Schweizerisches Strafgesetzbuch

vom 21. Dezember 1937 (Stand am 22. November 2022)


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Art. 43

2. Teil­be­ding­te Frei­heits­s­tra­fe

 

1 Das Ge­richt kann den Voll­zug ei­ner Frei­heits­s­tra­fe von min­des­tens ei­nem Jahr und höchs­tens drei Jah­ren teil­wei­se auf­schie­ben, wenn dies not­wen­dig ist, um dem Ver­schul­den des Tä­ters ge­nü­gend Rech­nung zu tra­gen.34

2 Der un­be­dingt voll­zieh­ba­re Teil darf die Hälf­te der Stra­fe nicht über­stei­gen.

3 So­wohl der auf­ge­scho­be­ne wie auch der zu voll­zie­hen­de Teil müs­sen min­des­tens sechs Mo­na­te be­tra­gen.35 Die Be­stim­mun­gen über die Ge­wäh­rung der be­ding­ten Ent­las­sung (Art. 86) sind auf den un­be­dingt zu voll­zie­hen­den Teil nicht an­wend­bar.

34 Fas­sung ge­mä­ss Ziff. I 1 des BG vom 19. Ju­ni 2015 (Än­de­run­gen des Sank­tio­nen­rechts), in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2016 1249; BBl 2012 4721).

35 Fas­sung ge­mä­ss Ziff. I 1 des BG vom 19. Ju­ni 2015 (Än­de­run­gen des Sank­tio­nen­rechts), in Kraft seit 1. Jan. 2018 (AS 2016 1249; BBl 2012 4721).

BGE

87 IV 1 () from 3. Februar 1961
Regeste: Art. 42 StGB; Verwahrung, Anrechnung der verbüssten Strafe bzw. der Untersuchungshaft auf die Mindestdauer. 1. Ist die Verwahrung ausgeschlossen, wenn die Freiheitsstrafe, an deren Stelle sie treten würde, bereits verbüsst ist (Erw. 2)? 2. Kann die verbüsste Strafzeit bzw. die Untersuchungshaft auf die dreijährige Mindestdauer gemäss Ziff. 5 Satz 1 angerechnet werden (Erw. 3)?

97 I 919 () from 12. November 1971
Regeste: 1. Art. 104 lit. a OG. Berücksichtigung von Gesetzesänderungen. Anwendung nach Erlass der angefochtenen Verfügung in Kraft getretenen Rechtes, wenn es für den Betroffenen günstiger ist als das alte und nicht in wohlerworbene Rechte Dritter eingegriffen wird (Erw. 2). 2. Widerruf der bedingten Entlassung aus der Arbeitserziehung. a) Art. 336 lit. e, 100 ter StGB. Anwendbarkeit des neuen Rechts (Erw. 1). b) Art. 100 ter Ziff. 1 Abs. 2 StGB. Begriff des leichten Falles (Erw. 3).

99 IB 351 () from 9. November 1973
Regeste: Art. 43 StGB; Massnahmen an geistig Abnormen. 1. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist zulässig gegen einen Entscheid des Staatsrates des Kantons Freiburg, der eine Verfügung des Strafvollzuges sein will (Erw. 1). 2. Der Vollzug einer Verwahrung gemäss Art. 43 StGB muss sich auf eine gültige richterliche Anordnung dieser Massnahme stützen (Erw. 3). 3. Anspruch auf rechtliches Gehör beim Vollzug einer Massnahme, deren Anordnung längere Zeit zurückliegt (Erw. 4).

100 IV 201 () from 29. November 1974
Regeste: Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB. Nur wenn die Durchführung oder der Heilerfolg der Behandlung es erfordern, ist der Strafvollzug aufzuschieben.

101 IB 156 () from 6. Juni 1975
Regeste: Art. 45 Ziff. 6 StGB. Sind seit der Verurteilung, dem Rückversetzungsbeschluss oder der Unterbrechung einer Verwahrung gemäss Art. 43 StGB mehr als fünf Jahre verstrichen, so entscheidet der Richter - und nicht eine Verwaltungsbehörde - über die Notwendigkeit einer Fortsetzung der unterbrochenen Massnahme.

101 IV 124 () from 28. Mai 1975
Regeste: Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 und 3 StGB; Verwahrung geistig Abnormer. 1. Schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit (Erw. 2). 2. Notwendigkeit der Verwahrung; Bedeutung des Gutachtens (Erw. 3).

101 IV 129 () from 17. April 1975
Regeste: Art. 43 Ziff. 1 Abs. 3 StGB. Es ist ein Verstoss gegen Art. 4 BV gegeben, wenn das Gericht in Fragen, deren Beantwortung besondere Fachkenntnisse voraussetzt, von den Folgerungen einer Expertise gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 3 StGB abweicht, ohne dass begründete Tatsachen deren Überzeugungskraft ernstlich erschüttern.

101 IV 270 () from 17. November 1975
Regeste: Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB. Ob die vom Richter angeordnete ambulante Behandlung mit dem unverzüglichen Vollzug der Freiheitsstrafe vereinbar sei oder nicht, ist Ermessensfrage.

101 IV 274 () from 6. September 1975
Regeste: 1. Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB. Nur wenn die Durchführung oder der Heilerfolg der Behandlung es erfordern, ist der Strafvollzug aufzuschieben (Erw. 1). 2. Art. 41 Ziff. 3 StGB. Bedingter Strafvollzug in einem Urteil betr. Fahren in angetrunkenem Zustand. Widerruf, weil während der Probezeit das gleiche Delikt erneut begangen wurde (Erw. 2).

101 IV 354 () from 9. Oktober 1975
Regeste: 1. Art. 19 Ziff. 1 Abs. 2 und 7 Satz 2 BetMG (Fassung vom 3.10.1951). Das besonders ausgeprägte Streben nach Gewinn, bei dem der Täter sich bedenkenlos über die durch Gesetze gezogenen Schranken hinwegsetzt, ist gewinnsüchtig, gleichgültig, ob er seinen Lebensunterhalt statt mit ehrlicher Arbeit durch die Straftat finanzieren oder ob er seine Sucht nach Drogen befriedigen will (Erw. 3). 2. Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB. Schiebt der Sachrichter den Strafvollzug im Sinne dieser Bestimmungen auf, weil er aus den Umständen schliesst, dass der unverzügliche Vollzug der Freiheitsstrafe die Erfolgsaussichten einer schon begonnenen und aussichtsreichen Heilbehandlung eines Drogensüchtigen ernsthaft gefährden werde, so hat er das ihm zustehende Ermessen nicht überschritten (Erw. 4).

102 IV 70 () from 14. August 1976
Regeste: Art. 42 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. Auch derjenige kann erneut verwahrt werden, der das neue Verbrechen oder Vergehen während der bedingten Entlassung aus einer Verwahrung verübt hat.

102 IV 84 () from 14. August 1976
Regeste: Art. 148 StGB. Kreditbetrug. Bedeutung von Zahlungswillen und Vermögensverhältnissen zur Zeit des Vertragsabschlusses für die Kreditwürdigkeit zur Zeit der Fälligkeit des Darlehens (Erw. 3). Wenn die Darlehensforderung erheblich gefährdet und infolgedessen in ihrem Werte wesentlich herabgesetzt ist, liegt eine Vermögensschädigung vor (Erw. 4). Vermögensschädigung durch unwahre Angaben über Verwendungszweck des Darlehens und Vermögensverhältnisse trotz Rückzahlungsbereitschaft (Erw. 5).

102 IV 234 () from 17. November 1976
Regeste: Art. 43 und 44 StGB. Verhältnis der beiden Bestimmungen zueinander. Rauschgiftsüchtige, deren Behandlung zum vorneherein aussichtslos ist, können ohne vorausgehende Einweisung in eine für sie bestimmte Heilanstalt nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB verwahrt werden, wenn die Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllt sind.

