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts im Sinne von Art. 18 des Bundesgesetzes über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS) kann im vorliegenden Zusammenhang nach Art. 82 lit. a BGG angefochten werden (E. 1.2). In Anbetracht der gerichtlichen Überprüfung durch den EGMR kann im Bereich der inneren und äusseren Sicherheit gestützt auf Art. 83 lit. a BGG auf die Beschwerde eingetreten werden (E. 1.3.2). Hinweise zur Beschaffung und Bearbeitung von Informationen im Bereich des Staatsschutzes und zum indirekten Auskunftsrecht nach BWIS (E. 3). Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne von Art. 8 Ziff. 1 EMRK (E. 4.1); Anforderungen an Eingriffe nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK in formeller und materieller Hinsicht (E. 4.2 und 4.3). Das BWIS stellt eine hinreichende Grundlage für die Beschaffung und Bearbeitung von Informationen und für den Aufschub der Einsicht in der Form des indirekten Auskunftsrechts dar (E. 5.2); es genügt den Bestimmtheitsanforderungen (E. 5.3), enthält Mechanismen zum Schutz der Grundrechte (E. 5.4), dient zulässigen Zwecken (E. 5.5) und erweist sich als verhältnismässig (E. 5.6). Recht auf wirksame Beschwerde im Sinne von Art. 13 EMRK (E. 6.1); Zulässigkeit von geheimer Überwachung und geheimer Aufbewahrung von Personendaten, Anforderungen an den Aufschub der Auskunft (E. 6.2). Die Ausgestaltung des indirekten Auskunftsrechts, die Beschränkung der Datenaufbewahrung und die parlamentarische Aufsicht stellen Mechanismen zum Schutz der Grundrechte dar (E. 7.1-7.3); Empfehlungen gegenüber den zuständigen Behörden im Rahmen der geheimen Überprüfung kommt verbindlicher Charakter zu (E. 7.4); Anforderungen an die Auskunftserteilung nach Dahinfallen der Geheimhaltungsinteressen (E. 7.5); gesamthaft hält die BWIS-Regelung vor Art. 13 EMRK stand; Rückweisung der Sache zu neuer Prüfung im Sinne der Erwägungen (E. 7.7).

138 II 346 (1C_230/2011) from May 31, 2012
Regeste: Datenschutzgesetz, Art. 28 ff. ZGB; Gewährleistung des Persönlichkeitsschutzes bei der Publikation von Personendaten in Google Street View. Zuständigkeit des EDÖB (E. 3). Begriff der Personendaten in Bezug auf die in Google Street View verwendeten Bilder (E. 6.5). Datenschutzvorschriften für die Bearbeitung von Personendaten (E. 7). Konkretisierung des in Art. 28 ZGB gewährleisteten Persönlichkeitsschutzes durch das Datenschutzrecht, Recht auf informationelle Selbstbestimmung und Recht am eigenen Bild (E. 8). Berücksichtigung allgemeiner datenschutzrechtlicher Grundsätze (E. 9). Interessenabwägung in Bezug auf die Frage, ob und inwieweit die Bearbeitungsmethoden insgesamt geeignet sind, die Persönlichkeit einer grossen Anzahl von Personen zu verletzen: Es wird in Kauf genommen, dass höchstens ca. 1 % der Bilder ungenügend anonymisiert ins Internet gelangen und darauf erkennbare Personen und Fahrzeugkennzeichen erst auf Anzeige der Betroffenen hin nachträglich manuell unkenntlich gemacht werden (E. 10.6 und 10.7). Pflicht zur effizienten, unbürokratischen und kostenlosen nachträglichen Anonymisierung (E. 10.6.3 und 14.4). Die vorgängige automatische Anonymisierung ist laufend dem Stand der Technik anzupassen (E. 10.6.5 und 14.1). Bei sensiblen Einrichtungen (Schulen, Spitälern, Altersheimen, Frauenhäusern, Gerichten und Gefängnissen etc.) ist vor der Aufschaltung im Internet die vollständige Anonymisierung von Personen und Kennzeichen vorzunehmen (E. 10.6.4 und 14.2). Bilder von Privatbereichen wie umfriedeten Höfen, Gärten usw., die dem Einblick eines gewöhnlichen Passanten verschlossen bleiben, dürfen ohne Zustimmung der Betroffenen grundsätzlich nicht veröffentlicht werden, soweit sie von einer Kamerahöhe von über 2 m aufgenommen wurden; Übergangsfrist von max. drei Jahren zur Entfernung bereits aufgeschalteter Bilder, die dieser Anforderung nicht entsprechen (E. 10.7 und 14.3). Pflicht, in den Medien generell über die Widerspruchsmöglichkeit und speziell über bevorstehende Aufnahmen und Aufschaltungen von Bildern zu informieren (E. 10.6.3, 11 und 14.4).

138 III 182 (5A_32/2011) from Feb. 16, 2012
Regeste: Rechtsöffnung in einer Mehrheit von Betreibungen auf Verwertung von Grundpfändern, welche für die gleiche Forderung haften; Aufteilung der Belastung (Art. 82 SchKG; Art. 798 und 816 Abs. 3 ZGB). Abgesehen vom hier nicht gegebenen Fall des Gesamtpfandes, wo jedes Grundstück für die gesamte Forderung haftet, beinhaltet die Verpfändung mehrerer Grundstücke für eine einzige Forderung, wenn nichts anderes vereinbart ist, eine verhältnismässige Aufteilung der Belastung auf die verschiedenen Grundstücke. Wird der Entscheid über die Aufteilung bereits im Stadium der Rechtsöffnung getroffen, so ist nur die Art der Aufteilung endgültig festgesetzt, jedoch nicht der betragsmässige Umfang der Sicherung. Verletzung von Art. 798 Abs. 3 ZGB durch einen kantonalen Entscheid, der sich nicht auf die verhältnismässige Aufteilung, sondern auf die Reihenfolge in einer Rahmenkreditvereinbarung stützt (E. 4).

138 IV 78 (1B_603/2011) from Feb. 3, 2012
Regeste: Art. 81 Abs. 1 BGG; Art. 3 Abs. 2 lit. c, Art. 101 f., 104 Abs. 1 lit. b, Art. 107 Abs. 1 lit. a, Art. 118 ff., 214 Abs. 4 und Art. 220 ff. StPO; Beschwerdeberechtigung der Privatklägerin, Akteneinsichtsrecht im Haftprüfungsverfahren. Die Privatklägerin ist befugt zu rügen, es sei ihr die Einsicht in die Akten des Haftprüfungsverfahrens verweigert worden (E. 1). Als Partei des Strafverfahrens hat die Geschädigte und Privatklägerin das Recht auf Einsicht in die Akten des Teil des Strafverfahrens bildenden Haftprüfungsverfahrens. Das Opfer wird grundsätzlich über die Aufhebung von Ersatzmassnahmen zur Untersuchungshaft informiert (E. 3).

138 IV 222 (1B_385/2012) from Oct. 4, 2012
Regeste: Art. 58 Abs. 2, Art. 59 Abs. 1 lit. a und Art. 380 StPO; Ausstandsgesuch gegen einen Polizeibeamten. Der Entscheid der Staatsanwaltschaft über das Ausstandsgesuch gegen einen (als Strafverfolgungsbehörde tätigen) Polizeibeamten ist endgültig und kann unmittelbar mit Beschwerde in Strafsachen angefochten werden (E. 1). Die betroffene Person muss grundsätzlich zum Ausstandsgesuch Stellung nehmen (E. 2).

138 IV 232 (1B_563/2012) from Nov. 6, 2012
Regeste: a Art. 197 Abs. 1 lit. c und Abs. 2, Art. 270 lit. b Ziff. 1 StPO; Überwachung der Telefonanschlüsse von Drittpersonen. Die Überwachung des Telefonanschlusses einer nicht beschuldigten Person kann statthaft sein, wenn hinreichend konkrete Anhaltspunkte bestehen, dass der Beschuldigte die fragliche Drittperson anruft und sich daraus Hinweise auf die Straftat oder den Aufenthalt des Beschuldigten ergeben. Die anordnende Behörde hat geeignete Anweisungen zu treffen, damit die mit der Ermittlung befassten Personen nicht Informationen erlangen, die mit dem Gegenstand der Untersuchung nicht im Zusammenhang stehen. Die Abhörung des Drittanschlusses ist abzubrechen, sobald der Anschluss, von dem aus der Beschuldigte die Gespräche führt, bekannt ist und selber überwacht werden kann (E. 2-8).

138 V 106 (8C_312/2010) from Dec. 15, 2011
Regeste: a Art. 82 ff., 90, 93 und 107 BGG; Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Erhebt eine im kantonalen (End-)Entscheid teilweise unterlegene Partei innerhalb der gesetzlichen Beschwerdefrist nicht selbst Beschwerde beim Bundesgericht, ist es ihr angesichts der im BGG nicht vorgesehenen Anschlussbeschwerde verwehrt, im Rahmen der Vernehmlassung zur fristgerecht erhobenen Beschwerde der Gegenpartei jene Anträge zu erneuern, bezüglich welcher sie vorinstanzlich unterlegen ist (E. 2.1). Anders verhält es sich indessen in Bezug auf einen nach Art. 93 BGG anfechtbaren kantonalen Rückweisungsentscheid, welcher beiden Parteien teilweise Recht gibt und anschliessend nur von einer Partei fristgerecht angefochten wird (E. 2.2 und 2.3).

138 V 475 (9C_562/2012) from Oct. 18, 2012
Regeste: Art. 28 Abs. 1 lit. b und Art. 29 Abs. 1 und 3 IVG; aArt. 29 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 Satz 1 sowie aArt. 48 Abs. 2 Satz 1 IVG (in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2007); Art. 8 Abs. 1 BV; Entstehung des Rentenanspruchs und Beginn der Rente (Übergangsrecht 5. IV-Revision). Das Rundschreiben des BSV Nr. 253 vom 12. Dezember 2007, wonach bei am 1. Januar 2008 noch laufender Wartezeit eine Anmeldung bis Ende 2008 genügt, um sofort danach in den Genuss von Rentenleistungen zu kommen, ist gesetzwidrig. Die Anmeldefrist kann - bei einer einheitlichen Regelung - anspruchswahrend maximal bis Ende Juni 2008 erstreckt werden (E. 3).

139 II 404 (2C_269/2013) from July 5, 2013
Regeste: Art. 43, 84a, 89 Abs. 1 und Art. 103 BGG; Art. 6 EMRK; Art. 26 DBA-USA 96; internationale Amtshilfe in Steuerfragen mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Verfahrensgrundsätze: Anwendbares Recht und Vorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (E. 1). Beschwerdelegitimation des Kontoinhabers und des wirtschaftlich Berechtigten (E. 2). Keine aufschiebende Wirkung der Beschwerde von Gesetzes wegen (E. 4). Keine Möglichkeit der nachträglichen Ergänzung der Beschwerdeschrift (E. 5). Die strafprozessualen Garantien sind auf das Verfahren der internationalen Amtshilfe in Steuerfragen nicht anwendbar (E. 6). Ein gerichtliches Urteil über die Verweigerung der Amtshilfe entfaltet nur eine eingeschränkte materielle Rechtskraft und hindert den ersuchenden Staat nicht, ein neues, verbessertes Gesuch in der gleichen Sache zu stellen (E. 8). Auf Rechtsmittel, die stellvertretend für einen Dritten eingereicht werden, ist nicht einzutreten (E. 11). Verfahren betreffend die internationale Amtshilfe in Steuerfragen sind Streitigkeiten mit Vermögensinteresse (E. 12). Gruppenanfragen: Auf ein auf das DBA-USA 96 gestütztes Amtshilfegesuch, welches die Namen der betroffenen Steuerpflichtigen nicht erwähnt, ist grundsätzlich einzutreten, sofern die Darstellung des Sachverhalts genügend detailliert ist, um einen Verdacht auf Betrugsdelikte und dergleichen zu ergeben und die Identifikation der gesuchten Personen zu ermöglichen (E. 7.2). Der nicht namentlich genannte Informationsinhaber muss mit einem für den ersuchten Staat zumutbaren Aufwand identifiziert werden können (E. 7.3). Betrugsdelikte und dergleichen: Die von den Vereinigten Staaten von Amerika erhobene Quellensteuer auf Zinsen und Dividenden aus amerikanischen Wertschriften fällt in den Anwendungsbereich des DBA-USA 96 (E. 9.2). Begriff der Betrugsdelikte und dergleichen gemäss Art. 26 DBA-USA 96 (E. 9.3-9.5). Die vom IRS beschriebene Vorgehensweise der betroffenen Steuerpflichtigen erfüllt die Anforderungen des Abgabe- und des Steuerbetrugs; sie war nicht nur darauf ausgerichtet, die normale Einkommenssteuer der an der Gesellschaft wirtschaftlich berechtigten Personen zu hinterziehen, sondern auch den vom IRS zur Absicherung dieser Einkommenssteuerpflicht eingerichteten Kontrollmechanismus zu hintergehen (E. 9.7 und 9.8); das dazu benutzte Formular hat Urkundencharakter (E. 9.9).

139 III 209 (4A_727/2012) from May 21, 2013
Regeste: Mietzinserhöhung wegen Mehrleistungen des Vermieters (Art. 269a lit. b OR; Art. 14 VMWG); Aufteilung der Kosten unter den Mietern. Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (E. 1.2). Mangels einer bundesrechtlichen Vorschrift entscheidet der Vermieter, auf welche Art die Kosten der Mehrleistungen unter den Mietern der Liegenschaft aufzuteilen sind; der Richter schreitet nur ein, wenn die gewählte Methode unhaltbar ist (E. 2).

139 III 305 (5A_372/2012) from April 18, 2013
Regeste: Art. 3 und 936 ZGB; Art. 100 IPRG. Klage gegen den Besitzer eines gestohlenen Gemäldes. Auf den Besitz anwendbares Recht (E. 3.1 und 4.1). Beurteilung des guten Glaubens des Erwerbers, insbesondere von ihm anzustellende Nachforschungen (E. 3-5).

139 III 404 (5A_66/2013) from Aug. 29, 2013
Regeste: Art. 738 ZGB; Ermittlung von Inhalt und Umfang eines Fuss- und Fahrwegrechts nach Massgabe des Erwerbsgrundes. Grundsätze für die Auslegung eines Dienstbarkeitsvertrags. Voraussetzungen, unter denen zur Bestimmung des Inhalts eines ungemessenen Fuss- und Fahrwegrechts öffentlich-rechtliche Vorschriften berücksichtigt werden dürfen (E. 7).

139 IV 1 (6B_584/2011) from Oct. 11, 2012
Regeste: a Art. 150bis StGB; Herstellen und Inverkehrbringen von Materialien zur unbefugten Entschlüsselung codierter Angebote. Der Betrieb eines Kartenfreigabesystems (cardsharing), das seinen Benutzern ermöglicht, Fernsehprogramme zu entschlüsseln, ohne mit dem Sendeunternehmen ein Abonnement abgeschlossen zu haben, fällt für sich gesehen nicht unter den Tatbestand von Art. 150bis StGB (E. 2).

139 V 21 (9C_585/2012) from Jan. 23, 2013
Regeste: Art. 15 FZG; Austrittsleistung; Kürzung des übergangsrechtlichen Zuschusses zum Altersguthaben bei Austritt innert einer Übergangsfrist. Wurde der übergangsrechtliche Zuschuss zum Altersguthaben (bei Wechsel vom Leistungs- zum Beitragsprimat) durch eine freiwillige Leistung der Arbeitgeberfirma finanziert und sieht das Reglement bei Austritt innert einer Übergangsfrist eine anteilsmässige Kürzung des Zuschusses vor, ohne zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Austritt zu unterscheiden, liegt, anders als bei einer Finanzierung aus freien Stiftungsmitteln (BGE 133 V 607), kein Verstoss gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz vor (E. 2). Verneint werden auch die Verletzung einer Auskunfts- oder Informationspflicht (E. 3.2) und der Eingriff in ein wohlerworbenes Recht (E. 3.3).

139 V 384 (8C_449/2012) from June 19, 2013
Regeste: Art. 8 Abs. 1 lit. b, Art. 11 und 11a AVIG; Art. 10a AVIV; Art. 31 Abs. 5 BPG; Art. 34 und 34a BPV; anrechenbarer Arbeitsausfall, wenn der Arbeitgeber eine Geldleistung ausrichtet, um bei Angestellten, welche ihre Funktion vor dem gesetzlich vorgesehenen Alter aufgeben, den aus dem Vorruhestand resultierenden Verlust wirtschaftlicher Vorteile auszugleichen. Diese Leistung stellt keine freiwillige Leistung des Arbeitgebers bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses im Sinne von Art. 11a AVIG dar (E. 5.3.1 und 5.3.2), sondern eine Entschädigung wegen vorzeitiger Auflösung des Arbeitsverhältnisses im Sinne von Art. 11 Abs. 3 AVIG (E. 5.4).

139 V 407 (9C_960/2012 und andere) from July 12, 2013
Regeste: Art. 53c und 53d BVG; Art. 27g Abs. 1bis BVV 2 (in der bis 31. Dezember 2011 geltenden Fassung); Gesamtliquidation einer patronalen Wohlfahrtsstiftung. Es ist nicht willkürlich, für den Stichtag der Liquidation auf den Zeitpunkt des Erlasses der Liquidationsverfügung oder aber auf jenen der Erfüllung der vom Stiftungsrat eingegangenen Verpflichtungen abzustellen; hingegen ist die Kenntnis des Kreises der Betroffenen ein sachfremdes Kriterium (E. 4.3). Der Grundsatz der Gleichbehandlung wird nicht verletzt, wenn die Bezüger einer Kapitalabfindung - im Gegensatz zu Aktivversicherten und Rentnern - im Verteilungsplan unberücksichtigt bleiben (E. 5.4). Bei der Liquidation einer patronalen Wohlfahrtsstiftung ist eine versicherungstechnische Bilanz entbehrlich (E. 6.2.3).

139 V 464 (8C_703/2012) from July 12, 2013
Regeste: Art. 15 UVG; Art. 22 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 3 UVV; versicherter Verdienst für die Bemessung des Taggeldes eines Temporärarbeitnehmers. Massgebender Lohn für das Taggeld bei einem Temporärarbeitnehmer, der kurz nach Antritt der Arbeitsstelle in einem Einsatzbetrieb verunfallt (E. 4). Es ist anhand der vor dem Unfall konkret ausgeübten Tätigkeit zu prüfen, ob die Merkmale von Art. 23 Abs. 3 UVV erfüllt sind (E. 4.3). Der effektiven Dauer der Beschäftigung kommt bei der Bemessung des versicherten Verdienstes für die Taggelder keine besondere Bedeutung zu (E. 4.4). Sind die Voraussetzungen von Art. 23 Abs. 3 UVV nicht erfüllt, ist der Taggeldberechnung in Anwendung von Art. 15 Abs. 2 UVG in Verbindung mit Art. 22 Abs. 3 UVV der letzte vor dem Unfall bezogene Lohn im konkreten Arbeitsverhältnis zugrunde zu legen (E. 4.5 und 4.6).

140 I 246 (6B_17/2014) from July 1, 2014
Regeste: Art. 3 EMRK; Art. 431 StPO; Verbot der Folter sowie von unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung; rechtswidrig angewandte Zwangsmassnahme, Wiedergutmachung. Die Festhaltung einer Person in einer fensterlosen und 24 Stunden auf 24 Stunden beleuchteten Zelle stellt, selbst für eine beschränkte Zeit von rund zehn Tagen, eine erniedrigende Behandlung in Verletzung von Art. 3 EMRK dar (E. 2.4.2). Die Feststellung einer solchen Verletzung genügt nicht als Wiedergutmachung (E. 2.5.2). Zusprechung einer Entschädigung (E. 2.6.1), wobei die Frage offengelassen wurde, ob in anderen Fällen eine andere Form der Wiedergutmachung denkbar ist (E. 2.6.2).

140 II 7 (1C_135/2013) from Dec. 16, 2013
Regeste: Art. 2 Abs. 1 aOHG, Art. 117 StGB; Opferhilfe, fahrlässige Tötung. Fall eines Mannes, der Anfang der 1970er Jahre als Jugendlicher während den Schulferien in einem Betrieb arbeitete, dabei Asbeststaub ausgesetzt war und als Folge davon 2007 starb. Fahrlässige Tötung durch die Betriebsverantwortlichen und damit Opferstellung bejaht (E. 3).

140 II 384 (2C_776/2013) from May 27, 2014
Regeste: Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 106 BV; Art. 14, 22, 40, 41, 51 und 55 ff. SBG; Art. 49a Abs. 3 lit. b KG; Art. 4 Abs. 3 DSG; Rechtmässigkeit und Berechnung der gegen eine Casinobetreiberin ausgesprochenen Verwaltungssanktion wegen Missachtung der Sorgfaltspflichten. Die verwaltungsrechtliche Sanktion nach Art. 51 SBG fällt zwar in den Anwendungsbereich der strafrechtlichen Verfahrensgarantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK, doch wurden diese hier nicht verletzt, da die Erhebung der Unterlagen bzw. die Anhörung der Auskunftspersonen im konzessionsrechtlichen Aufsichtsverfahren nicht mit einer missbräuchlich bzw. unverhältnismässig ausgeübten Form von Zwang ("improper compulsion") im Sinne der Rechtsprechung des EGMR verbunden war (E. 3). Die Sanktionsmöglichkeit verjährt analog der Regelung in Art. 49a Abs. 3 lit. b KG, wenn das zu sanktionierende Verhalten bei Eröffnung der Untersuchung seit länger als fünf Jahren bereits beendet war (E. 4). Die geldwäschereirechtlich erhobenen Informationen dürfen bzw. müssen im Zusammenhang mit der Überwachung des Spielverhaltens berücksichtigt werden; das Datenschutzrecht steht dem nicht entgegen (E. 5). Berechnungsmethode des für die Sanktionshöhe relevanten Nettogewinns unter Berücksichtigung der progressiv ausgestalteten Spielbankenabgabe (E. 6). Die Annahme, die Pflichtverletzung der Betreiberin habe als mittelschwer zu gelten, ist aufgrund der gesamten Umstände des Falles (Dauer der Pflichtverletzung usw.) gerechtfertigt (E. 7).

140 II 437 (1C_803/2013) from Aug. 14, 2014
Regeste: Ausnahmebewilligung für die Erstellung einer zonenkonformen, aber nicht standortgebundenen Baute im Gewässerraum des Zürichsees (Art. 36a GSchG; Art. 41b und 41c GSchV). Die streitige Bauparzelle liegt im Hauptsiedlungsgebiet der Agglomeration am linken Zürichseeufer. Das Seeufer ist durch eine Mauer hart verbaut und mit Boots- und Badehäusern in dichter Folge überstellt. Trotz eines rund 100 m langen Grünstreifens zwischen den Seebauten und der Seestrasse ist daher von einem dicht überbauten Gebiet auszugehen (E. 5). Prüfung, ob der beantragten Ausnahmebewilligung überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen; dies setzt eine umfassende Interessenabwägung voraus (E. 6). Dem übergangsrechtlichen Gewässerraum kommt die Funktion einer Planungszone zu; die Ausnahmebewilligung darf daher die künftige Gewässerraum- und Revitalisierungsplanung nicht negativ präjudizieren (E. 6.2). Es liegt im Ermessen der zuständigen Behörde, die Bewilligung mit Auflagen und Bedingungen zu erteilen, um eine landschaftsverträgliche Überbauung, den Zugang der Öffentlichkeit und eine naturnahe Bepflanzung sicherzustellen (E. 6.3). Rückweisung zur Prüfung derartiger Nebenbestimmungen (E. 7).

140 III 1 (5A_540/2013) from Dec. 3, 2013
Regeste: Art. 400 Abs. 1, Art. 401 Abs. 1 und 3 und Art. 449a ZGB; Fähigkeiten des Beistandes, die zur Erfüllung der ihm übertragenen Aufgaben notwendig sind; Berücksichtigung von Wünschen und Einwänden der von der Beistandschaft betroffenen Person mit Bezug auf die Person des Beistandes. Begriff der Interessenkollision zwischen den zwei einander folgenden, derselben Person übertragenen Aufgaben eines Vertretungsbeistandes im Verfahren der Errichtung der Beistandschaft und eines Vertretungsbeistandes mit Vermögensverwaltung in Vollziehung der getroffenen Massnahme (E. 4.2). Behördliche Prüfung der Einwände des Interessierten gegen die Ernennung einer bestimmten Person als Beistand (E. 4.3.2).

140 III 24 (4A_336/2013) from Dec. 10, 2013
Regeste: Art. 158 Abs. 1 lit. b 2. Satzteil ZPO; vorsorgliche Beweisführung zwecks Abklärung der Prozessaussichten. Liegt bereits ein beweistaugliches Gutachten aus einem anderen Verfahren vor, besteht kein schutzwürdiges Interesse an der vorsorglichen Einholung eines weiteren Gutachtens (E. 3.3.1); Grundsätze der vorsorglichen Einholung von polydisziplinären Gutachten (E. 3.3.4).

140 III 30 (4D_54/2013) from Jan. 6, 2014
Regeste: Kostenverteilung bei vorsorglicher Beweisführung in einem eigenständigen Verfahren (Art. 106, 107 Abs. 1 lit. f und Art. 158 ZPO). Verlegung der Gerichts- und Parteikosten, wenn der Gesuchsgegner die Abweisung des Gesuchs um vorsorgliche Beweisführung beantragt und mit diesem Antrag unterliegt (E. 3 und 4).

140 III 200 (4A_413/2013) from March 11, 2014
Regeste: Art. 2 Abs. 2 ZGB; Art. 163 Abs. 2 und Art. 216 Abs. 2 OR; Vorvertrag zu einem Grundstückkauf, Formmangel, Rechtsmissbrauch, culpa in contrahendo und Konventionalstrafe. Wer sich aufgrund eines Formmangels eines nicht erfüllten Vorvertrags zu einem Grundstückkauf auf die Nichtigkeit dieses Vorvertrags beruft, handelt nicht rechtsmissbräuchlich (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 4). Eine Konventionalstrafe, mit welcher das durch eine culpa in contrahendo entstehende negative Interesse entschädigt werden soll, kann in einem in einfacher Schriftform abgefassten Vorvertrag zu einem Grundstückkauf gültig vereinbart werden (E. 5).

140 IV 57 (1B_326/2013, 1B_327/2013) from March 6, 2014
Regeste: a Strafprozessuale Zwangsmassnahmen (Art. 196 ff. und 263 ff. StPO); Überprüfung durch das Bundesgericht mit freier Kognition (Art. 36 und 190 BV, Art. 95 lit. a, Art. 98 und 106 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht überprüft Entscheide über strafprozessuale Zwangsmassnahmen mit freier Kognition (Art. 196 lit. a-c StPO). Die nach Art. 98 BGG (für vorsorgliche Massnahmen) vorgeschriebene Beschränkung der Rügegründe und das Rügeprinzip im Sinne von Art. 106 Abs. 2 BGG sind nicht anwendbar. Dies gilt auch für die Beschlagnahme von Gegenständen oder Vermögenswerten (Art. 263 ff. StPO; E. 2.2).

140 IV 181 (1B_19/2014) from May 28, 2014
Regeste: Art. 13 Abs. 1 BV; Art. 263 ff. StPO; Art. 23 ff. VÜPF; Erhebung von E-Mails beim Anbieter von Fernmeldediensten ("Provider"). Vom Beschuldigten auf dem Server abgerufene E-Mails können beschlagnahmt, nicht abgerufene durch eine Echtzeit-Überwachung erhoben werden (E. 2).