103 IV 76 () from 6. Mai 1977
Regeste: Art. 58 StGB. 1. Erklärt kantonales Recht in seinem Bereich allgemeine Bestimmungen des eidg. StGB als anwendbar, so gelten diese nicht als eidgenössisches, sondern als kantonales Recht, dessen Verletzung mit der eidg. Nichtigkeitsbeschwerde nicht gerügt werden kann (Erw. 1). 2. Die Einziehung gefährlicher Gegenstände erfordert einen unmittelbaren Zusammenhang mit einer konkreten Straftat; eine bloss allgemeine Bestimmung oder Eignung von solchen Gegenständen zu allfälliger deliktischer Verwendung rechtfertigt eine Einziehung noch nicht (Erw. 2).

103 IV 140 () from 30. September 1977
Regeste: Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB; Verwahrung. Die Verwahrung darf nur unterbleiben, wenn die Gefährdung der Öffentlichkeit auf andere Weise, insbesondere durch eine entsprechend lange Freiheitsstrafe behoben wird.

104 IV 249 () from 17. November 1978
Regeste: Art. 263 StGB, Verübung einer Tat in selbstverschuldeter Unzurechnungsfähigkeit. Ist die in selbstverschuldeter Unzurechnungsfähigkeit verübte Tat ein Antragsdelikt, kommt Art. 263 StGB nur zur Anwendung, wenn Antrag gestellt worden ist.

105 IV 87 () from 20. März 1979
Regeste: Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB. Aufschub des Strafvollzuges zwecks ambulanter Behandlung. Der Strafaufschub ist begründet, wenn die wirklich vorhandene Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung durch den sofortigen Vollzug der Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt würde.

106 IA 179 () from 5. Dezember 1980
Regeste: Art. 41 Ziff. 3 lit. c bern. StrV; Art. 4 BV. Notwendige Verteidigung im Hinblick auf die Anordnung einer Verwahrung nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB.

107 IV 20 () from 16. Januar 1981
Regeste: Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 StGB in Verbindung mit Art. 43 Ziff. 2 StGB. Einweisung in eine Trinkerheilanstalt unter Aufschub des Strafvollzuges. Längere Freiheitsstrafen, bei denen das Maximum des Anstaltsaufenthalts von zwei Jahren (Art. 44 Ziff. 3 Abs. 1 StGB) nicht einmal zwei Dritteln der Strafzeit gleichkommt, sind nur ausnahmsweise zwecks stationärer Trinkerbehandlung auszusetzen, sofern nämlich von dieser Massnahme ein Resozialisierungserfolg erwartet werden darf, der sich durch den Vollzug der Freiheitsstrafe mit ambulanter Behandlung von vornherein nicht erreichen lässt (E. 5b, c).

108 IV 81 () from 28. Juni 1982
Regeste: 1. Art. 5 und 6 StGB; Auslandstat eines Schweizers gegen einen Schweizer. Begeht ein Schweizer im Ausland ein Delikt gegen einen andern Schweizer, so kommen sowohl Art. 5 als auch Art. 6 StGB sinngemäss zur Anwendung. Wurde die im Ausland ausgefällte Strafe dort nur teilweise vollzogen, so ist die Straftat in der Schweiz neu zu beurteilen (E. 1). 2. Art. 43 StGB; Begriff der Heil- oder Pflegeanstalt. Eine Heilanstalt i.S. des Gesetzes liegt vor, wenn sie von einem Arzt geleitet wird oder ihr zumindest ein Arzt zur Verfügung steht, der regelmässig die Anstalt besucht, wobei zudem die notwendigen speziellen Einrichtungen sowie entsprechend ausgebildetes und ärztlich überwachtes Personal vorhanden sein müssen (E. 3c).

109 IV 73 () from 21. September 1983
Regeste: Art. 43 und 44 StGB. 1. Verhältnis der beiden Bestimmungen zueinander. Bei trunksüchtigen Tätern, deren Behandlung zum vorneherein keinen Erfolg verspricht, kommt eine Massnahme nach Art. 44 StGB nicht in Betracht. Sie können nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB verwahrt werden, wenn die Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllt sind (E. 3 und 4). 2. Die Verwahrung nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB muss nicht in einer ärztlich geleiteten Anstalt, sondern kann gegebenenfalls auch in einer Strafanstalt vollzogen werden (E. 5).

109 IV 129 () from 28. Juni 1983
Regeste: Art. 262 Ziff. 1 Abs. 1 StGB; Störung des Totenfriedens. Verunehrung der Ruhestätte eines Toten in roher Weise.

111 IV 5 () from 6. Februar 1985
Regeste: Art. 1 Abs. 4 VStGB 1; Art. 397bis Abs. 1 lit. d StGB. 1. Die durch den Bundesrat in Art. 1 Abs. 4 VStGB 1 aufgestellte Regelung verstösst nicht gegen das StGB und ist durch die Delegationsnorm von Art. 397bis Abs. 1 lit. d StGB gedeckt (E. 1). 2. Richtlinien, für die Entscheidung der Frage gemäss Art. 1 Abs. 4 VStGB 1, "ob und wieweit die Freiheitsstrafe im Zeitpunkt der Entlassung noch vollstreckt werden soll" (E. 2 und 3).

112 IV 16 () from 13. März 1986
Regeste: Art. 139 Ziff. 3 StGB. Raub unter Drohung mit scharf geladener Schusswaffe. Eine konkrete Lebensgefahr für das Opfer ist auch dann zu bejahen, wenn ein Trommelrevolver so geladen ist, dass der Abzugshebel bis zur Schussabgabe mehrmals betätigt werden muss.

114 IV 85 () from 9. Dezember 1988
Regeste: Art. 44 StGB; ambulante Behandlung mit aufgeschobener Strafe. 1. Wenn die angeordnete ambulante Behandlung zwar nicht angetreten worden ist, die Drogenfreiheit jedoch durch eine andere, freiwillig durchgeführte Therapie (z.B. den Eintritt in ein ausländisches Drogenentzugszentrum) dennoch erreicht worden ist, kann auf den Vollzug der zugunsten der Massnahme aufgeschobenen Strafe nachträglich verzichtet werden, wenn zu befürchten ist, dass der Strafvollzug den eingetretenen Erfolg erheblich gefährdet oder vereitelt (E. 3). 2. Im Falle einer stationären Behandlung kann die freiwillige Therapie unter Umständen auf die Strafe angerechnet werden, auch wenn sie im Ausland durchgeführt worden ist (E. 4). 3. Die zugunsten der ambulanten Behandlung aufgeschobene Strafe kann nachträglich bedingt vollziehbar erklärt werden (E. 5).

115 IA 111 () from 14. April 1989
Regeste: Art. 4 BV, Willkür, Kostenauflage bei Einstellung des Strafverfahrens. Dem Beschuldigten, gegen den das Strafverfahren eingestellt wird, dürfen aus Billigkeitsüberlegungen Verfahrenskosten ganz oder teilweise nur dann auferlegt werden, wenn ihm ein fehlerhaftes, gegen zivilrechtliche oder ethische Regeln verstossendes Verhalten vorgeworfen werden kann; sodann muss zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und den aufzuerlegenden Kosten ein Kausalzusammenhang bestehen; schliesslich sind bei der unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit vorzunehmenden Interessenabwägung insbesondere Einkommen und Vermögen des Beschuldigten zu berücksichtigen.

115 IV 87 () from 24. Februar 1989
Regeste: Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB; Aufschub des Strafvollzuges zwecks ambulanter Behandlung. Der Strafaufschub ist auch begründet, wenn die wirklich vorhandene Aussicht auf die erfolgreiche Weiterführung einer bereits seit längerer Zeit begonnenen Behandlung durch den sofortigen Vollzug der Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt würde (Präzisierung der Rechtsprechung).

115 IV 90 () from 23. Juni 1989
Regeste: Art. 13 Abs. 1, 44 Ziff. 1 und 6, 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB. Bei anerkanntem Zusammenhang zwischen den Straftaten und der Drogensucht darf der Richter ohne Beizug eines Gutachtens nicht schon aufgrund fehlender körperlicher Abhängigkeitssymptome die Notwendigkeit einer ambulanten Massnahme und eines damit verbundenen Aufschubs des Strafvollzuges verneinen (E. 3 und 4).

115 IV 221 () from 14. April 1989
Regeste: 1. Art. 21 Abs. 1 und 221 StGB; versuchte vorsätzliche Brandstiftung. Wer in der Absicht, eine Feuersbrunst zu verursachen, ein Feuer entfacht, macht sich der versuchten vorsätzlichen Brandstiftung schuldig, unbekümmert darum, ob das entstandene Feuer eine eigentliche Feuersbrunst darstellt oder nicht (E. 1). 2. Art. 10, 11 und 43 StGB; Vorsatz und deliktischer Wille. Auch der vollständig Zurechnungsunfähige kann willentlich handeln (E. 1). 3. Art. 43 StGB; Massnahmen an geistig Abnormen. Die Anordnung, Änderung und Aufhebung einer der in Art. 43 StGB vorgesehenen Massnahmen steht ausschliesslich dem Strafrichter zu. Dieser darf seinen Entscheid deshalb weder in bezug auf die Aufhebung noch hinsichtlich der Weiterführung der Massnahme dem Arzt überlassen. Dagegen schliessen die Massnahmen gemäss Art. 43 StGB keineswegs andere Massnahmen aus, die von zivilen Behörden angeordnet werden (E. 2).

116 IA 60 () from 14. März 1990
Regeste: Art. 5 Ziff. 4 EMRK: Gerichtliche Überprüfung einer Versorgung nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. 1. Prozessuales: Gegenstand der Beschwerde, Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzuges (E. 1c und 1d). 2. Anspruch auf gerichtliche Prüfung einer Freiheitsentziehung nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK im allgemeinen (E. 2). 3. Die Verweigerung der gerichtlichen Überprüfung der streitigen Versorgung des Beschwerdeführers in einer psychiatrischen Klinik verstösst gegen Art. 5 Ziff. 4 EMRK (E. 3a). 4. Folgen der Konventionsverletzung im vorliegenden Fall: keine Entlassung aus der Klinik; Weisung an den Kanton Zürich (E. 3b).

116 IV 101 () from 20. Juni 1990
Regeste: Art. 13 Abs. 2, 43 Ziff. 1 Abs. 3 und Ziff. 2 Abs. 2 StGB (ambulante Behandlung). - Der Richter muss auch hinsichtlich der Frage, ob im Hinblick auf eine ambulante Behandlung der Vollzug der Strafe aufzuschieben sei oder nicht, ein Gutachten einholen. - Gelangt der Richter aufgrund der Expertise zum Schluss, dass die Erfolgsaussichten der ambulanten Behandlung durch den sofortigen Strafvollzug ernstlich beeinträchtigt würden, entscheidet er in Würdigung der gesamten Umstände, ob der Vollzug der Strafe aufzuschieben sei (Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB).

116 IV 273 () from 6. November 1990
Regeste: Art. 13 Abs. 1 StGB; Psychiatrisches Gutachten. Voraussetzungen für die Bejahung eines ernsthaften Anlasses zu Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit des Täters, insbesondere aufgrund eines früheren Gutachtens.

116 V 20 () from 9. Februar 1990
Regeste: Art. 28 IVG: Statut des Strafgefangenen in der Invalidenversicherung; Rentenanspruch. Ob der Anspruch auf eine Invalidenrente bei Strafgefangenschaft oder bei einer andern Form eines durch eine Strafbehörde angeordneten Freiheitsentzuges sistiert werden muss, beurteilt sich nach der Vollzugsart, welcher der Betroffene unterworfen ist. Hingegen ist nicht massgebend, ob die Kosten des Unterhalts von der Allgemeinheit oder vom Versicherten zu tragen sind, weil sie eine Folge der Verurteilung oder der Massnahme darstellen und einen invaliditätsfremden Gesichtspunkt betreffen (Präzisierung der Rechtsprechung).

117 IA 277 () from 3. Juli 1991
Regeste: Art. 4 BV. Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung. Der von Art. 4 BV garantierte Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung ist grundsätzlich auch für das nichtstreitige Verwaltungsverfahren betreffend Rückversetzung in den Massnahmenvollzug bzw. Vollzug der aufgeschobenen Strafe (Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1 StGB) gewährleistet (E. 5a). Voraussetzungen für die Bejahung eines unmittelbar aus der Bundesverfassung fliessenden Anspruches auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung (Zusammenfassung, E. 5b). Die Notwendigkeit der Verbeiständung ist im vorliegenden Fall zu bejahen: Die zuständige Behörde hat in einem früheren Verfahrensstadium den Antrag gestellt, die aufgeschobene Freiheitsstrafe sei zu vollziehen, obwohl aus den Akten schwerwiegende Indizien für die Massnahmebedürftigkeit des Beschwerdeführers ersichtlich sind. Es stellen sich somit schwierige Tat- und Rechtsfragen (E. 5b/bb-cc).

117 IV 398 () from 24. Oktober 1991
Regeste: Art. 44 StGB; ambulante Behandlung von Trunk- und Rauschgiftsüchtigen. Art. 43 Ziff. 3 Absätze 2 und 3 StGB, welche die ambulante Behandlung an geistig Abnormen betreffen, sind analog auch auf die ambulante Behandlung von Trunk- und Rauschgiftsüchtigen gemäss Art. 44 StGB anwendbar, wenn sich die Massnahme als unzweckmässig oder für andere gefährlich erwiesen und der Richter deshalb zu entscheiden hat, ob und wieweit aufgeschobene Strafen noch vollstreckt werden sollen oder ob an Stelle des Strafvollzuges eine andere gleichartige ambulante Massnahme angeordnet werden soll.

117 IV 419 () from 24. Oktober 1991
Regeste: Art. 139 Ziff. 3 StGB; In-Lebensgefahr-Bringen des Opfers (Änderung der Rechtsprechung). 1. Bei der Auslegung dieser Qualifikation ist den im Gesetz unterschiedenen vier Gefährlichkeitsstufen des Raubes und der Mindeststrafe von fünf Jahren Zuchthaus, die derjenigen für vorsätzliche Tötung entspricht, Rechnung zu tragen. Entscheidend ist, ob aufgrund der Tatumstände und des tatsächlichen Verhaltens des Täters die konkrete Gefahr einer tödlichen Verletzung des Opfers sehr nahe liegt. Dies trifft zu, wenn eine aus kurzer Distanz auf das Opfer gerichtete Schusswaffe geladen, entsichert und durchgeladen oder gespannt ist, so dass ein Schuss jederzeit ausgelöst werden oder sich ungewollt lösen kann; ebenso, wenn bei einer geladenen und gesicherten oder nicht durchgeladenen oder ungespannten Waffe weitere besondere Umstände (z.B. Handgemenge) hinzukommen. Der Vorsatz muss sich auf die Verwirklichung der sehr naheliegenden Lebensgefahr richten (E. 4). 2. Konkrete, sehr naheliegende Lebensgefahr für das Opfer verneint, aber die besondere Gefährlichkeit des Täters nach Art. 139 Ziff. 2 StGB bejaht, wenn bei einem Trommelrevolver zur Schussabgabe noch der Hahn gespannt oder ein erhebliches Abzugsgewicht überwunden werden muss (E. 5).

118 IV 52 () from 16. Januar 1992
Regeste: Art. 187 Abs. 2 StGB; qualifizierte Vergewaltigung (Änderung der Rechtsprechung). Schon der Grundtatbestand erfasst die in jeder Vergewaltigung liegende brutale, die physische wie psychische Integrität einer Frau sowie ihre sexuelle Selbstbestimmung tief verletzende Handlungsweise. Der qualifizierte Tatbestand ist nur bei einer erheblichen Erhöhung dieses Unrechtsgehaltes erfüllt, namentlich wenn der Täter in körperlicher oder psychischer Hinsicht grausam vorgeht (E. 2d und 3).