140 V 348 (9C_91/2014) from July 16, 2014
Regeste: Art. 49 BVG; Verzinsung von Altersguthaben. Die Verhältnismässigkeit eines Nullzinsbeschlusses darf nicht leichthin angenommen werden (E. 5.1). Anwendungsfall zur Rechtsprechung gemäss BGE 140 V 169, wonach eine Nullverzinsung auch bei einer Überdeckung innerhalb bestimmter Schranken zulässig ist. In casu verneint (E. 4 und 5).

141 I 211 (1B_169/2015, 1B_177/2015) from Nov. 6, 2015
Regeste: Art. 16, 17 und 36 BV, Art. 69 ff. StPO, § 11 ff. AEV/ZH; Einschränkung der Gerichtsberichterstattung über eine öffentliche strafrechtliche Hauptverhandlung. Das vom Strafrichter gegenüber den Gerichtsberichterstattern unter Androhung von Ordnungsbusse ausgesprochene Verbot, bestimmte Informationen über den Angeklagten zu publizieren, war mangels hinreichender gesetzlicher Grundlage unzulässig (E. 3).

141 II 14 (2C_380/2014) from Sept. 15, 2014
Regeste: Art. 83 lit. f BGG, Art. 48 VwVG; Monte Ceneri-Eisenbahn-Basistunnel (öffentliches Beschaffungswesen): Voraussetzungen für die Beschwerdelegitimation der nicht berücksichtigten Anbieter gegen die Zuschlagsverfügung. Eignungskriterien: Auslegung der in den Ausschreibungsunterlagen enthaltenen Anforderungen. Zulässigkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (erreichter Auftragswert und Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung; E. 1.1-1.5). Anwendbare Bestimmungen zum Verfahren der öffentlichen Beschaffung (E. 2.1-2.3). Streitfrage: Sind nicht berücksichtigte Anbieter allein schon aufgrund ihrer Teilnahme am Verfahren zur Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht legitimiert, oder setzt die Beschwerdelegitimation voraus, dass der Beschwerde führende übergangene Anbieter seinerseits geeignet wäre, den Zuschlag zu erhalten (E. 3.1-3.3)? Einem nicht berücksichtigten Anbieter fehlt es an einem schutzwürdigen Beschwerdeinteresse, wenn er auch bei Obsiegen seiner Anträge den Zuschlag selber nicht erhalten könnte. Das Bundesverwaltungsgericht hätte deshalb vor dem Bejahen der Beschwerdelegitimation prüfen müssen, ob die Bietergemeinschaft Rhomberg Sersa überhaupt eine reelle Chance hat, den Zuschlag zu erhalten (E. 4.1-4.9). Nach der Theorie des doppelrelevanten Sachverhalts war diese nämlich zur Beschwerde nur legitimiert, wenn glaubhaft dargelegt ist, dass sie seinerseits die Eignungskriterien erfüllt; ob dies der Fall ist, kann aufgrund der vom Bundesgericht vorgenommenen materiellen Prüfung offengelassen werden (E. 5.1 und 5.2). Namentlich auf Grund des Wortlauts der Eignungskriterien und unter Berücksichtigung des effektiven Verhaltens aller Verfahrensbeteiligten ist die von der AlpTransit Gotthard AG vertretene Auslegung der in den Ausschreibungsunterlagen enthaltenen Anforderungen eher zutreffend als diejenige der Vorinstanz; zumindest ist sie gleichermassen vertretbar, so dass ihr der Vorzug zu geben ist (E. 6 und 7). Mit der Anforderung, ein nicht abgeschlossenes Projekt könne nur dann als gültig betrachtet werden, wenn zusätzliche Referenzauskünfte eingeholt worden seien, hat die Vorinstanz in unzulässiger Weise in den Ermessensspielraum der Vergabestelle eingegriffen (E. 8.1-8.4). Die Zuschlagsempfängerin ARGE cpc hat vielmehr - bei richtiger Auslegung der Ausschreibungsunterlagen - genügend gültige Referenzen für die einzelnen Leistungspakete vorgelegt (E. 9), und es liegt auch kein unzulässiges verstecktes Abgebot vor (E. 10).

141 II 256 (1C_538/2014) from June 9, 2015
Regeste: Art. 16cbis Abs. 2 SVG; Bemessung des schweizerischen Führerausweisentzugs nach einer Verkehrsregelverletzung im Ausland. Bei einem Ersttäter bildet die Dauer des im Ausland ausgesprochenen Fahrverbots die obere Grenze des Ermessensbereichs der schweizerischen Behörde. Diese hat die Belastung, welche das ausländische Fahrverbot für den Täter dargestellt hat, angemessen zu berücksichtigen. Die Dauer des schweizerischen Führerausweisentzugs ist so festzusetzen, dass sich unter Anrechnung dieser Belastung eine gesamthafte Sanktion ergibt, welche die Dauer des ausländischen Fahrverbots nicht übersteigt (E. 2).

141 II 353 (2C_876/2014) from Sept. 4, 2015
Regeste: Art. 83 lit. f und Art. 90 BGG; Art. XIII Abs. 4 lit. b GPA; Art. 13 Abs. 1 lit. i IVöB; Art. 8 Abs. 2 lit. h des Gesetzes des Kantons Waadt über das öffentliche Beschaffungswesen; Art. 41 Abs. 1 des Reglements zum Gesetz des Kantons Waadt über das öffentliche Beschaffungswesen; öffentliches Beschaffungswesen; Bau eines interkantonalen Krankenhauses; Voraussetzungen, unter denen das gesamte Vergabeverfahren aufgehoben und die Sache zwecks Durchführung einer neuen Ausschreibung an den Auftraggeber zurückgewiesen werden kann; Grundsätze der Transparenz und der Unveränderbarkeit der Angebote. Das kantonale Urteil, das den Zuschlagsentscheid aufhebt und die Sache an den Auftraggeber zurückweist, damit er das gesamte Vergabeverfahren von Anfang an wiederaufnehme, kommt einem Endentscheid gleich. Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung bejaht (E. 1). Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts (E. 2 und 3) und anwendbares Recht (E. 4). Angefochtenes Urteil (E. 5). Strenge Voraussetzungen, unter denen der Richter berechtigt ist, ein Vergabeverfahren abzubrechen und die vollumfängliche Wiederholung der Ausschreibung anzuordnen (E. 6). Verzicht des Auftraggebers auf Einhaltung eines Eignungskriteriums (Vorlegen von Bank-Bescheinigungen) durch die Anbieter (E. 7). Die dem Auftraggeber im Vergabeverfahren unterlaufenen Unzulänglichkeiten (z.B. Verletzung des Gundsatzes der Unveränderbarkeit der Angebote; unterlassene Anforderung zusätzlicher Angaben angesichts unüblich tiefer Preise oder in Bezug auf das Verhältnis zu Subunternehmern) wiegen im konkreten Fall nicht schwer genug, um das gesamte Verfahren abzubrechen und dem Auftraggeber anzuordnen, die Ausschreibung von Anfang an neu aufzunehmen (E. 8). Prüfung und Abweisung durch das Bundesgericht - im Rahmen der Anforderungen, welche sich aus dem Verbot der reformatio in peius ergeben - der durch das Kantonsgericht nicht behandelten Rügen (E. 9).

141 V 71 (9C_248/2014) from Dec. 18, 2014
Regeste: Art. 52 Abs. 1, Art. 53 Abs. 2 lit. a und Art. 56a Abs. 1 BVG (jeweils in den bis Ende 2011 gültigen Fassungen); Verantwortlichkeit; Haftung des BVG-Experten. Behauptungs- und Bestreitungspflicht im Schadenersatzverfahren (E. 5.2.2 und 5.2.3). Eine Bankgarantie, welche der Absicherung der Vorsorgegelder und der Verzinsung dient, ist wesentliches Element des vom BVG-Experten zu überprüfenden Anlagekonzepts (E. 6). Abänderung eines Dispositivs betreffend sieben Solidarschuldverhältnisse mit jeweils unterschiedlicher personeller Zusammensetzung (E. 9.4).

141 V 93 (9C_247/2014) from Dec. 18, 2014
Regeste: Art. 52 Abs. 1 und Art. 56a Abs. 1 BVG (jeweils in den bis Ende 2011 gültigen Fassungen); Verantwortlichkeit; Haftung der Revisionsstelle. Umstände, welche auf ein mittleres Risiko einer Vorsorgeeinrichtung und einen höheren Kontrollbedarf schliessen lassen (E. 6.2.1 und 6.2.2). Vermag die Vorsorgeeinrichtung auf Verlangen der Revisionsstelle hin keinen Beleg für ihr Hauptaktivum vorzulegen, drängt sich - bei den gegebenen Verhältnissen - eine Detailprüfung auf (E. 6.2.3). Der Umstand, dass das BSV der Vorsorgeeinrichtung für die ordentliche Berichterstattung diverse Fristerstreckungen gewährte, entbindet die Revisionsstelle nicht von ihrer (fortzuführenden) Prüfungspflicht in Bezug auf die Jahresrechnung (E. 6.2.4).

141 V 139 (9C_417/2014) from Feb. 11, 2015
Regeste: Art. 50 Abs. 2 IVG i.V.m. Art. 20 Abs. 2 AHVG; Art. 63 Abs. 2 und Art. 71 Satz 2 ATSG; Rz. 10061 der Wegleitung über die Renten (RWL) in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung; Rangfolge bei der Verrechnung. Es besteht kein triftiger Grund für ein Abweichen von Rz. 10061 RWL, welche - im Fall von Nachzahlungen - den Vorrang von Forderungen der AHV und IV bzw. von intrasystemischen vor intersystemischen Forderungen bei der Verrechnung regelt. Für einen Vorrang von Forderungen des vorleistungspflichtigen Versicherungszweigs besteht keine gesetzliche Grundlage (E. 6.3.1 und 6.3.2).

142 I 155 (2C_655/2015) from June 22, 2016
Regeste: Art. 106 Abs. 1 BGG; Rechtsanwendung von Amtes wegen. Zulässigkeit von neuen rechtlichen Vorbringen vor Bundesgericht, insbesondere von Verfassungsrügen. Eingeschränkte Bedeutung des Grundsatzes, wonach der kantonale Instanzenzug für Rügen, die dem Bundesgericht vorgetragen werden, ausgeschöpft werden muss (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 4.4).

142 II 218 (2C_289/2015) from April 5, 2016
Regeste: Art. 31 VRK; Art. 28 Ziff. 1 DBA CH-FR; Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 15 Abs. 1 StAhiG; Art. 30 Abs. 1 VwVG; Amtshilfe in Steuersachen; Frist zur Stellungnahme zu einem Verfügungsentwurf über die Gewährung um Steueramtshilfe; Zulässigkeit eines Ersuchens in Bezug auf Personen, die beanspruchen, in einem Drittstaat steuerrechtlich ansässig zu sein. Die Eidgenössische Steuerverwaltung muss den Beschwerdeberechtigten eine Frist von wenigstens zehn Tagen zugestehen, damit sie zum Verfügungsentwurf über die Gewährung um Steueramtshilfe Stellung nehmen können (E. 2). Wenn das Steueramtshilfeersuchen zum Ziel hat, die Steuerveranlagung von Personen, die der ersuchende Staat als seine Steueransässige ansieht, zu vervollständigen, kann man aus der Tatsache, dass ein Drittstaat diese Personen ebenfalls als seine Steueransässige ansieht, nicht folgern, dass der ersuchende Staat in böser Absicht gehandelt hat, und daraus auf die Unzulässigkeit des Ersuchens schliessen (E. 3).

142 II 232 (1C_418/2015) from April 25, 2016
Regeste: Altlastenrechtliche Kostenverteilung nach Art. 32d USG. Ein Grundeigentümer, der sein Grundstück wissentlich und gegen Entgelt für eine potenziell umweltgefährdende Nutzung als Deponie zur Verfügung stellt, ist als Verhaltensverursacher zu qualifizieren (E. 3). Für den Sorgfaltsnachweis im Sinne von Art. 32d Abs. 2 Satz 3 USG ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Grundstückerwerbs abzustellen. Selbst wenn der Inhaber des Standorts aus der Sanierung einen wirtschaftlichen Vorteil erzielt, steht dies einer Kostenbefreiung nicht entgegen (E. 4). Bei der Festsetzung der Kostenanteile kommt den zuständigen Behörden ein pflichtgemäss auszuübendes Ermessen zu (E. 5). Der Übergang der Kostentragungspflicht des Verhaltensverursachers auf seine Erben ist an zwei Voraussetzungen geknüpft. Einerseits muss zum Zeitpunkt des Erbgangs eine rechtliche Grundlage für eine Sanierungs- und Kostentragungspflicht bestanden haben. Andererseits müssen die Erben die Möglichkeit gehabt haben, das Erbe auszuschlagen oder unter öffentlichem Inventar anzunehmen, was die Vorhersehbarkeit einer Sanierungspflicht bedingt (E. 6.3). Das Gemeinwesen trägt den Kostenanteil, wenn ein Verursacher zwar bekannt ist, aber nicht mehr existiert und keine Rechtsnachfolge eintritt (E. 6.5).