118 IV 105 () from 20. Mai 1992
Regeste: Art. 42 Ziff. 1 Abs. 2 StGB; Verwahrung; Begutachtung des Täters. Vor der Verwahrung nach Art. 42 StGB ist in der Regel ein Gutachten über den Täter einzuholen (E. 1e).

118 IV 108 () from 17. Juni 1992
Regeste: Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB. Verwahrung eines geistig abnormen Täters. Ein an Schizophrenie mit wahnhaftem Erleben leidender Täter, der im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit ein Tötungsdelikt verübt hat, darf nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB verwahrt werden, wenn aufgrund des psychiatrischen Gutachtens die Möglichkeit besteht, dass er wegen seiner Krankheit trotz ärztlicher Behandlung weitere Tötungsdelikte begehen könnte.

118 IV 119 () from 9. Juli 1992
Regeste: Art. 63 und 68 Ziff. 2 StGB; Strafzumessung bei Konkurrenz. Anforderungen an die Begründung der Strafzumessung bei retrospektiver Realkonkurrenz.

119 IV 309 () from 17. November 1993
Regeste: Art. 187 und 189 StGB; sexuelle Handlungen mit Kindern und sexuelle Nötigung. Wird ein Kind unter 16 Jahren zur Duldung einer sexuellen Handlung genötigt, so besteht zwischen Art. 187 StGB, der die sexuelle Entwicklung der Kinder schützt, und Art. 189 StGB, der die sexuelle Freiheit schützt, echte Konkurrenz (E. 7a). Voraussetzungen der Anwendung von Art. 189 Abs. 1 StGB (E. 7b). Art. 43 StGB; Massnahmen an geistig Abnormen. Umstände, unter denen der Richter den Vollzug selbst einer langen Freiheitsstrafe zwecks ambulanter Behandlung aufschieben kann (E. 8b).

120 IV 1 () from 4. Februar 1994
Regeste: Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB; Aufschub des Strafvollzugs zwecks ambulanter Behandlung. Auch eine Strafe von mehr als 18 Monaten (hier: zweieinhalb Jahre Gefängnis wegen qualifizierter Vergewaltigung) kann zu Gunsten einer ambulanten Behandlung aufgeschoben werden. Die ambulante Therapie geht vor, wenn eine sofortige Behandlung gute Resozialisierungschancen bietet und diese durch den Vollzug der Freiheitsstrafe klarerweise erheblich beeinträchtigt würden. Je länger die Freiheitsstrafe, deren Aufschub zur Diskussion steht, desto ausgeprägter die Abnormität, die geheilt werden soll.

120 IV 6 () from 18. März 1994
Regeste: Art. 71 Abs. 2 und Art. 187 Ziff. 1 StGB; Zusammenfassung mehrerer strafbarer Handlungen zu einer verjährungsrechtlichen Einheit; sexuelle Handlungen mit Kindern. Wer als Primarlehrer die sexuellen Handlungen mit den gleichen Schülern nach deren Übertritt in die Oberstufe in derselben Art und Weise weiterpflegt, handelt andauernd pflichtwidrig. Seine Straftaten bilden eine verjährungsrechtliche Einheit (E. 2c/cc).

120 IV 176 () from 19. Mai 1994
Regeste: Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 StGB. Vollzug aufgeschobener Strafen; Anrechnung der ambulanten Behandlung. Beim nachträglichen Vollzug einer ursprünglich aufgeschobenen Freiheitsstrafe ist die ambulante Behandlung, soweit sich der Betroffene ihr bereits unterzogen hat, in dem Ausmass anzurechnen, als der Betroffene in seiner persönlichen Freiheit tatsächlich eingeschränkt war.

121 IV 269 () from 11. Oktober 1995
Regeste: Art. 185 Ziff. 2 StGB; qualifizierte Geiselnahme; Drohung, das Opfer zu töten; Einsatz einer ungeladenen Pistole. Objektive Voraussetzung der Qualifikation aufgrund der Umstände bejaht bei einer Geiselnahme, bei welcher der Täter die Geisel in Anwesenheit der Polizei mit einer ungeladenen Pistole bedroht hat (E. 1c; Konkretisierung der mit BGE 121 IV 178 begründeten Rechtsprechung).

121 IV 297 () from 19. Oktober 1995
Regeste: Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 und 2 StGB; Notwendigkeit einer Verwahrung. Die Verwahrung gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB erfasst einerseits hochgefährliche Täter, die keiner Behandlung zugänglich sind, und anderseits solche, die zwar behandlungsbedürftig und -fähig sind, von denen aber auch während einer Behandlung schwere Delikte zu befürchten wären, wenn sie im Sinn von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB ambulant oder in einer Heil- und Pflegeanstalt behandelt würden (E. 2b). Der Richter muss auch bei der zweiten Täterkategorie prüfen, ob eine Verwahrung notwendig ist; er darf nicht allein wegen einer noch vorhandenen Therapiewilligkeit und -fähigkeit von einer Verwahrung absehen (E. 2c).

121 IV 303 () from 24. November 1995
Regeste: Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 und Ziff. 3 Abs. 2 StGB; Vollzug der zugunsten einer ambulanten Massnahme aufgeschobenen Freiheitsstrafe. Der Entscheid, ob sich die ambulante Behandlung als unzweckmässig erweist, ist von der zuständigen Vollzugsbehörde in einer separaten Verfügung zu treffen, die nach Ausschöpfung der kantonalen Rechtsmittel mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden kann. Mit der Nichtigkeitsbeschwerde kann die festgestellte Aussichtslosigkeit der Massnahme nicht angefochten werden (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 3). Beim nachträglichen Vollzug einer ursprünglich aufgeschobenen Freiheitsstrafe ist die ambulante Behandlung in dem Mass anzurechnen, als der Betroffene in seiner persönlichen Freiheit tatsächlich eingeschränkt war. Wegen der grundsätzlichen Verschiedenheit von ambulanter Massnahme und Strafvollzug kommt in der Regel nur eine beschränkte Anrechnung der Behandlung in Frage (Klarstellung der Rechtsprechung; E. 4b).

122 II 433 () from 15. November 1996
Regeste: Art. 10 Abs. 1 lit. a und Art. 11 Abs. 3 ANAG in Verbindung mit Art. 16 Abs. 3 ANAV; Art. 3 und Art. 8 EMRK sowie Art. 12 und Art. 13 UNO-Pakt II; fremdenpolizeiliche Ausweisung eines in der Schweiz geborenen und aufgewachsenen Ausländers (sog. "Ausländer der zweiten Generation"). Voraussetzungen der Zulässigkeit der Ausweisung, insbesondere deren Verhältnismässigkeit, nach schweizerischem Recht (E. 2). Vereinbarkeit der auf das Landesrecht gestützten Ausweisung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz (E. 3).

122 IV 8 () from 31. Januar 1996
Regeste: Art. 43 StGB, Nichtaufhebung einer ambulanten Massnahme; Art. 5 Ziff. 4 EMRK, Begriff des Gerichts. Der Entscheid der zuständigen Behörde, eine Massnahme gemäss Art. 43 StGB aufzuheben oder nicht aufzuheben, kann Gegenstand der Verwaltungsgerichtsbeschwerde bilden (E. 1). Kognition des Bundesgerichts bei Verfassungsrügen (E. 2a). Der Begriff des Gerichts im Sinne von Art. 5 Ziff. 4 EMRK ist autonom: Das zuständige Organ muss unabhängig sein und ein justizförmiges Verfahren gewährleisten (E. 2b). Anforderungen an die Begründung eines Entscheids, der ärztliche Feststellungen über die Heilungschancen des Betroffenen enthält (E. 2c). Für die Aufhebung einer ambulanten Behandlung sind der Zustand des Betroffenen und die Gefahr neuer strafbarer Handlungen zu prüfen (E. 3).

123 IV 1 () from 31. Oktober 1996
Regeste: Art. 10 StGB und Art. 11 StGB; Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB; Art. 63 StGB; Strafzumessung und Verwahrung bei einem schwer vermindert zurechnungsfähigen gefährlichen Sexualmörder. Die schuldadäquate Strafe kann bei einer an der Grenze zur Zurechnungsunfähigkeit liegenden schwer verminderten Zurechnungsfähigkeit nur relativ gering sein (E. 2 und 3). Dem Gesichtspunkt der Gefährlichkeit des Täters darf nicht durch eine schuldunangemessene lange Freiheitsstrafe Rechnung getragen werden; er ist gegebenenfalls durch die Verhängung einer Verwahrung nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen (E. 4). In der Verwahrung ist eine ärztliche und therapeutische Hilfe nach Möglichkeit zu leisten (E. 4c).

123 IV 100 () from 2. September 1997
Regeste: Art. 43 Ziff. 1, 2 und 3 StGB; Voraussetzungen der Verwahrung und ihr Verhältnis zu ambulanten Massnahmen. Unheilbare, hochgefährliche sowie behandlungsfähige, kurz- oder mittelfristig gefährliche Täter sind von Anfang an zu verwahren. Bestehen dagegen kurz- oder mittelfristig gute Heilchancen und erscheint eine Verwahrung derzeit nicht notwendig, muss aber einer in bestimmten Situationen trotz Behandlung möglichen Gefahr mit sichernden Mitteln begegnet werden können, kann ein Strafvollzug mit ambulanter Massnahme angezeigt sein (E. 2). Verschlechtert sich der Zustand des Täters, kann nachträglich die Verwahrung angeordnet werden (E. 3).

123 IV 113 () from 20. Juni 1997
Regeste: Art. 21 Abs. 1 StGB, 139 Ziff. 2 StGB, 144 Abs. 1 und 172ter StGB sowie 68 Ziff. 1 StGB; versuchter und vollendeter gewerbsmässiger Diebstahl und mehrfache Sachbeschädigung (Einbruchdiebstahl), geringfügige Vermögensdelikte, geringer Schaden, Konkurrenz. Der Versuch geht im vollendeten gewerbsmässigen Delikt auf (E. 2c und d; Bestätigung der Rechtsprechung). Die Grenze des geringen Schadens im Sinne von Art. 172ter Abs. 1 StGB beträgt Fr. 300.-- (E. 3d). Art. 172ter Abs. 1 StGB gilt für Bagatelldelinquenz (E. 3d und f), nicht bei Sachbeschädigungen des gewerbsmässigen Einbruchdiebstahls (E. 3g). Bei Einbruchdiebstahl stehen Sachbeschädigung und Diebstahl gemäss Art. 139 Ziff. 1 und 2 StGB in echter Konkurrenz (E. 3h; Bestätigung der Rechtsprechung). Art. 100 StGB und 100bis StGB; Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt, Erziehbarkeit zur Arbeit. Die Arbeitserziehung soll eine Fehlentwicklung junger Erwachsener berichtigen und künftigen Straftaten vorbeugen. Im Vordergrund steht die berufliche Ausbildung. Die Massnahme erfordert ein Mindestmass an Kooperationsbereitschaft (E. 4c).

124 IV 154 () from 8. Juni 1998
Regeste: Art. 187, 189, 190 sowie 68 Ziff. 1 StGB; sexueller Kindsmissbrauch, psychischer Druck; Konkurrenz. Erfüllen sexuelle Handlungen mit Kindern zugleich die Tatbestände der sexuellen Nötigung oder der Vergewaltigung, ist echte Konkurrenz anzunehmen (E. 3a). Ein Kind kann ohne eigentliche Gewaltanwendung aufgrund physischer Dominanz, kognitiver Unterlegenheit sowie emotionaler und sozialer Abhängigkeit unter psychischen Druck gesetzt werden, namentlich beim Missbrauch durch Autoritätsträger des gleichen Haushalts (E. 3b). Diese Voraussetzungen erfüllt ein Täter, der seine Stellung als väterlicher Freund des Kindes und Partner der Mutter gezielt zum sexuellen Missbrauch des Kindes ausnützt (E. 3c).

124 IV 246 () from 20. Oktober 1998
Regeste: Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB; ambulante Massnahme, Begriff der ärztlichen Behandlung. Der Begriff der ärztlichen Behandlung ist weit zu fassen; darunter können sämtliche Behandlungsformen im medizinischen Umfeld und auch solche der Paramedizin fallen, unter der Bedingung, dass sich durch die Behandlung die Gefahr weiterer mit Strafe bedrohter Taten verhindern oder vermindern lässt (E. 3; Änderung der Rechtsprechung).

125 IV 118 () from 6. Mai 1999
Regeste: Art. 42 Ziff. 1 und Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB; Verwahrung von Gewohnheitsverbrechern und geistig Abnormen. Sind die Voraussetzungen der Verwahrung sowohl nach Art. 42 als auch nach Art. 43 StGB gegeben, so geht die letztere vor (E. 5e).

125 IV 225 () from 27. November 1999
Regeste: Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 und 3 StGB, Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 StGB; ambulante Behandlung bei Trunk- und Rauschgiftsüchtigen, Geltungsbereich der Verweisung auf die Bestimmung für Massnahmen an geistig Abnormen. Die Verweisung in Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 Satz 3 StGB gilt nicht nur für die Anordnung von ambulanten Massnahmen (Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB), sondern auch für deren Beendigung (Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 und 3 StGB; E. 2a). Hat die Vollzugsbehörde die Erfolglosigkeit beziehungsweise Unzweckmässigkeit der ambulanten Behandlung festgestellt, so muss der Richter entscheiden, ob an Stelle der erfolglosen ambulanten Massnahme entweder eine gleichartige oder eine andere ambulante Massnahme oder eine stationäre Massnahme oder eine Verwahrung oder allenfalls keine neue Massnahme anzuordnen ist (E. 2b).

125 IV 260 () from 10. November 1999
Regeste: Art. 148 StGB; Checkkarten- und Kreditkartenmissbrauch, objektive Strafbarkeitsbedingung. Art. 148 StGB verlangt, dass "dieser (der Aussteller) und das Vertragsunternehmen die ihnen zumutbaren Massnahmen gegen den Missbrauch der Karte ergriffen haben"; dabei handelt es sich um eine objektive Strafbarkeitsbedingung (E. 2). Massnahmen, die durch den Aussteller ergriffen werden müssen und die im vorliegenden Fall ungenügend waren (E. 4-6).

126 I 172 () from 29. Juni 2000
Regeste: Art. 31 Abs. 4 BV, Art. 5 Ziff. 4 EMRK; grundrechtliche Anforderungen an das Haftprüfungsverfahren beim freiheitsentziehenden vorzeitigen Massnahmenvollzug. Rechtsnatur des vorzeitigen (vorläufigen) stationären Massnahmenvollzuges. Für den freiheitsentziehenden vorzeitigen Sanktionenvollzug vor Erlass eines rechtskräftigen Strafurteils gelten die grundrechtlichen Verfahrensregeln des strafprozessualen Freiheitsentzuges (E. 3a-b). Anforderungen an die kontradiktorische Ausgestaltung des Haftprüfungsverfahrens (E. 3c-e). Art. 31 Abs. 3 BV, Art. 5 Ziff. 3 EMRK; zulässige Dauer des vorzeitigen stationären Massnahmenvollzuges. Besondere Problematik der Prüfung der zeitlichen Verhältnismässigkeit einer vorläufigen freiheitsentziehenden Massnahme (E. 5).

126 I 207 () from 23. August 2000
Regeste: Art. 87 OG (in der Fassung vom 8. Oktober 1999). Anfechtbarkeit des Entscheids über die Bewilligung des Wechsels des amtlichen Verteidigers. Der Entscheid über die Bewilligung eines Wechsels des amtlichen Verteidigers ist kein Zwischenentscheid im Sinne von Art. 87 Abs. 1 OG (E. 1). Ein nicht wiedergutzumachender Nachteil rechtlicher Natur im Sinne von Art. 87 Abs. 2 OG droht in der Regel durch die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung (E. 2a), nicht aber durch die Ablehnung des Gesuchs, den amtlichen Verteidiger zu wechseln (E. 2b). In concreto droht kein solcher Nachteil (E. 2c).