142 II 451 (2C_681/2015, 2C_682/2015) from July 20, 2016
Regeste: Art. 6 und Art. 22 StromVG, Art. 4 Abs. 1 und Art. 19 StromVV; Entscheid der ElCom "im Streitfall" über Elektritzitätstarife bzw. Überprüfung anrechenbarer Energiekosten durch die ElCom. Prozessuale Stellung von Lieferanten und Endverbrauchern in den jeweiligen Verfahren. Kostenaufteilung zwischen Endverbrauchern mit Grundversorgung und freien Kunden. Absenkung der Vertriebskosten. Stromkonsumenten haben in Verfahren, in denen die ElCom von Amtes wegen die anrechenbaren Kosten eines Netzbetreibers oder Elektrizitätslieferanten festlegt (vgl. Art. 22 Abs. 2 lit. b StromVG), keine Parteistellung. Wird die ElCom hingegen als Streitentscheiderin im Sinne von Art. 22 Abs. 2 lit. a StromVG angerufen (Streit über u.a. Elektrizitätstarife), haben in einem solchen Verfahren nicht nur die Lieferanten, sondern auch die Endverbraucher Parteistellung, und zwar nicht als Dritte, sondern als materielle Verfügungsadressaten (E. 3). Aufgaben und Stellung der ElCom als Aufsichtsbehörde im Rahmen der Überprüfung der Elektrizitätstarife (E. 4). Auslegung des Begriffs "anteilsmässig" in Art. 6 Abs. 5 StromVG: Auch wenn Grundversorgung und Netzzugang kostenträgermässig aufgeteilt werden und in der Grundversorgung nicht der Marktpreis gilt, soll nach dem klaren Willen des Gesetzes ein Marktanteil in die Tarife der festen Endverbraucher einfliessen. Kein Vorrang der Eigenproduktion für die Grundversorgung (E. 5). Bedeutung von Art. 19 StromVV. Es ist nicht gesetzwidrig, wenn die ElCom einen Effizienzvergleich auf einen Teilbereich der Kosten beschränkt und eine Absenkung der anrechenbaren Kosten bereits aufgrund eines Einkennzahlenvergleichs anordnet (E. 6).

142 III 626 (4A_169/2016) from Sept. 12, 2016
Regeste: Verrechnungserklärung im Prozess. Die Rechtshängigkeit eines Anspruchs steht der Geltendmachung des gleichen Anspruchs durch Verrechnungseinrede in einem anderen Verfahren nicht entgegen (E. 8.4).

142 III 705 (9C_300/2016) from Oct. 13, 2016
Regeste: Art. 306 Abs. 1 Ziff. 2 und Abs. 2, Art. 307 Abs. 1 und Art. 310 Abs. 1 SchKG; Nachlassvertrag, der bezüglich einer eingegebenen Forderung an einem auf das Verhalten der Sachwalterin zurückzuführenden Mangel leidet. Der bestätigte Nachlassvertrag, der unangefochten in Rechtskraft erwachsen ist, kann privilegierten Forderungen, die eingegeben, vom Sachwalter aber eigenmächtig nicht im ganzen Betrag aufgenommen wurden, entgegengehalten werden (E. 4).

142 IV 105 (6B_640/2015) from Feb. 25, 2016
Regeste: Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB; stationäre therapeutische Behandlung von psychischen Störungen, Beginn der fünfjährigen Dauer. Der mit der stationären Behandlung verbundene Freiheitsentzug im Sinne von Art. 59 Abs. 4 Satz 1 StGB umfasst auch den Freiheitsentzug zwischen der rechtskräftigen sowie vollstreckbaren Massnahmeanordnung und dem effektiven Behandlungsbeginn (E. 4 und 5).

142 IV 315 (6B_70/2016) from June 2, 2016
Regeste: a Art. 6 Abs. 2 VStrR; strafrechtliche Verantwortlichkeit des Geschäftsherrn. Die Verletzung einer Rechtspflicht im Sinne von Art. 6 Abs. 2 VStrR setzt eine Garantenstellung voraus, d.h. eine bestimmte rechtliche Pflicht, das fragliche Verhalten durch Überwachung, Weisungen und falls notwendig Eingreifen zu verhindern. Da sich die Bestimmungen des Verwaltungsrechts in der Regel an den Geschäftsherrn richten, ist dieser rechtlich verpflichtet, deren Anwendung sicherzustellen bzw. deren Verletzung zu verhindern. Strafrechtliche Verantwortlichkeit vorliegend bejaht, da der Geschäftsherr es unterliess, Massnahmen zu ergreifen und seinen Angestellten angemessene Weisungen zu erteilen (E. 2).

142 V 2 (9C_381/2015) from Dec. 17, 2015
Regeste: a Art. 49 Abs. 2 ATSG; Feststellungsverfügung; Begriff des schützenswerten Interesses. Eine versicherte Person hat ein schützenswertes Interesse, durch die zuständige Ausgleichskasse klären zu lassen, ob die ihr derzeit gewährten Sozialversicherungsleistungen im Falle des Wegzugs ins Ausland weiterhin ausgerichtet werden (E. 1).

142 V 466 (9C_330/2016) from Oct. 14, 2016
Regeste: Art. 26 Abs. 2 BVG und Art. 26 BVV 2; Aufschub der Zahlung von Invalidenrenten. Die auf Art. 26 Abs. 2 BVG und Art. 26 BVV 2 basierende reglementarische Rentenaufschubsmöglichkeit der Vorsorgeeinrichtung besteht auch dann, wenn der Taggeldversicherer, der Taggelder für Arbeitsunfähigkeit ausgerichtet hat, diese Leistungen im Umfang der nachträglich zugesprochenen Rente der Invalidenversicherung zurückfordert. Änderung der Rechtsprechung (E. 3.4).

143 I 50 (9F_8/2016) from Dec. 20, 2016
Regeste: Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK; Art. 122 BGG; Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art. 28a IVG; gemischte Methode der Invaliditätsbemessung. Umsetzung des EGMR-Urteils vom 2. Februar 2016 betreffend das Urteil des Bundesgerichts 9C_49/2008 vom 28. Juli 2008: Die revisionsweise Aufhebung einer Invalidenrente ist EMRK-widrig, wenn allein familiäre Gründe (die Geburt von Kindern und die damit einhergehende Reduktion des Erwerbspensums) für einen Statuswechsel von "vollerwerbstätig" zu "teilerwerbstätig" (mit Aufgabenbereich) sprechen. Der Versicherten ist die laufende Rente weiterhin auszurichten (E. 4).

143 I 352 (2C_1062/2016) from July 11, 2017
Regeste: Art. 49 Abs. 1 BV; Art. 43 MedBG; Art. 191 LSP/VD; Vorrang des Bundesrechts; Disziplinarmassnahmen gegen einen den Medizinalberuf selbständig ausübenden Mediziner; Publikation der Massnahme im Amtsblatt des Kantons Waadt. Streitfrage und Rüge (E. 2). Abgrenzung des sachlichen Anwendungsbereichs des Medizinalberufegesetzes von demjenigen des waadtländischen Gesetzes über die öffentliche Gesundheit (LSP/VD); Kompetenzverteilung zur Regelung der Bewilligung, den Medizinalberuf selbständig auszuüben, und zu damit zusammenhängenden Disziplinarmassnahmen. Mit Blick auf den Vorrang des Bundesrechts kann eine Person, die ihren Medizinalberuf selbständig ausübt, nur mit den in Art. 43 MedBG abschliessend aufgeführten Massnahmen diszipliniert werden; unzulässig sind Disziplinarmassnahmen nach Art. 191 LSP/VD (E. 3). Die in Art. 191 LSP/VD vorgesehene Publikation einer Disziplinarmassnahme im kantonalen Amtsblatt ist bundesrechtswidrig (E. 4 und 5).

143 III 216 (4A_489/2016) from Feb. 27, 2017
Regeste: Art. 4 MSchG; Agentenmarke. Voraussetzungen für die Qualifikation einer Marke als Agentenmarke (E. 2).

143 III 261 (5A_657/2015, 5A_658/2015) from March 14, 2017
Regeste: Art. 106 Abs. 1 und 107 ZPO; Art. 694 ZGB; Verteilung der Gerichtskosten und Parteientschädigungen; Notwegrecht. Grundsätze für die Verteilung der Gerichtskosten und die Auferlegung von Parteientschädigungen in der ersten und zweiten Instanz in Fällen, die einen Notweg betreffen (E. 4).

143 III 416 (5A_661/2016) from June 2, 2017
Regeste: Beschwerde gegen einen auf die Frage der Kosten und Auslagen des Verfahrens beschränkten Entscheid, der unabhängig vom Entscheid über die Zuständigkeit gefällt wurde (Art. 92 und 93 BGG). Ficht eine Partei einen Entscheid über die Kosten und Auslagen an, der unabhängig vom Zuständigkeitsentscheid gefällt wurde, ist die in Art. 92 BGG enthaltene Ausnahmeregelung nicht anwendbar. Die Zulässigkeit der Beschwerde bestimmt sich nach Art. 93 BGG. Verneinung des Vorliegens eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils (E. 1).

143 III 420 (4G_4/2016) from June 21, 2017
Regeste: Art. 129 BGG; Erläuterungsbegehren; sachliche Zuständigkeit; Gegenstand und Zweck. Ist das Bundesgericht zur Erläuterung oder Berichtigung des Dispositivs eines kantonalen Urteils in einer Zivilsache zuständig, nachdem es eine Beschwerde gegen dieses Urteil abgewiesen hat bzw. darauf nicht eingetreten ist? Gegenstand und Zweck der Erläuterung oder Berichtigung (E. 2).

143 IV 69 (1B_409/2016) from Jan. 3, 2017
Regeste: a Art. 20 und 59 StPO; Zuständigkeit für Entscheide über den Ausstand eines Mitglieds des Zwangsmassnahmengerichts (ZMG). Die Beschwerdeinstanz im Sinne von Art. 20 StPO ist zuständig zum Entscheid über Ausstandsbegehren, welche sich gegen ein Mitglied des ZMG richten (E. 1.1).

143 IV 462 (1B_376/2017) from Nov. 22, 2017
Regeste: Art. 78 ff., 91, 93 BGG; Art. 248 Abs. 3 lit. a und 393 Abs. 1 lit. c StPO; Art. 171, 197 Abs. 2, 248 Abs. 1, 264 Abs. 1 lit. d StPO; Entsiegelung und anwaltliches Berufsgeheimnis. Zulässigkeit der Beschwerde gegen einen Entsiegelungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts; im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör darf der Staatsanwaltschaft nicht nur eine eingeschwärzte Version der Beschwerdeschrift an das Bundesgericht übermittelt werden (E. 1). Die Entsiegelungsbehörde entfernt die Akten, die nachweislich unter ein Berufsgeheimnis fallen (E. 2.1). Unter das Anwaltsgeheimnis fällt nur die eigentliche anwaltliche Tätigkeit; davon erfasst werden anvertraute Tatsachen, Unterlagen sowie vertrauliche Mitteilungen, die einen - wenn auch nur losen - Zusammenhang mit der Mandatsführung aufweisen; zu diesen gehören etwa das Bestehen eines Mandats sowie die daraus entstehenden Honorarforderungen (E. 2.2). Geschützt wird folglich auch der Kontakt zwischen dem Betroffenen und seinen Rechtsvertretern, namentlich den im Entsiegelungsverfahren Beauftragten. Grundsätzlich keinen Schutz geniessen hingegen Schreiben, die dem Anwalt nur in Kopie übermittelt werden oder die er von Vertretern Dritter erhält, sowie Handlungen, die der betreffende Anwalt als Verwaltungsrat vornimmt (E. 2.3).

143 V 19 (9C_752/2015) from Dec. 28, 2016
Regeste: Art. 52 und 56a Abs. 1 BVG (jeweils in den bis Ende 2004 gültigen Fassungen); Art. 49a BVV 2 (in der bis Ende 2001 gültigen Fassung); Verantwortlichkeit des Stiftungsrats bei der Vermögensanlage. Anlagen im Rahmen der Grenzwerte der BVV 2 sind nicht per se zulässig, sondern nur insoweit, als sie den allgemeinen Sicherheitsanforderungen von Art. 71 BVG genügen. Die Risikofähigkeit einer Vorsorgeeinrichtung kann auch bei Einhaltung der gesetzlichen und reglementarischen Limiten überschritten werden (E. 6.1.6).

143 V 321 (9C_12/2017) from July 31, 2017
Regeste: Art. 53d Abs. 6 und Art. 52 BVG; Höhe der im Rahmen einer Teilliquidation zu teilenden Mittel; Zuständigkeit. (Streit-)Fragen, die untrennbar und unmittelbar mit derjenigen nach einer eventuellen Verantwortlichkeit zusammenhängen, sind nicht auf dem aufsichtsrechtlichen Weg zu klären und können daher nicht in das Teilliquidationsverfahren miteinbezogen werden (E. 4.2).

144 I 208 (2C_792/2017) from June 6, 2018
Regeste: Koordination des kantonalen Genfer Einspracheverfahrens betreffend die Verfahrenskosten, Gebühren und Entschädigungen (Art. 87 Abs. 4 LPA/GE) mit dem Bundesgerichtsgesetz. Beschwerde an das Bundesgericht gegen einen Entscheid des Obergerichts und parallel dazu Einsprache beim Obergericht gegen dessen Entscheid betreffend Auferlegung der Gerichtsgebühr. Materielle Abweisung der Beschwerde durch das Bundesgericht. Danach Einspracheentscheid des Obergerichts und Beschwerde an das Bundesgericht gegen den kantonalen Einspracheentscheid. Der Entscheid des Bundesgerichts hat den kantonalen Entscheid ersetzt, auch soweit dieser die Verfahrenskosten, Gebühren und Entschädigungen betraf, so dass die Vorinstanz den streitigen Einspracheentscheid nicht hätte erlassen dürfen (E. 3). Wollen die Parteien verhindern, dass das Bundesgericht einen Entscheid erlässt, bevor die Vorinstanz über die Einsprache befunden hat, müssen sie das Bundesgericht über die hängige Einsprache informieren und die Sistierung des bundesrechtlichen Verfahrens bis zum Erlass des Einspracheentscheids beantragen (E. 4). Diese Art der Koordination kommt zur Anwendung, sofern keine anderen Bestimmungen des Bundesrechts das kantonale Einspracheverfahren ausschliessen (E. 5).

144 II 246 (2C_101/2016) from May 18, 2018
Regeste: Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 und 4 sowie Art. 49a Abs. 1 KG; unzulässige vertikale Abrede über Preise; Widerlegung der Vermutung betreffend die Beseitigung des wirksamen Wettbewerbs; erhebliche Beeinträchtigung des Wettbewerbs; Abwesenheit des Rechtfertigungsgrundes der wirtschaftlichen Effizienz. Begriff der Abrede gemäss Art. 4 Abs. 1 KG und Anwendung auf den Fall. Vorliegend besteht eine vertikale Abrede über den Mindestverkaufspreis in Form einer einseitig verpflichtenden Erklärung, die implizit durch die Gesamtheit der Verkäufer akzeptiert wurde (E. 6). Die Aufrechterhaltung eines markeninternen (intrabrand) Wettbewerbs kann die Vermutung betreffend die Beseitigung des wirksamen Wettbewerbs gemäss Art. 5 Abs. 4 KG widerlegen. Im vorliegenden Fall besteht weiterhin ein solcher Wettbewerb aufgrund der durch die Abrede vorgesehenen Preisbandbreite (E. 7). Unzulässige Wettbewerbsabrede gemäss Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 KG (E. 8-13). Qualitative Kriterien reichen für eine erhebliche Beeinträchtigung des Wettbewerbs gemäss Art. 5 Abs. 1 KG aus (Bestätigung von BGE 143 II 297) (E. 9-11). Keine Rechtfertigung durch Gründe der wirtschaftlichen Effizienz (E. 12 und 13).

144 II 293 (2C_721/2016) from Aug. 3, 2018
Regeste: Mehrwertsteuer auf der Einfuhr eines durch die Erben des Künstlers eingeführten Kunstwerkes; Art. 52, 53 Abs. 1 lit. c und d MWSTG; Vereinbarung vom 22. November 1950 über die Einfuhr von Gegenständen erzieherischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Charakters. Anwendbares Recht (E. 2). Auf dem Kunstwerk, einem Originalwerk der Bildhauerei, sind keine Zollabgaben geschuldet; grundsätzlich ist darauf jedoch die Einfuhrsteuer zu erheben. Die Liste der steuerbefreiten Einfuhren ist abschliessend (E. 3). Das strittige Kunstwerk wird nicht öffentlich ausgestellt und fällt somit nicht unter den auf Kunst- und Ausstellungsgegenstände anwendbaren mehrwertsteuerlichen Steuerbefreiungstatbestand (E. 4.1). Voraussetzungen für eine Befreiung von Erbschaftsgut von der Einfuhrsteuer. Das strittige Kunstwerk ist kein Gebrauchsgegenstand (gebrauchtes Erbschaftsgut) im Sinne der Bestimmungen des Zollrechts, auf welche das MWSTG verweist. Eine Voraussetzung für die Steuerbefreiung fehlt somit (E. 4.2). Die Beschwerdeführer können sich, angesichts ihrer Qualifikation als Erben, auch nicht auf die auf Künstlerinnen und Künstler anwendbare Steuerbefreiung berufen (E. 5). Die Erhebung der Einfuhrsteuer auf der Einfuhr des Kunstwerkes verletzt somit unter diesen Umständen die Vereinbarung vom 22. November 1950 über die Einfuhr von Gegenständen erzieherischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Charakters nicht (E. 6).

144 II 376 (2C_854/2016) from July 31, 2018
Regeste: Entzug des Flughafenausweises; Verfügungsbefugnis des Flughafens Genf. Zusammenfassung der anwendbaren Grundsätze im Bereich der Übertragung einer Verfügungsbefugnis an eine verwaltungsexterne Einheit (E. 7.1) und im Bereich der Gesetzesdelegation zugunsten des Bundesrates (E. 7.2). Befugnisse eines Flughafenbetreibers im Bereich der Sicherheit (E. 8). Der Flughafen Genf verfügt nach nationalem und internationalem Recht im Bereich der Flughafenausweise über Verfügungskompetenz. Das Bundesverwaltungsgericht ist folglich zu Unrecht mit der Begründung, die angefochtene Verfügung sei nicht von einer sachlich zuständigen Behörde erlassen worden, nicht auf die gegen den Entzug des Flughafenausweises erhobene Beschwerde eingetreten (E. 9).

144 III 10 (5A_47/2017) from Nov. 6, 2017
Regeste: Art. 301a und 307 ZGB; Umzug des Kindes in einen anderen Landesteil; Sanktionslosigkeit bei Verletzung des Zustimmungserfordernisses; Weisung betreffend Aufenthaltsort des Kindes als Kindesschutzmassnahme; Anpassung des persönlichen Verkehrs. Die Verletzung des Zustimmungserfordernisses nach Art. 301a Abs. 2 ZGB bleibt zivilrechtlich sanktionslos (E. 5). Eine auf Art. 307 ZGB gestützte Weisung betreffend Aufenthaltsort des Kindes stellt eine von Art. 301a ZGB unabhängige Kindesschutzmassnahme dar, welche eine Gefährdung des Kindeswohls voraussetzt und nur im Ausnahmefall gerechtfertigt ist (E. 6). Bei der Anpassung des persönlichen Verkehrs gemäss Art. 301a Abs. 5 ZGB ist den konkreten Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen; die Verweisung auf ein Regelbesuchsrecht ist nicht statthaft (E. 7).

144 III 298 (5A_623/2017) from May 14, 2018
Regeste: Art. 283 Abs. 1 ZPO; Scheidungsverfahren; Einheit des Entscheids; Teilentscheid im Scheidungspunkt. Der Grundsatz, wonach das Gericht im Entscheid über die Ehescheidung auch über deren Folgen befindet, schliesst einen Teilentscheid im Scheidungspunkt nicht aus, wenn die Ehegatten einem Teilentscheid im Scheidungspunkt zustimmen oder wenn das Interesse des einen Ehegatten an einem Teilentscheid im Scheidungspunkt das Interesse des anderen Ehegatten an einem gleichzeitigen Entscheid von Scheidung und Scheidungsfolgen überwiegt (E. 5-8).

144 III 368 (5A_481/2017) from May 24, 2018
Regeste: Art. 4 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 Haager Unterhaltsübereinkommen (HUÜ); Massgeblichkeit von Art. 8 HUÜ zur Bestimmung des anwendbaren Rechts bei für die Dauer des Verfahrens auf Ergänzung eines ausländischen Scheidungsurteils vorsorglich beantragtem Unterhalt. Anwendbarkeit des Haager Unterhaltsübereinkommens (E. 2.3). Abgrenzung der Anwendungsbereiche der Art. 4 und 8 HUÜ bei Trennung und Scheidung der Ehe (E. 3.2 und 3.3). Der vorsorglich für die Dauer des Verfahrens auf Ergänzung eines (rechtskräftigen und anerkannten) ausländischen Scheidungsurteils beantragte Unterhalt bestimmt sich gemäss Art. 8 Abs. 1 HUÜ nach dem auf die Ehescheidung angewandten Recht (E. 3.4 und 3.5). Die Anwendung des am gewöhnlichen Aufenthalt der Unterhaltsberechtigten geltenden innerstaatlichen Rechts nach Art. 4 Abs. 1 HUÜ ist willkürlich (E. 3.1 und 3.6).

144 IV 377 (1B_401/2018) from Dec. 10, 2018
Regeste: Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG, 136 und 299 Abs. 1 StPO; Zulässigkeit der Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen einen die unentgeltliche Rechtspflege gewährenden Entscheid; Recht der Privatklägerschaft auf unentgeltliche Rechtspflege im Vorverfahren. Hebt eine kantonale Behörde eine Verfügung der Staatsanwaltschaft auf und weist sie die Sache zum neuen Entscheid an die Staatsanwaltschaft zurück, führt das bei dieser im Allgemeinen zu einem nicht wieder gutzumachenden Nachteil, da sie sich gezwungen sieht, einen Entscheid zu treffen, den sie als rechtswidrig erachtet, ohne diesen in der Folge in Frage stellen zu können. So verhält es sich insbesondere, wenn die kantonale Behörde in der Sache gestützt auf eine Begründung - hier: das Verfahrensstadium - entscheidet, welche die Staatsanwaltschaft endgültig bindet (E. 1). Die Privatklägerschaft hat das Recht auf unentgeltliche Rechtspflege im Vorverfahren während der - späteren - staatsanwaltschaftlichen Untersuchung (Art. 299 Abs. 1 in fine StPO; Bestätigung der Rechtsprechung). Dieses Recht hat die Privatklägerschaft auch im - vorherigen - polizeilichen Ermittlungsverfahren (Art. 299 Abs. 1 StPO; E. 2).

144 V 173 (9C_649/2017, 9C_652/2017) from June 21, 2018
Regeste: Art. 65d BVG; Pflicht des Arbeitgebers zur Behebung der Unterdeckung. Ein Arbeitgeber kann sich den vertraglich eingegangenen (Sanierungs-)Verpflichtungen gegenüber einer Vorsorgeeinrichtung nicht entziehen, indem er zuvor die Ausschliesslichkeitsklausel des Anschlussvertrages verletzt und die Vorsorgeeinrichtung (resp. das betroffene Vorsorgewerk) dadurch zu einer reinen Rentnerkasse geworden ist (E. 3.3.5).

144 V 280 (9C_446/2017) from July 20, 2018
Regeste: Art. 25a, Art. 39 Abs. 3 und Art. 50 KVG; Art. 33 lit. i KVV; Art. 7 ff. KLV; Art. 6 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1 und 2 sowie Art. 9 Abs. 1bis des Gesetzes des Kantons St. Gallen vom 13. Februar 2011 über die Pflegefinanzierung; Art. 2 der Verordnung des Kantons St. Gallen vom 14. Dezember 2010 über die Pflegefinanzierung; Restfinanzierung der Pflegeleistungen bei Krankheit. Seit Inkrafttreten der neuen Pflegefinanzierung am 1. Januar 2011 leistet einerseits die obligatorische Krankenpflegeversicherung einen - nach Pflegebedarf gestaffelten und limitierten - Beitrag an die Pflegeleistungen (Art. 25a Abs. 1 KVG). Anderseits haben sich auch die versicherten Personen (Art. 25a Abs. 5 Satz 1 KVG) und die öffentliche Hand an diesen zu beteiligen (Art. 25a Abs. 5 Satz 2 KVG; E. 3). Den Kantonen ist es grundsätzlich gestattet, ihrer Restfinanzierungspflicht mittels kantonal geregelter Höchstansätze nachzukommen (E. 7.2 und 7.4). Im Einzelfall kann diese jedoch höher sein, wenn Pflegekosten nach Massgabe von Art. 7 ff. KLV festgelegt worden sind (E. 7.4).

145 I 282 (1C_389/2018 und andere) from Aug. 8, 2019
Regeste: Art. 34 Abs. 1 und 2 BV, Art. 82 lit. c und Art. 89 Abs. 3 BGG, Art. 10a und Art. 77 Abs. 2 BPR; Interventionen eines Bundesamts sowie einer öffentlich-rechtlichen Anstalt in den Abstimmungskampf im Vorfeld der eidgenössischen Volksabstimmung vom 25. November 2018 über die Änderung des ATSG. Die kritisierten Publikationen des BSV und der Suva stellen Interventionen in den Abstimmungskampf dar und können Gegenstand einer Beschwerde in Stimmrechtssachen sein (E. 2.2.2). Die für den Beschwerdeführer massgebliche Frist von drei Tagen für die Anfechtung der beanstandeten Akte bei der Kantonsregierung lief erst ab Kenntnisnahme der Verfügung der Bundeskanzlei über das Zustandekommen des Referendums (E. 3). Verpflichtung der Behörden sowie von öffentlich beherrschten Unternehmen auf korrekte und zurückhaltende Information im Vorfeld von Abstimmungen (E. 4). Überprüfung der kritisierten Publikationen des BSV (E. 5) sowie der Suva (E. 6).

145 II 218 (1C_125/2018) from May 8, 2019
Regeste: Art. 18 EBG und Art. 11 Abs. 1 und 2 TrG; eidgenössisches Plangenehmigungsverfahren für Eisenbahn- und Trolleybusanlagen; Voraussetzungen, unter denen eine Teil eines umfangreichen Eisenbahnprojekts bildende Erschliessungsstrasse als Eisenbahnanlage (bzw. Trolleybusanlage) im Sinne des Bundesrechts zu qualifizieren ist. Fall eines grossen Eisenbahn- und Trolleybusprojekts im Stadtgebiet, dessen Betrieb die Schliessung bestehender Strassenachsen für den motorisierten Individualverkehr erfordert. Das eidgenössische Plangenehmigungsverfahren (Art. 18 ff. EBG und Art. 11 TrG) muss auch die Schaffung einer neuen Erschliessungsstrasse umfassen; diese ist als Eisenbahnanlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 EBG (bzw. als Trolleybusanlage im Sinne von Art. 11 Abs. 1 TrG) zu qualifizieren: sie steht in engem sachlichem Zusammenhang zum Bahnbetrieb, indem sie darauf abzielt, die mit der - notwendigen - Schliessung gewisser Strassenachsen einhergehenden Verkehrsbeeinträchtigungen zu reduzieren (E. 4.3.1); Bestehen eines räumlichen Zusammenhangs zwischen den projektierten Strecken des öffentlichen Verkehrs, der neuen Erschliessungsstrasse und den durch sie entlasteten Strassenkreuzungen, die alle zum eng gefassten Perimeter des Lausanner Stadtzentrums gehören (E. 4.3.2). Eine einheitliche eidgenössische Plangenehmigung drängt sich schliesslich auch aus Gründen der Koordination auf (E. 4.3.3).

145 IV 99 (1C_393/2018) from Dec. 14, 2018
Regeste: a Art. 42 Abs. 2 Satz 2 und Art. 84 BGG. Besonders bedeutender Rechtshilfefall; Verletzung elementarer Verfahrensgrundsätze im schweizerischen Verfahren; Substanziierung und vorläufige Prüfung der Rüge. Zusammenfassung und Präzisierung der Praxis zu den Eintretensvoraussetzungen des "besonders bedeutenden Falles" (E. 1.1 und 1.2). Widerspruch zwischen (einerseits) dem deutschen und italienischen Gesetzeswortlaut und (anderseits) der französischen Textfassung von Art. 84 Abs. 2 BGG. Massgeblich sind die Fassungen auf Deutsch und Italienisch. Danach kann auch die drohende Verletzung elementarer Verfahrensgrundsätze im schweizerischen Rechtshilfeverfahren - etwa des rechtlichen Gehörs - einen besonders bedeutenden Fall begründen (E. 1.3). Auf ausreichend substanziierte Vorbringen hin erfolgt (im Rahmen der Prüfung der Sachurteilsvoraussetzung) eine vorläufige materielle Prüfung der drohenden Verletzung elementarer Verfahrensgrundsätze (E. 1.4 und 1.5). Das Vorliegen eines besonders bedeutenden Falles wurde hier bejaht (E. 2).