126 IV 1 () from 6. Dezember 1999
Regeste: Art. 43 und 45 Ziff. 6 StGB; Verwahrung geistig Abnormer, Verjährung. Art. 45 Ziff. 6 2. Satz StGB begründet in Bezug auf die Verwahrung eine Art von Verjährung, wonach die Massnahme nicht mehr vollzogen wird, wenn die Strafe verjährt ist. Diese Vorschrift gilt nur für die Verwahrung gemäss Art. 42 StGB; sie ist auf die Verwahrung gemäss Art. 43 StGB nicht anwendbar (E. 2b und c).

127 I 54 () from 28. November 2000
Regeste: Art. 9 und Art. 29 Abs. 2 BV; Willkür, rechtliches Gehör, Berücksichtigung eines psychiatrischen Aktengutachtens im Strafverfahren. Ein psychiatrisches Gutachten ohne persönliche Untersuchung des Betroffenen ist nur ausnahmsweise zulässig. Gründe für Ausnahmen (E. 2e-g).

128 I 184 () from 25. Juni 2002
Regeste: Art. 10 Abs. 2 BV, persönliche Freiheit; § 67 StPO/ZH; Anordnung der Sicherheitshaft im Nachverfahren; gesetzliche Grundlage. Die Vorschrift von § 67 StPO/ZH (in Verbindung mit § 58 StPO/ZH) bildet eine genügende gesetzliche Grundlage für die Anordnung der Sicherheitshaft im Nachverfahren (E. 2).

128 I 225 () from 14. August 2002
Regeste: Art. 29 Abs. 3 BV; Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung im Massnahmevollzug. Ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung besteht nur für ein konkretes Verfahren (z.B. Prüfung einer (probeweisen) Entlassung, von Vollzugslockerungen oder einzelnen Anordnungen), nicht jedoch für die gesamte Dauer des Vollzugs betreffend Ausgestaltung der Massnahme (Vollzugsplanung) sowie deren regelmässige Überprüfung (E. 2.4). Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung für ein Verfahren um Urlaubsgewährung im konkreten Fall bejaht (E. 2.5).

128 IV 241 () from 13. August 2002
Regeste: Art. 43 StGB; Vollstreckung aufgeschobener Strafen. Psychiatrische Begutachtung bei der Anordnung, Abänderung oder Aufhebung von Massnahmen gemäss Art. 43 StGB. Zusammenfassung der Rechtsprechung. Anforderungen an die Aktualität eines Gutachtens.

129 IV 161 () from 27. Februar 2003
Regeste: Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB; Aufschub des Strafvollzuges zugunsten einer ambulanten Massnahme. Voraussetzungen des Strafaufschubes. Abwägung und Gewichtung der gesetzlichen Sanktionszwecke (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 4). Falls Erfolgsaussichten der ambulanten Therapie nur auf lange Frist und in eher bescheidenem Ausmass bestehen, sind die Voraussetzungen für einen Strafaufschub nicht erfüllt (E. 5).

129 IV 212 () from 4. August 2003
Regeste: Art. 49 Ziff. 3 i.V.m. Art. 44 Ziff. 6 Abs. 2 StGB; nachträgliche Anrechnung einer stationären Therapie auf die Bussenumwandlungsstrafe. Der Vollzug einer Massnahme kann nicht nachträglich auf die Bussenumwandlungsstrafe angerechnet werden (E. 2.3).

129 V 211 () from 24. Januar 2003
Regeste: Art. 48 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 85 Abs. 1 IVV in Verbindung mit Art. 77 AHVV; Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV: Verfahrensrechtliche Qualifizierung der - im Anschluss an eine zu Unrecht erfolgte Sistierung - wieder aufgenommenen Rentenausrichtung; zeitliche Wirkungsweise (ex nunc oder ex tunc). Wurde eine Invalidenrente zufolge unrichtiger Beurteilung eines strafrechtlich angeordneten Massnahmenvollzugs zu Unrecht sistiert, kann darauf bezüglich des von der Sistierungsverfügung erfassten, bis zu deren Erlass reichenden Zeitraums wiedererwägungsweise zurückgekommen werden, sofern die entsprechenden Voraussetzungen (zweifellose Unrichtigkeit der Sistierungsverfügung, erhebliche Bedeutung der Berichtigung) erfüllt sind. Da es sich bei der unrichtigen Qualifizierung des Massnahmenvollzugs nicht um einen spezifisch invalidenversicherungsrechtlichen Aspekt handelt, gelangt bei der Wiederaufnahme der Rentenzahlungen für diese Periode Art. 88bis Abs. 1 lit. c IVV nicht zur Anwendung; massgebend sind die Art. 85 Abs. 1 IVV in Verbindung mit Art. 77 AHVV sowie Art. 48 Abs. 1 IVG. Für die Zeit nach Erlass der Sistierungsverfügung sind - da diesbezüglich noch keine Verfügung vorliegt - die bei einer Neuanmeldung des Rentenanspruchs geltenden Regeln zu beachten, mit der Folge, dass die Rentennachzahlung gestützt auf Art. 48 Abs. 1 IVG bis maximal fünf Jahre zurück bis zum ersten nach dem letzten von der Rechtskraft der Sistierungsverfügung erfassten Monat zu erfolgen hat; Art. 48 Abs. 2 IVG ist nicht anwendbar, weil nicht eine fehlerhafte Beurteilung eines spezifisch invalidenversicherungsrechtlichen Gesichtspunktes Anlass für die Rentensistierung bildete.

130 I 269 () from 5. Juli 2004
Regeste: Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 29 Abs. 1 BV; Art. 43 Ziff. 3 Abs. 2 und 3, Art. 44 Ziff. 1 und 6 sowie Art. 73 ff. StGB; Anordnung des Vollzugs einer zugunsten einer ambulanten Massnahme aufgeschobenen Freiheitsstrafe 12 Jahre nach dem Strafurteil; Beschleunigungsgebot. Der Anwendungsbereich des Beschleunigungsgebots nach der Bundesverfassung ist weiter als nach der Europäischen Menschenrechtskonvention. Er erfasst nicht nur Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und strafrechtliche Anklagen, sondern sämtliche Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsbehörden (E. 2.3). Die Kriterien, die für die Verletzung des Beschleunigungsgebots bei der Strafverfolgung gelten, dürfen nicht unbesehen auf den Strafvollzug angewandt werden. Tragweite des Beschleunigungsgebots im Strafvollzug (E. 3). Keine Verletzung des Beschleunigungsgebots im zu beurteilenden Fall (E. 4).

130 IV 49 () from 21. Juli 2004
Regeste: Art. 43 StGB; Zwangsmedikation; Zuständigkeit. Die Vollzugsbehörden sind für die Anordnung einer Zwangsmedikation zuständig, wenn sie dem Massnahmezweck und der Behandlungsart entspricht, die der Richter im Strafurteil vorgezeichnet hat (E. 3).

131 II 265 () from 18. Februar 2005
Regeste: Art. 7 ANAG und Art. 8 EMRK; Verweigerung einer Aufenthaltsbewilligung. Ein Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung zur Erleichterung des Besuchs des Ehemannes im Freiheitsentzug kann sich nicht auf Art. 7 Abs. 1 ANAG stützen, weil dies nicht dem vom Gesetzgeber gewollten Normzweck entspricht (E. 4). Befindet sich einer der Ehegatten im Freiheitsentzug, so besteht der durch Art. 8 Ziff. 1 EMRK garantierte Schutz des Familienlebens darin, durch geeignete Ausgestaltung der Strafvollzugsbedingungen oder durch entsprechende Anwendung der Verwahrungsmassnahmen einen minimalen Kontakt zwischen den Ehegatten sicherzustellen. Aus Art. 8 Ziff. 1 EMRK kann kein Anspruch auf Daueraufenthalt abgeleitet werden, um der ausländischen Ehegattin eines Schweizer Häftlings die Ausübung des Besuchsrechts zu erleichtern (E. 5).