145 IV 137 (6B_23/2018) from March 26, 2019
Regeste: a Art. 2 Abs. 2 StGB; lex mitior. Das Bundesgericht prüft nicht, ob das nach Ausfällung des angefochtenen kantonalen Entscheids in Kraft getretene Recht milder ist (E. 2).

145 IV 228 (1B_517/2018) from March 4, 2019
Regeste: Art. 92 BGG, Art. 3 Abs. 2 Satz 4 JStG, Art. 40 ff. StPO; Kompetenz zur Beurteilung von Zuständigkeitskonflikten zwischen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Jugendstrafrechtspflege desselben Kantons. Die Weigerung der für das ordentliche Strafverfahren zuständigen Staatsanwaltschaft, eine Strafsache zugunsten einer Beurteilung durch die Organe der Jugendstrafrechtspflege abzutrennen, erschöpft sich in einer Weigerung der Staatsanwaltschaft, ihre Zuständigkeit zu verneinen. Da es sich um einen (selbständig eröffneten) Vor- bzw. Zwischenentscheid über die Zuständigkeit handelt, ist dagegen die Beschwerde in Strafsachen gestützt auf Art. 92 BGG zulässig (E. 1). Die Zuständigkeitsregeln und das Verfahren bei Gerichtsstandskonflikten zwischen Behörden desselben Kantons sind auch anwendbar bei Streitigkeiten über die materielle Zuständigkeit im selben Kanton. Falls der betroffene Kanton eine Ober- oder Generalstaatsanwaltschaft vorgesehen hat (Art. 40 Abs. 1 StPO), so entscheidet diese den Zuständigkeitskonflikt; dies auch in Fällen, bei denen eine Partei ihn aufgeworfen hat (Art. 41 Abs. 1 StPO; E. 2).

145 V 57 (9C_343/2018) from Feb. 20, 2019
Regeste: Art. 14 Abs. 1 und 2, Art. 14bis IVG; Art. 39 Abs. 1 lit. e KVG; Kostenvergütung für stationäre Behandlungen im Rahmen medizinischer Eingliederungsmassnahmen. Gemäss Art. 14bis Satz 1 IVG wird die Kostenvergütung für stationäre Behandlungen im Sinne von Art. 14 Abs. 1 und 2 IVG, die in einem nach Art. 39 KVG zugelassenen Spital erbracht werden, zu 80 % durch die Invalidenversicherung und zu 20 % durch den Wohnkanton der versicherten Person geleistet. Zugelassen ist ein Spital namentlich, wenn es auf der nach Leistungsaufträgen in Kategorien gegliederten Spitalliste des Kantons aufgeführt ist (Art. 39 Abs. 1 lit. e KVG). Der Verweis in Art. 14bis IVG bezieht sich auch auf das in der KVG-Bestimmung enthaltene Erfordernis eines (Listen-)Spitals mit einem für die betreffende Behandlung vorhandenen Leistungsauftrag. Ob es sich dabei um ein Spital handeln muss, das sich auf der Liste irgendeines Kantons in der Schweiz oder aber auf derjenigen des fraglichen Kantons befindet, brauchte mangels Leistungsauftrags nicht abschliessend beurteilt zu werden (E. 9.2-9.6).

146 I 172 (2C_376/2019) from July 13, 2020
Regeste: Art. 8 EMRK; Art. 25bis Abs. 2 DBA CH-ES; Ziff. IV Abs. 5 und 6 des Protokolls zum DBA CH-ES; Art. 13 und Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 3 lit. a, Art. 14 und 19 Abs. 2 StAhiG; Art. 48 VwVG; internationale Amtshilfe in Steuersachen; Recht der Dritten auf Information über den Bestand eines Verfahrens; Spezialitätsprinzip; Recht zur informationellen Selbstbestimmung. Tragweite der Verfahrensgarantien Dritter, die vom Verfahren der internationalen Amtshilfe in Steuersachen nicht betroffen werden, deren Name im Verfahren aber erscheint (E. 6). Beschwerderecht dieser Personen (E. 7.1). Gemäss Art. 14 Abs. 2 StAhiG ist die ESTV nur gehalten, die vom Verfahren der Amtshilfe nicht betroffenen Personen, deren Name aber in den zur Übermittlung vorgesehenen Unterlagen erscheint, über den Bestand dieses Verfahrens zu informieren, wenn deren Beschwerderecht im Sinne von Art. 19 Abs. 2 StAhiG aus den Akten klarerweise hervorgeht. Das aus Art. 8 EMRK und Art. 13 BV fliessende Recht zur informationellen Selbstbestimmung lässt sich auf anderem Rechtsweg wirksam schützen (E. 7.2 und 7.4). Rechtfertigung der Einschränkung der Informationspflicht (E. 7.3). Die Praxis der ESTV, welche die Parteieigenschaft den Personen zuerkennt, die sich bei ihr melden und um Schwärzung der sie betreffenden Auskünfte ersuchen, ist nicht zu beanstanden (E. 7.3.3).

146 I 185 (2C_668/2018) from Feb. 28, 2020
Regeste: Art. 8 EMRK, Art. 13 BV, Art. 44 und 47 AuG; nachträglicher Familiennachzug; Ehegatte mit gefestigtem Anwesenheitsrecht in der Schweiz. Verschlechtert sich der Gesundheitszustand eines Ehegatten erheblich, liegt darin eine wesentliche Änderung der Umstände, die es rechtfertigt, auf ein neuerliches Gesuch um Familienzusammenführung einzutreten (E. 4). Eine ausländische Person, welche sich seit mehr als zehn Jahren rechtmässig in der Schweiz aufhält, verfügt auf Grundlage von Art. 8 EMRK (Anspruch auf Achtung des Privatlebens) in der Regel über ein gefestigtes Anwesenheitsrecht (BGE 144 I 266). Daraus ergibt sich ein Anspruch auf Familiennachzug des Ehegatten, sofern die Voraussetzungen von Art. 44 und 47 AuG erfüllt sind. Im vorliegenden Fall haben sich die Umstände nach Ablauf der fünfjährigen Frist zur Geltendmachung des Familiennachzugs massgeblich verändert, zumal der Ehegatte nicht mehr in der Lage ist, selbständig zu leben (Art. 47 Abs. 4 AuG). Die Feststellungen der Vorinstanz erlauben allerdings keine Beurteilung der Voraussetzungen von Art. 44 lit. a-c AuG. Die Sache ist deshalb zur Vervollständigung der Erhebung des Sachverhalts und zu neuem Entscheid an die erstinstanzlich verfügende Verwaltungsbehörde zurückzuweisen. Dabei wird nicht zu prüfen sein, ob dem Ehegatten die Rückkehr in sein Heimatland zugemutet werden könnte: die Unmöglichkeit, das Familienleben im Ausland leben zu können, ist keine gesetzliche Voraussetzung für den Familiennachzug und geht über die Anforderungen des landesinternen Rechts hinaus (E. 5-7).

146 II 150 (2C_653/2018) from July 26, 2019
Regeste: a Art. 28 Abs. 1 DBA CH-FR; Ziff. XI Abs. 3 Bst. a Zusatzprotokoll DBA CH-FR; Art. 2 der Vereinbarung vom 25. Juni 2014 über die Änderung des Zusatzprotokolls zum revidierten DBA CH-FR; Art. 3 lit. c StAhiG; Unterscheidung zwischen Listenersuchen und Gruppenersuchen; zeitlicher Anwendungsbereich von Ziff. XI Abs. 3 Bst. a Zusatzprotokoll DBA CH-FR. Umschreibung des Verfahrensgegenstands (E. 4.1-4.2). Begriff des Listenersuchens (E. 4.3). Abgrenzung der Listenersuchen von den Gruppenersuchen (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 4.4). Charakterisierung des streitbetroffenen Ersuchens als Listenersuchen (E. 4.5). Zusammenfassung der Position der Vorinstanz (E. 5.1). Geschichtlicher Hintergrund von Ziff. XI Zusatzprotokoll DBA CH-FR (E. 5.2). Regeln über die Auslegung völkerrechtlicher Verträge gemäss Völkergewohnheitsrecht, das in der VRK kodifiziert ist (E. 5.3). Vorschriften über Amtshilfe sind unmittelbar anwendbar, soweit das Abkommen nichts anderes vorsieht (E. 5.4). Auslegung von Art. 2 Abs. 3 der Vereinbarung vom 25. Juni 2014. Resultat: Diese Bestimmung betrifft nur Gruppenersuchen; für andere Arten von Ersuchen ohne Namensangabe gilt Art. 2 Abs. 2 der Vereinbarung vom 25. Juni 2014 (E. 5.5). Fazit: Für Listenersuchen ist unter dem DBA CH-FR für Zeiträume ab 1. Januar 2010 Amtshilfe zu leisten, wenn sie die betroffenen Personen auf andere Weise als durch Angabe der Namen und Adressen identifizieren (E. 5.6).

146 II 289 (1C_632/2018) from April 16, 2020
Regeste: Art. 15, 18 und 27 RPG und Art. 47 RPV; Reduktion und Neubestimmung der Bauzone im Rahmen der Schaffung einer neuen Nutzungsplanung. Es ist bundesrechtswidrig, im Rahmen der generellen Neuregelung der Nutzungszonen eine Planungszone zu schaffen, die einzig die Aufnahme der überdimensionierten Baugebiete bezweckt und keine anderen Planungsperspektiven aufweist (E. 5.1-5.3). Die Behörde, welche die Nutzungspläne erlässt, hat zur Erfüllung der Anforderungen von Art. 47 RPV präzise darzulegen, welche Flächen sie in die Bauzone einbezog (E. 6.2 und 6.3). Bedingungen, unter denen ein Gebiet, für das eine Gestaltungsplanungspflicht besteht, als Baugebiet gelten und bei der Bestimmung der zulässigen Bauzone einbezogen werden muss (E. 7.2 und 7.3).

146 III 284 (5A_714/2019) from June 3, 2020
Regeste: Art. 72 ff. BGG; Beschwerde in Zivilsachen gegen ein Scheidungsurteil im Unterhaltspunkt; Eintritt der formellen Rechtskraft. Die Beschwerde in Zivilsachen hemmt die formelle Rechtskraft eines Unterhaltsentscheids der oberen kantonalen Instanz von Gesetzes wegen nicht (E. 2).

146 IV 88 (6B_614/2019) from Dec. 3, 2019
Regeste: Art. 91a Abs. 1 i.V.m. Art. 55 Abs. 1 und 2 SVG und Art. 10 Abs. 2 SKV; Verweigerung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit; Betäubungsmittelvortests; hinreichende Verdachtsmomente zur Durchführung; Beweiswert. Für die Durchführung von Vortests nach Art. 10 Abs. 2 SKV genügen geringe Anzeichen einer durch Betäubungs- oder Arzneimittel beeinträchtigten Fahrfähigkeit; eines hinreichenden Tatverdachts, wie er zur Anordnung strafprozessualer Zwangsmassnahmen nach Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO erforderlich ist, bedarf es nicht (E. 1.4.2). Art. 91a SVG ist ein Erfolgsdelikt. Der Tatbestand ist erfüllt, wenn die zuverlässige Ermittlung der Fahrunfähigkeit mittels der im Gesetz vorgesehenen Untersuchungsmethoden durch aktiven oder passiven Widerstand verunmöglicht wird, d.h. definitiv nicht mehr möglich ist. Die Verweigerung von Betäubungsmittelvortests genügt hierzu nicht, da diesen lediglich eine Indikatorfunktion zukommt und sie nicht geeignet sind, den relevanten medizinischen Zustand der betroffenen Person zum Abnahme- bzw. Fahrzeitpunkt exakt festzustellen (E. 1.6.2 und 1.6.3).

146 IV 279 (1B_292/2020) from July 6, 2020
Regeste: Art. 5 Abs. 2, Art. 229 Abs. 3 lit. b, Art. 227 StPO; Anordnung von Sicherheitshaft bei vorbestehender Untersuchungshaft, Dauer. Die Anordnung von Sicherheitshaft für längstens 3 Monate ist die Regel, für längstens 6 Monate die Ausnahme. Die Sicherheitshaft darf nicht für 6 Monate bewilligt werden, wenn das erstinstanzliche Gericht aufgrund der Umstände und mit Blick auf das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen in der Lage sein müsste, die Hauptverhandlung innert 3 Monaten anzusetzen (E. 2). Dies a quo ist der Tag des Eingangs der Anklageschrift beim erstinstanzlichen Gericht. Festlegung des dies ad quem im zu beurteilenden Fall (E. 3).

146 IV 311 (6B_1031/2019) from Sept. 1, 2020
Regeste: Art. 2 Abs. 1, Art. 49 Abs. 2 und Art. 66a sowie Art. 66b StGB; strafrechtliches Rückwirkungsverbot in Bezug auf die neuen Bestimmungen über die Landesverweisung; Wiederholungsfall; retrospektive Konkurrenz bei Landesverweisung. Das Strafgericht kann die Landesverweisung erst dann anordnen, wenn der Täter die Anlasstat nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen über die Landesverweisung begangen hat. Das Rückwirkungsverbot gilt grundsätzlich auch für Massnahmen (E. 3.2.2). Ein Wiederholungsfall nach Art. 66b StGB ist ab der Rechtskraft des Urteils bis zum Ablauf der Dauer der Landesverweisung sowie nach dem Ablauf der Dauer einer ersten Landesverweisung möglich (E. 3.5.1). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung zum Zusammentreffen zweier altrechtlicher Landesverweisungen sind diese nicht kumulativ, sondern nach dem Absorptionsprinzip zu vollziehen (E. 3.6.1). Das Bundesgericht berücksichtigt die Rechtsprechung zu aArt. 55 StGB unter dem Titel von Art. 66a StGB (E. 3.6.2). Die heutige Landesverweisung ist als Institut des Strafrechts und nach der Intention des Gesetzgebers primär als sichernde Massnahme zu verstehen. Somit steht weiterhin nicht der Straf- sondern vielmehr der Massnahmecharakter im Vordergrund. Es besteht kein Anlass, von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Zusammentreffen zweier altrechtlicher Landesverweisungen gemäss BGE 117 IV 229 abzuweichen. Demnach gelangt nicht das Kumulations- sondern das Absorptionsprinzip zur Anwendung. Das heisst, dass die im Zeitpunkt des neuen Urteils weniger lange dauernde in der längeren Landesverweisung aufgeht (E. 3.7).

146 V 331 (9C_135/2020) from Sept. 30, 2020
Regeste: Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG; Art. 16 Abs. 2 FZV; Zeitpunkt der Anrechnung von Guthaben eines Freizügigkeitskontos bei rückwirkender Ausrichtung von Ergänzungsleistungen zur Invalidenrente. Übersicht über die Rechtsprechung. Ein verzehrbarer Vermögenswert im Sinne von Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG liegt nicht erst mit dem tatsächlich erfolgten Bezug des Freizügigkeitsguthabens vor, sondern bereits dann, wenn dieser rechtlich zulässig ist (E. 3 und 4). Der in Art. 16 Abs. 2 FZV normierte Anspruch auf Auszahlung des Guthabens eines Freizügigkeitskontos entsteht mit Rechtskraft der Zusprache einer ganzen Rente der Invalidenversicherung (E. 5).

147 I 297 (1C_130/2020) from April 9, 2021
Regeste: Art. 82 lit. c BGG, Art. 34 Abs. 2 BV; Art. 17 Abs. 3 des Gesetzes des Kantons Tessin über die politischen Rechte und Art. 10 Abs. 1 der dazugehörigen Verordnung. Grundsätze der Objektivität und Transparenz betreffend die in der Abstimmungsbotschaft enthaltenen Informationen zu einer kantonalen Volksinitiative. Die kategorische Behauptung der Regierung in der Abstimmungsbotschaft, die umstrittene Gesetzesinitiative bewirke eine Ungleichbehandlung und eine Verletzung von Bundesrecht, ist weder objektiv noch transparent noch vollständig, da es sich in Wahrheit um blosse Zweifel handelt (E. 4). Die den Stimmbürgern vor der Abstimmung abgebenen Informationen beschränkten sich zudem auf die Stellungnahmen des Staatsrats und des Beschwerdeführers, dem ersten Unterzeichner der Initiative, was das grosse Gewicht der mit der Abstimmungsbotschaft verbreiteten Informationen nicht aufzuwiegen vermochte. Angesichts der geringen Stimmendifferenz (50.26 % Nein-Stimmen und 49.74 % Ja-Stimmen) könnten die festgestellten Unregelmässigkeiten das Ergebnis der Volksabstimmung beeinflusst haben; diese muss deshalb aufgehoben werden (E. 5).

147 III 32 (4A_86/2020) from Jan. 5, 2021
Regeste: Art. 269b, 269d, 270a OR; indexierte Mietzinse; Herabsetzungsbegehren nach Ablauf der Mindestmietdauer; relative Berechnungsmethode und Ablehnung der absoluten Methode. Anwendbarkeit der relativen Berechnungsmethode beim Begehren um Änderung eines indexierten Mietzinses per Ablauf der Mindestmietdauer (E. 3.4.1). Nichtanwendbarkeit der absoluten Berechnungsmethode beim Begehren des Mieters auf Herabsetzung eines indexierten Mietzinses per Ablauf der Mindestmietdauer (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 3.5).

147 III 238 (4F_7/2020) from Feb. 22, 2021
Regeste: Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG; Revision eines Bundesgerichtsurteils aufgrund von nachträglich entdeckten Tatsachen oder Beweismitteln. Stufen des Revisionsverfahrens vor Bundesgericht (E. 1). Zuständigkeit und Kognition des Bundesgerichts im Revisionsverfahren nach Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG (E. 2 und 3). Voraussetzungen der Revision nach Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG (E. 4).

147 IV 108 (6B_780/2019) from Aug. 17, 2020
Regeste: Art. 34 Abs. 3 StPO; nachträgliche Gesamtstrafenbildung. Art. 34 Abs. 3 StPO stellt sicher, dass die materiell-rechtlichen Vorschriften der Gesamtstrafenbildung von der verurteilten Person wirksam durchgesetzt werden können (E. 2.2.1). Das Verfahren gemäss Art. 34 Abs. 3 StPO ist ein Verfahren "sui generis", auf das die Vorschriften über "Verfahren bei selbstständigen nachträglichen Entscheiden des Gerichts" gemäss Art. 363 ff. StPO (sinngemäss) Anwendung finden, soweit Art. 34 Abs. 3 StPO keine abweichende Regelung enthält (E. 2.2.2). Art. 34 Abs. 3 StPO regelt nicht, wie die Gesamtstrafe zu bilden ist; dies ergibt sich ausschliesslich aus der jeweiligen materiell-rechtlichen Norm (Art. 46 Abs. 1 Satz 2, Art. 49, Art. 62a Abs. 2 und Art. 89 Abs. 6 StGB) (E. 2.2.3). Gegenstand des Nachverfahrens gemäss Art. 34 Abs. 3 StPO ist ausschliesslich, die unterlassene Gesamtstrafenbildung durch Asperation der rechtskräftigen Strafen nachzuholen. Das Nachgericht hat weder die Rechtmässigkeit der früheren Verurteilungen noch die Angemessenheit der ausgesprochenen Strafen zu prüfen (E. 2.2.4 und 2.2.5). Die Vollzugsform (bedingt, teil- oder unbedingt) spielt für die Beurteilung der Gleichartigkeit der ausgesprochenen Strafen keine Rolle (E. 3.1-3.4). Die richterliche Fürsorgepflicht kann erfordern, die beschuldigte Person auf eine mögliche oder gesetzlich zwingende Änderung der Vollzugsform infolge der nachträglichen Gesamtstrafenbildung hinzuweisen und ihr die Möglichkeit einzuräumen, den gestellten Antrag zurückzuziehen (E. 3.6).

147 V 10 (9C_63/2020) from Jan. 7, 2021
Regeste: Art. 26 Abs. 4 BVG; Regressforderung; Schadenszins. Zur Regressforderung gehört ein Regress- resp. Schadenszins (E. 4). Dessen Höhe richtet sich nach dem BVG-Mindestzinssatz plus ein Prozent (E. 5).

147 III 265 (5A_311/2019) from Nov. 11, 2020
Regeste: Art. 276, 276a, 285 und 286a ZGB; Berechnung des Kindesunterhaltes; Verbindlichkeit der zweistufigen Methode mit Überschussverteilung. Grundsätze des Kindesunterhaltes (E. 5). Das Kind hat Anspruch auf gebührenden Unterhalt (E. 5.1 und 5.2). Dieser umfasst den Barunterhalt sowie einen allfälligen Betreuungsunterhalt (E. 5.3). Er bemisst sich nach den Bedürfnissen des Kindes sowie der Lebensstellung und Leistungsfähigkeit der Eltern (E. 5.4). Steht das Kind unter alleiniger Obhut, hat im Grundsatz der andere Elternteil den gesamten Geldunterhalt zu tragen; bei alternierender Obhut ist er von den Eltern im umgekehrten Verhältnis zu den Betreuungsanteilen und allenfalls im Verhältnis der Leistungsfähigkeit zu tragen (E. 5.5). Behandlung von Mankofällen (E. 5.6). Methodik zur Unterhaltsberechnung (E. 6). Abkehr vom bisherigen Methodenpluralismus (E. 6.1). Lebenshaltungskostenmethode als Ausgangspunkt. Unzulässigkeit abstrakter Methoden, namentlich von Quotenmethoden (E. 6.2). Konkrete Methoden (E. 6.3). Unzulässigkeit der Verwendung von Tabellen (E. 6.4). Unzulässigkeit der einstufig-konkreten Methode (E. 6.5). Verbindlichkeit der zweistufig-konkreten Methode für alle Arten des Kindesunterhaltes (E. 6.6). Vorgehensweise bei der zweistufig-konkreten Methode (E. 7). Ermittlung der relevanten Einkommen (E. 7.1). Ermittlung des Bedarfes bzw. des gebührenden Unterhalts (E. 7.2). Bemessung des Unterhaltsbeitrages: Reihenfolge bei der Verteilung der Ressourcen auf die einzelnen Unterhaltskategorien und Bedarfsgrössen; Verteilung eines allfälligen Überschusses im Grundsatz nach grossen und kleinen Köpfen; Behandlung von Sparquoten (E. 7.3). Die zweistufig-konkrete Methode ist zivilstandsunabhängig anzuwenden. Besondere Verhältnisse des Einzelfalles sind zu berücksichtigen. Bei der Ausschöpfung der Erwerbskapazität besteht in Bezug auf den Kindesunterhalt eine besondere Anstrengungspflicht (E. 7.4). Anwendung der genannten Grundsätze auf den vorliegenden Fall (E. 8).

148 I 271 (1D_4/2021) from March 8, 2022
Regeste: Art. 8 Abs. 1, Art. 9, Art. 29 Abs. 1, Art. 37 Abs. 1, Art. 38 Abs. 2, Art. 49 und 61a ff. BV, Art. 11 und 12 BüG, Art. 6 Abs. 2 und 3 BüV, Art. 2, 3 und 5 MAV; verfassungskonforme Anwendung der gesetzlichen Anforderungen an die Sprachkenntnisse für die ordentliche Einbürgerung. Verfassungsgrundlagen sowie gesetzliche Regelung der Sprachanforderungen im Bund und im Kanton bei der ordentlichen Einbürgerung (E. 2 und 3). Zulässigkeit des Erfordernisses der Kenntnisse der Lokalsprache in einem mehrsprachigen Kanton gemäss Bundes- und Kantonsverfassung (E. 4). Verfassungswidrigkeit der Nichtanerkennung der genügenden Maturanote für die Lokalsprache als ausreichenden Sprachnachweis (E. 5).

148 III 161 (5A_568/2021) from March 25, 2022
Regeste: Art. 125 ZGB; nachehelicher Unterhalt; Frage der Lebensprägung bei einer Kurzehe mit Kind. Für die Festlegung des gebührenden nachehelichen Unterhalts nimmt die Rechtsprechung zum Ausgangspunkt, ob eine Ehe lebensprägend war oder nicht (E. 4.1). Weiterentwicklung des Begriffs der Lebensprägung (E. 4.2). Nachteile, die einem Elternteil aus der (nachehelichen) Betreuung eines während der Ehe geborenen gemeinsamen Kindes erwachsen, werden neu vorrangig durch den Betreuungsunterhalt (Art. 276 und 285 ZGB) abgegolten und lassen für sich genommen eine Ehe nicht als lebensprägend erscheinen (E. 4.3.1). Auch eine für weniger als ein Jahr gelebte klassische Rollenteilung (Hausgattenehe) und die berufliche Abhängigkeit eines Ehegatten vom anderen begründen die Lebensprägung nicht (E. 4.3.2 und 4.3.3). Rückweisung der Angelegenheit an die Vorinstanz zur Prüfung, ob bei nichtlebensprägender Ehe und demzufolge unter Anknüpfung an die vorehelichen Verhältnisse ein Unterhaltsbeitrag geschuldet ist (E. 5.1 und 5.2).

148 IV 314 (1C_116/2022) from March 21, 2022
Regeste: Art. 3 EMRK; Art. 10 Abs. 1 UNO-Pakt II; Art. 10 Abs. 3 BV; Art. 1, 26 Ziff. 1 und 3 EAUe; Art. 84 BGG; Auslieferung an Armenien; reziproke Anwendung eines Vorbehalts; Gesundheitszustand; diplomatische Garantien. Besonders bedeutender Fall gemäss Art. 84 BGG aufgrund konkreter Hinweise einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in armenischer Haft (E. 1.3). Pflicht zur Prüfung, ob der armenische Vorbehalt zu Art. 1 EAUe einer Auslieferung entgegensteht (E. 2). Zusammenfassung der Grundsätze und Kriterien zu den diplomatischen Garantien (E. 3). Anwendung dieser Praxis im vorliegenden Fall bei prekären Haftbedingungen, insbesondere der kritischen medizinischen Versorgung in den armenischen Gefängnissen, sowie beim Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, namentlich seiner chronischen Erkrankung (E. 4.1-4.5). Ungenügen der bisher eingeholten Garantien (E. 4.6). Notwendigkeit einer zusätzlichen Garantie (E. 5.1). Die vom Bundesstrafgericht geforderte Zusatzgarantie kann nicht realisiert werden (E. 5.2-5.4). Rückweisung an das Bundesamt für Justiz (BJ) (E. 5.5).

148 V 217 (9C_32/2021) from April 5, 2022
Regeste: Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG; Art. 23 Abs. 4 lit. a AHVG; Rückerstattung unrechtmässig bezogener Rentenleistungen; Auslösung der Verwirkungsfrist. Beruht die unrechtmässige Leistungsausrichtung auf einem Fehler der Verwaltung, so beginnt die relative Verwirkungsfrist erst beim sog. "zweiten Anlass". Hingegen ist bereits die zumutbare Kenntnisnahme fristauslösend, wenn sich die Unrechtmässigkeit der Leistungserbringung direkt aus den Akten ergibt, mithin hinsichtlich des Rückforderungstatbestands kein Abklärungsbedarf (mehr) besteht. Präzisierung der Rechtsprechung (E. 5). Im konkreten Fall Fristauslösung mit zumutbarer Kenntnisnahme der leistungserbringenden Behörde. Massgeblich ist der Zeitpunkt, in welchem die Wiederverheiratung des Bezügers einer Witwerrente Eingang in die Akten der Ausgleichskasse fand, nachdem bezüglich des von Gesetzes wegen erloschenen Rentenanspruchs keine ungeklärten Aspekte vorhanden waren. Eines "zweiten Anlasses" bedarf es unter diesen Umständen nicht (E. 6).