132 IV 70 () from 2. Februar 2006
Regeste: Art. 9 BÜPF; Verwertbarkeit von Zufallsfunden. Die Verwertung von Zufallsfunden gemäss Art. 9 Abs. 1 lit. b BÜPF setzt nicht voraus, dass im Zeitpunkt der Überwachungsanordnung bereits ein Tatverdacht bezüglich der neu entdeckten Straftaten bestanden hat (E. 6.4).

133 III 185 () from 12. Januar 2007
Regeste: Zusatzversicherung zur Krankenversicherung nach KVG; Taggeldversicherung. Anspruch auf Taggeld für den Einkommensausfall infolge krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit in einem Fall, da die versicherte Person wegen von ihr am Arbeitsplatz begangener Brandstiftungen, die auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen waren, entlassen und in Haft gesetzt worden ist (E. 2).

134 IV 1 (6B_103/2007) from 12. November 2007
Regeste: Bedingte und teilbedingte Strafe gemäss Art. 42 und 43 StGB; Strafenkombination gemäss Art. 42 Abs. 4 StGB. Bei Freiheitsstrafen zwischen einem und zwei Jahren ist der Strafaufschub nach Art. 42 Abs. 1 StGB die Regel, von der nur bei ungünstiger oder höchst ungewisser Prognose abgewichen werden darf (E. 4.2.2). Der teilbedingte Vollzug bildet dazu die Ausnahme. Vorgängig ist zu prüfen, ob der bedingte Strafvollzug, kombiniert mit einer Verbindungsgeldstrafe bzw. Busse (Art. 42 Abs. 4 StGB), spezialpräventiv ausreichend ist (E. 5.5.2). Bei der Strafenkombination gemäss Art. 42 Abs. 4 StGB liegt das Hauptgewicht auf der bedingten Freiheitsstrafe, während der unbedingten Verbindungsgeldstrafe bzw. Busse nur untergeordnete Bedeutung zukommt. Sie soll nicht zu einer Straferhöhung führen (E. 4.5.2). Die subjektiven Voraussetzungen von Art. 42 StGB müssen auch bei der Anwendung von Art. 43 StGB gelten (E. 5.3.1). Je günstiger die Prognose und je kleiner die Vorwerfbarkeit der Tat, desto grösser muss der auf Bewährung ausgesetzte Strafteil sein (E. 5.6).

134 IV 17 (6B_131/2007) from 22. November 2007
Regeste: a Strafzumessung (Art. 47 StGB) bei qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Ziff. 2 BetmG). Fall einer Täterin, die knapp 1 Kilogramm Kokain (Reinheitsgrad ca. 55 % bzw. 60 %) entgegennahm, um es auf Provisionsbasis zu veräussern, und welche im Zeitpunkt ihrer Festnahme 22 Gramm reines Kokain verkauft hatte. Eine Freiheitsstrafe von 27 Monaten ist auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Täterin mit den erhofften Einkünften die medizinische Behandlung ihres älteren Sohnes finanzieren wollte, nicht unhaltbar hoch (E. 2).

134 IV 60 (6B_366/2007) from 17. März 2008
Regeste: a Art. 34 StGB, Geldstrafe/Bemessung. Grundlagen und Zweck der Geldstrafe im neuen Sanktionensystem (E. 4). Grundsätze zur Bemessung der Geldstrafe (E. 5). Einkommen, Vermögen, Lebensaufwand, Familien- und Unterstützungspflichten, persönliche Verhältnisse und Existenzminimum als Kriterien zur Bemessung von Geldstrafen (E. 6).

134 IV 82 (6B_109/2007) from 17. März 2008
Regeste: Art. 2 und Art. 42 Abs. 4 StGB; Anwendung des milderen Rechts im neuen Sanktionensystem; Sanktionierung im Rahmen der sogenannten Schnittstellenproblematik. Darstellung der Grundzüge des neuen Sanktionensystems (E. 3-5). Bei der Wahl der Sanktionsart für Strafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr bildet die Zweckmässigkeit ein wichtiges Kriterium (E. 4.1). Systematische Darstellung des intertemporalen Kollisionsrechts (E. 6 und 7). Anwendung von Art. 42 Abs. 4 StGB im Sanktionsbereich der sogenannten Schnittstellenproblematik im Strassenverkehrsstrafrecht (E. 8). Bei unechter Gesetzeskonkurrenz sind konsumierte Übertretungen mit einer zusätzlichen Busse zu bestrafen (E. 8.3).

134 IV 97 (6B_341/2007) from 17. März 2008
Regeste: a Art. 34, 37, 40 StGB; Wahl der Sanktionsart. Nach der Konzeption des neuen Rechts stellt die Geldstrafe im Bereich der leichteren und mittleren Kriminalität die Hauptsanktion dar. Geldstrafe und gemeinnützige Arbeit sind gegenüber der Freiheitsstrafe mildere Sanktionen (E. 4).

135 II 377 (2C_295/2009) from 25. September 2009
Regeste: Art. 51 Abs. 1 lit. b AuG; Art. 63 Abs. 1 lit. a AuG i.V.m. Art. 62 lit. b erster Satzteil AuG; Art. 96 Abs. 1 AuG; Konkretisierung des Begriffs "längerfristige Freiheitsstrafe"; Verhältnismässigkeit des Bewilligungswiderrufs. Eine längerfristige Freiheitsstrafe und mithin ein Widerrufsgrund gemäss Art. 62 Abs. 1 lit. b erster Satzteil AuG liegt dann vor, wenn eine ausländische Person zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt wurde (E. 4.2). In jedem Fall bleibt jedoch die Verhältnismässigkeit eines Widerrufs zu prüfen. Hierzu kann grundsätzlich weiterhin auf die ständige bundesgerichtliche Praxis abgestellt werden, wonach einem Ausländer nach bloss kurzer Aufenthaltsdauer im Falle einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren oder mehr in der Regel selbst dann kein Aufenthaltstitel mehr zu erteilen ist, wenn der schweizerischen Ehepartnerin die Ausreise nicht oder nur schwer zuzumuten ist (sog. "Reneja"-Praxis; E. 4.3 und E. 4.4).

135 IV 56 (6B_549/2008) from 3. Februar 2009
Regeste: Fahrlässige schwere Körperverletzung (Art. 125 Abs. 2 StGB). Fragen der Zurechnung des Erfolgs. Eine Person verletzte vorsätzlich einen Menschen durch Abgabe eines Schusses aus einer Pistole schwer. Die Pistole war ihr - nach vorgängiger Beschlagnahmung aufgrund eines früheren Vorfalls - von der zuständigen Polizeibehörde in Anwendung der Waffengesetzgebung zurückgegeben worden, nachdem der Beschuldigte nach einer Untersuchung bescheinigt hatte, dass die Person weder suizidgefährdet noch für Dritte gefährlich sei. Die Person führte im Zeitpunkt der Schussabgabe allerdings noch eine zweite schussbereite Pistole mit sich, welche sie unabhängig vom Verhalten des Beschuldigten ohnehin besass (E. 3-5). Alternative Kausalität, hypothetische Ersatzursachen; nicht vorsätzliche Beteiligung an einem vorsätzlichen Erfolgsdelikt (E. 3). Sorgfaltspflichtverletzungen bei der Untersuchung der von einer Person ausgehenden Gefahren aus Waffenbesitz (E. 4). Anforderungen an den Zusammenhang zwischen dem sorgfaltswidrigen Verhalten und dem eingetretenen Erfolg (E. 5).

135 IV 87 (6B_538/2008) from 7. Januar 2009
Regeste: a Verwertung entfernter Strafregistereinträge; Art. 369 Abs. 7 StGB. Verurteilungen, die aus dem Strafregister entfernt wurden, dürfen in einem neuen Strafverfahren bei der Strafzumessung und beim Entscheid über den Strafaufschub nicht mehr verwertet werden. Bei einer neuen Begutachtung können die einer entfernten Verurteilung zugrunde liegenden Taten jedoch berücksichtigt werden (E. 2).