148 V 286 (8C_701/2021) from May 4, 2022
Regeste: Art. 5 und 15 UVG; Art. 24 Abs. 2 und Art. 138 UVV; Anpassung des versicherten Verdienstes bei verzögertem Rentenbeginn in der freiwilligen Versicherung. Der erhebliche und langandauernde Unterschied zwischen dem im Unfallzeitpunkt vereinbarten versicherten Verdienst und dem ausgewiesenen AHV-beitragspflichtigen Einkommen, der Übertritt von der freiwilligen in die obligatorische Unfallversicherung nach wiedererlangter voller Arbeitsfähigkeit und die Entstehung des Rentenanspruchs mehr als fünf Jahre nach dem versicherten Ereignis können im Ausnahmefall eine Anpassung des vereinbarten Vorunfallverdienstes in analoger Anwendung von Art. 24 Abs. 2 UVV begründen (Änderung der Rechtsprechung; E. 9.3.8).

149 I 172 (8C_740/2021) from Jan. 19, 2023
Regeste: Art. 49 BV; Art. 65 Abs. 3 Satz 1 KVG; Prämienverbilligung durch die Kantone; Berücksichtigung der aktuellsten Einkommensverhältnisse. Die altrechtliche Regelung des Einführungsgesetzes und der Verordnung zum Krankenversicherungsgesetz des Kantons Zürichs, welche bei einem rückwirkenden Antrag auf Prämienverbilligung eine im bereits abgeschlossenen Anspruchsjahr eingetretene Einkommenseinbusse unberücksichtigt lässt, widerspricht Sinn und Geist des Bundesrechts (E. 5.5). Eine übergangsrechtlich begründete Bemessungslücke, welche dazu führt, dass die finanziellen Verhältnisse der Versicherten eines konkreten Jahres bei der Bestimmung des Anspruchs auf Prämienverbilligung in keinem Anspruchsjahr berücksichtigt werden, lässt sich ebenfalls nicht mit den Vorgaben des Bundesrechts vereinbaren (E. 5.6).

149 II 27 (9C_677/2021) from Feb. 23, 2023
Regeste: Art. 32 Abs. 2 DBG; Unterhaltskosten für Liegenschaften; Abzug von Instandstellungskosten bei "wirtschaftlichem Neubau" (Praxisänderung). Zu den Unterhaltskosten gehören gemäss der am 1. Januar 2010 in Kraft getretenen Fassung von Art. 32 Abs. 2 DBG u.a. die Kosten der Instandstellung von neu erworbenen Liegenschaften (Abschaffung der sog. Dumont-Praxis). Kosten für Arbeiten im Zusammenhang mit einer Totalsanierung oder dem völligen Um- oder Ausbau (sog. wirtschaftlicher Neubau) sind als Instandstellungskosten abzugsfähig, soweit sie aufgrund ihres objektiv-technischen Charakters dazu dienen, einen früheren Zustand der Liegenschaft wiederherzustellen, mithin werterhaltend wirken (Praxisänderung; E. 4.3-4.7).

149 II 290 (9C_698/2022) from June 21, 2023
Regeste: Art. 957 ff., Art. 958c Abs. 1 Ziff. 7 OR; Art. 10 ff., Art. 18 Abs. 1, Art. 19 Abs. 1, Art. 24 Abs. 1 und 6 lit. b, Art. 70 Abs. 1 MWSTG 2009; Wesen und Grenzen einer Entgeltsminderung. Ob eine oder zwei (Haupt-)Leistungen vorliegen (E. 2), ist anhand objektiver wirtschaftlicher Überlegungen zu klären. Von Bedeutung ist dabei auch das Handelsrecht (E. 3.3). Produktionskosten, die ein Forstunternehmen an die Urproduzenten weiterbelastet und von diesen im Gegenzug Holz "ab Stock" bezieht, stellen keine Entgeltsminderung dar; sie sind als eigenständige Leistung zu versteuern (E. 3.4 und 3.5).

149 II 462 (9C_610/2022) from Sept. 7, 2023
Regeste: Art. 132 Abs. 1 BV; Art. 83 lit. m, Art. 113 BGG; Art. 6 Abs. 1 lit. k, Art. 12 StG; Erlass der Emissionsabgabe bzw. emissionsabgaberechtlicher Freibetrag. Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Erlass der Emissionsabgabe ergehen letztinstanzlich; sie können vor Bundesgericht weder mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten noch mit der subsidiären Verfassungsbeschwerde angefochten werden (E. 1.2). Charakter und Auslegung der Emissionsabgabe (E. 2). Der emissionsabgaberechtliche Freibetrag von Fr. 10'000'000.- erfordert in buchungstechnischer Hinsicht die tatsächliche Ausbuchung bestehender Verluste (sachliches Element). Dies hat im Zeitpunkt zu geschehen, in welchem die Sanierungsmassnahme zu verbuchen ist (zeitliches Element; E. 3).

149 IV 135 (1B_614/2022, 1B_628/2022) from Jan. 10, 2023
Regeste: Art. 222 StPO; kein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen Haftentlassungsentscheide; Änderung der Rechtsprechung. Darlegung der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wonach die Staatsanwaltschaft - entgegen dem Wortlaut von Art. 222 StPO - einen Haftentlassungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts anfechten konnte, sowie der Kritik an dieser Rechtsprechung (E. 2.2). Ausdrücklicher Verzicht des Gesetzgebers, im Rahmen der StPO-Revision die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft zu übernehmen (E. 2.3). Unter diesen Umständen besteht für das Bundesgericht Anlass, seine Rechtsprechung per sofort zu ändern (E. 2.4). Angesichts der unvorhersehbaren und unangekündigten Rechtsprechungsänderung keine sofortige Haftentlassung. Rückweisung an das Zwangsmassnahmengericht zum erneuten Entscheid (E. 3).

149 IV 231 (6B_627/2022) from March 6, 2023
Regeste: Art. 66a und 66d StGB; strafrechtliche Landesverweisung. Bestätigung der Grundzüge der strafrechtlichen Landesverweisung (E. 2.1). Allfällige Vollzugshindernisse der Landesverweisung im Sinne von Art. 66d Abs. 1 StGB müssen bereits im Zeitpunkt des Entscheids über die Landesverweisung berücksichtigt werden, soweit die Verhältnisse stabil sind und sich definitiv bestimmen lassen (E. 2.1.2). Vorliegend stellte das kantonale Gericht eine Gefahr für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Falle einer Rückkehr des tibetischen Beschwerdeführers in die Volksrepublik China fest, welche dem Vollzug der Landesverweisung in dieses Land in Anwendung von Art. 66d Abs. 1 lit. b StGB entgegensteht. Indem das kantonale Gericht eine Landesverweisung des Beschwerdeführers "in einen Drittstaat" unter Ausschluss der Volksrepublik China aussprach, ohne Präzisierung des Drittstaats, hat es Bundesrecht verletzt. Eine Landesverweisung kann nicht gestützt auf blosse Vermutungen in Bezug auf das Ausreiseland ausgesprochen werden. Des Weiteren verlangt die Wegweisung in einen Drittstaat, dass eine solche möglich ist, d.h. der Ausländer dort über ein Aufenthaltsrecht verfügt (E. 2.4).

149 V 2 (9C_663/2021) from Nov. 6, 2022
Regeste: Art. 185 Abs. 3 BV; Art. 5 Abs. 2 der Covid-19-Verordnung Erwerbsausfall; Entschädigung für den Erwerbsausfall einer selbständigerwerbenden Person aufgrund des Coronavirus; Gesetz- und Verfassungsmässigkeit der Bestimmungen der Covid-19-Verordnung Erwerbsausfall betreffend den Betrag und die Berechnung der Entschädigung in den verschiedenen zeitlich massgebenden Versionen. Sinn und Zweck von Art. 5 Abs. 2 der Covid-19-Verordnung Erwerbsausfall in der Fassung vom 6. Juli 2020 und der Art. 5 Abs. 2bis und 2ter derselben Verordnung in der Fassung vom 8. Oktober 2020, wie sie ab dem 17. September 2020 in Kraft standen, ist es festzusetzen, dass das Taggeld aufgrund der Steuerdaten für das Jahr 2019 zu berechnen ist, welche der Verwaltung spätestens bis zum 16. September 2020 vorgelegen haben müssen (E. 11.3.2). Während die Fassung der Verordnung vom 6. Juli 2020 aufgrund der Dringlichkeit der damaligen Situation (E. 9) eine verfassungsrechtliche Immunität geniesst, ist die ab 17. September 2020 in Kraft gestandene Fassung von dieser nicht gedeckt und verstösst gegen den Grundsatz der Rechtsgleichheit (E. 11, insbesondere E. 11.4).

150 II 168 (2C_317/2023) from March 1, 2024
Regeste: Art. 9 BGBB; Bewilligung zum Erwerb eines landwirtschaftlichen Grundstücks; Begriff des Selbstbewirtschafters. Einschlägige Bestimmungen und Rechtsprechung zum Begriff des Selbstbewirtschafters (E. 4.1). Die Grundsätze, die zur Anerkennung der Bewirtschaftung eines landwirtschaftlichen Gewerbes in Form einer juristischen Person entwickelt wurden, gelten mutatis mutandis auch für landwirtschaftliche Grundstücke (E. 4.1.2). Eine Person, die eine Vergangenheit mit Bezug zur Landwirtschaft aufweist und in diesem Bereich über ausländische Diplome, die von der zuständigen Behörde als gleichwertig mit einem Fähigkeitsausweis beurteilt wurden, und aktuelle Kenntnisse verfügt, die durch Zeugnisse von Landwirten belegt sind, sowie beabsichtigt, das Grundstück langfristig selbst zu bewirtschaften, ist als Selbstbewirtschafterin zu qualifizieren. Die Tatsache, dass die betroffene Parzelle künftig umgezont werden könnte, ist für die Anwendung von Art. 9 BGBB nicht relevant. Gleiches gilt für den Umstand, dass das geplante Obstbauprojekt erst in etwa zehn Jahren ein Einkommen generieren wird (E. 4.2-4.5).

150 II 202 (9C_83/2023) from Dec. 19, 2023
Regeste: a Art. 22 Abs. 1 DBG; Einkünfte aus Vorsorge. Steuerliche Einordnung von Renten (Beiträge wie Auszahlungen) aus einem ausländischen Vorsorgewerk in die Systematik von Art. 22 Abs. 1 DBG (E. 4).

150 III 97 (5A_33/2023) from Dec. 20, 2023
Regeste: Art. 133 Abs. 1 Ziff. 1 i.V.m. Art. 296 Abs. 2 sowie Art. 298 Abs. 1 und 2ter ZGB; Ehescheidung; elterliche Sorge; Unzulässigkeit der Zuteilung der alleinigen elterlichen Sorge an einen Elternteil bei gemeinsamer Obhut des Kindes durch beide Eltern. Auch im Kontext der Ehescheidung bildet die gemeinsame elterliche Sorge den Grundsatz, von dem nur ausnahmsweise abgewichen werden soll (E. 4.2). Das Gesetz eröffnet nicht die Möglichkeit, einem Elternteil zwar die (gemeinsame) Obhut, nicht jedoch das (gemeinsame) Sorgerecht einzuräumen. Daher ist es gesetzwidrig, trotz alternierender Obhut der Eltern die elterliche Sorge nur einem Elternteil zu übertragen (E. 4.3). Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Prüfung, ob unter Belassung der gemeinsamen elterlichen Sorge einem Elternteil in Teilbereichen alleinige Entscheidbefugnisse zu übertragen sind (E. 4.4).

150 III 153 (5A_176/2023) from Feb. 9, 2024
Regeste: Art. 286 Abs. 2 ZGB; Betreuungsunterhalt; Neufestsetzung des Unterhaltsbeitrags zufolge Erhöhung des Einkommens des hauptbetreuenden Elternteils. Enthält der in einem ersten Entscheid zugesprochene Kindesunterhaltsbeitrag einen Anteil Betreuungsunterhalt und verbessert sich die Eigenversorgungskapazität des hauptbetreuenden Elternteils erheblich und dauerhaft, hat das mit dem Abänderungsbegehren befasste Gericht den Kindesunterhalt nach Massgabe der zweistufig-konkreten Methode mit Überschussverteilung neu zu bestimmen, ohne eine weitergehende Gesamtbetrachtung vorzunehmen (E. 3.2 und 5.3).

150 V 7 (9C_482/2022) from Jan. 31, 2024
Regeste: Art. 10 Abs. 3 lit. c ELG; Art. 14a Abs. 2 ELV; Berücksichtigung des AHV/ IV/EO-Mindestbeitrags für Nichterwerbstätige bei Teilinvaliden mit Anrechnung eines hypothetischen Erwerbseinkommens als anerkannte Ausgabe. Der einer teilinvaliden, nichterwerbstätigen Person im fraglichen Kalenderjahr in Rechnung gestellte AHV/IV/EO-Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige, der von ihr rechtzeitig geleistet wurde und damit nicht mehr zur Bestreitung des Lebensunterhaltes zur Verfügung stand, stellt eine anerkannte Ausgabe im Sinne von Art. 10 Abs. 3 lit. c ELG dar. Ihm ist bei der Ermittlung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen für das betreffende Kalenderjahr Rechnung zu tragen (E. 2 und 3).

150 V 235 (8C_229/2023) from April 26, 2024
Regeste: Art. 8 Abs. 1, Art. 24 Abs. 1 und 3 AVIG; Höhe des anzurechnenden Zwischenverdienstes. Unter dem erzielten Zwischenverdienst gemäss Art. 24 Abs. 1 und 3 AVIG ist nicht der arbeitgeberseitig ausbezahlte Geldbetrag, sondern der arbeitsvertraglich festgelegte Lohnanspruch zu verstehen (E. 7).

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