135 IV 146 (6B_765/2008) from 7. April 2009
Regeste: Art. 87, Art. 388 Abs. 1 und 3, Art. 89 Abs. 6 StGB in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 StGB; Übergangsrecht, Gesamtstrafenbildung im Rückversetzungsverfahren, Vollzug der Gesamtstrafe. Die vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts rechtskräftig gewordene Verfügung der Verwaltungsbehörde betreffend die Probezeit bei einer bedingten Entlassung bleibt auch in Bezug auf die verhängte Dauer bestehen. Es erfolgt keine Anpassung an das neue Recht (E. 1). Voraussetzungen und Methodik der Gesamtstrafenbildung im Rückversetzungsverfahren nach Art. 89 Abs. 6 StGB (E. 2.4). Die Gesamtstrafe kann weder bedingt noch teilbedingt ausgesprochen werden (E. 2.4.2).

135 IV 180 (6B_769/2008) from 18. Juni 2009
Regeste: a Bemessung der Geldstrafe; Höhe des Tagessatzes; Art. 34 Abs. 2 und Art. 380 StGB. Wurde gegen die zu einer Geldstrafe verurteilte Person eine Massnahme angeordnet, muss für die Berechnung ihres Reineinkommens festgelegt werden, ob die Kosten derselben nach Art. 380 StGB zu ihren Lasten oder denjenigen des Kantons gehen (E. 1.3). Eine Geldstrafe ist nicht symbolisch, sofern der Tagessatz für mittellose Täter wenigstens 10 Franken beträgt (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 1.4).

136 IV 156 (6B_750/2009) from 13. Juli 2010
Regeste: Art. 63b StGB; Art. 5 EMRK; Anordnung einer stationären Massnahme nach vollständiger Verbüssung der Freiheitsstrafe. Die Umwandlung einer ambulanten in eine stationäre Massnahme nach vollständiger Verbüssung der Strafe bleibt auch unter dem Geltungsbereich des neuen Massnahmenrechts in klaren Ausnahmefällen und unter strenger Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsgebotes zulässig (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 2-4).

137 IV 59 (6B_1062/2009) from 3. November 2010
Regeste: Verwahrung; Art. 65 Abs. 2 StGB. Art. 65 Abs. 2 StGB sieht keine Frist für die Anordnung einer nachträglichen Verwahrung des Verurteilten während des Strafvollzugs vor. Frage offengelassen, ob ein solches Verfahren während des Strafvollzugs eingeleitet werden muss oder ob dies auch nach der Verbüssung der Strafe durch den Verurteilten geschehen kann (E. 3). Die Strafverfolgungsverjährung läuft während des Verfahrens im Hinblick auf die nachträgliche Verwahrung des Verurteilten im Strafvollzug nicht weiter (E. 4). Die Revision zum Nachteil des Verurteilten gemäss Art. 65 Abs. 2 StGB ist an vier Voraussetzungen geknüpft. Sie muss sich auf Tatsachen oder Beweismittel abstützen (1). Diese müssen neu - d.h. der Richter darf davon keine Kenntnis gehabt haben - (2) und erheblich (3) sein. Schliesslich (4) wird verlangt, dass die Gründe für die nachträgliche Verwahrung des Verurteilten im Strafvollzug bereits im Zeitpunkt der Verurteilung bestanden haben (E. 5). Ist das Strafurteil unter dem alten Recht ergangen, müssen für die Anordnung der nachträglichen Verwahrung nicht nur die Voraussetzungen von Art. 64 StGB im Zeitpunkt des Gesuchs erfüllt sein, sondern die Massnahme muss auch in Anwendung von aArt. 42 und 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB zulässig gewesen sein (E. 6).

137 V 154 (9C_833/2010) from 16. Mai 2011
Regeste: Art. 21 Abs. 5 ATSG; Art. 59 Abs. 1 und 4 StGB (in der ab 1. Januar 2007 gültigen Fassung); Sistierung der Rente der Invalidenversicherung während des Vollzugs einer stationären therapeutischen Massnahme gemäss Art. 59 StGB. Für die Rentensistierung gestützt auf Art. 21 Abs. 5 ATSG ist allein darauf abzustellen, ob der stationäre Massnahmenvollzug gemäss Art. 59 StGB eine Erwerbstätigkeit zulässt oder nicht. Von der Differenzierung einer gegenüber der Sozialgefährlichkeit im Vordergrund stehenden Behandlungsbedürftigkeit - als Hinderungsgrund einer Sistierung - ist abzusehen (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 6).

139 IV 270 (1B_338/2013) from 16. Oktober 2013
Regeste: Art. 231 und 233 StPO; Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK; Sicherheitshaft während des Verfahrens vor dem Berufungsgericht; Zuständigkeit und Verhältnismässigkeit. Trotz des Wortlauts von Art. 233 StPO widerspricht es Sinn und Zweck dieser Bestimmung nicht, wenn die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts als Gremium verstanden wird, deren Mitglieder innerhalb derselben Gerichtsinstanz entweder über Haftfragen entscheiden oder die Berufung in der Sache prüfen (E. 2). Bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Haft im Verfahren des Berufungsgerichts hat der Haftrichter nach Art. 231 ff. StPO zu berücksichtigen, dass die Staatsanwaltschaft mit der Berufung eine Strafverschärfung verlangt. Dies obwohl er grundsätzlich das angefochtene Strafurteil und die erstinstanzlich ausgesprochene Strafe nicht im Detail überprüft, sondern die Erfolgsaussichten des Vorgehens der Anklagebehörde lediglich prima facie beurteilt (E. 3).

140 IV 49 (6B_459/2013) from 13. Februar 2014
Regeste: Art. 20 und 56 Abs. 3 StGB; sachverständige Person. Die sachverständige Person, die gestützt auf Art. 20 und 56 Abs. 3 StGB Gutachten erstellt, muss in aller Regel Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sein (E. 2). Das kantonale Recht kann weitergehende Bestimmungen vorsehen (z.B. forensische Weiterbildung) (E. 2.8).

142 IV 89 (6B_129/2015) from 11. April 2016
Regeste: Art. 391 Abs. 2 StPO; Verbot der reformatio in peius. Verweigert die Rechtsmittelinstanz - im Gegensatz zur ersten Instanz - den bedingten Strafvollzug, ist das Verschlechterungsverbot verletzt, auch wenn die Dauer der Strafe gesamthaft kürzer ist (E. 2.1). Satz 2 von Art. 391 Abs. 2 StPO ermöglicht der Rechtsmittelinstanz Tatsachen, die der ersten Instanz noch nicht bekannt sein konnten, wie beispielsweise eine Verurteilung, bei der Prüfung der Legalprognose beim bedingten Strafvollzug zu berücksichtigen (E. 2.3).

144 IV 277 (6B_377/2017) from 5. Juli 2018
Regeste: aArt. 42 Abs. 2, aArt. 43 Abs. 1 StGB; teilbedingte Strafe bei Vorstrafenbelastung; besonders günstige Voraussetzungen. Innerhalb des gesetzlichen Stufensystems stellt die teilbedingte Strafe eine Mittellösung zwischen dem vollständigen Aufschub (bedingt) und dem Vollzug (unbedingt) der Strafe dar. Sie kommt im überschneidenden Anwendungsbereich von einem bis zwei Jahren Freiheitsstrafe zur Anwendung, wenn eine vollbedingte Strafe aus spezialpräventiver Sicht nicht ausreichend ist und der Aufschub wenigstens eines Teils der Strafe erfordert, dass der andere Teil vollzogen wird. Die subjektiven Voraussetzungen von aArt. 42 StGB gelten auch im Rahmen von aArt. 43 StGB, d.h. eine teilbedingte Strafe ist nur möglich, wenn die Legalprognose nicht negativ ausfällt (E. 3.1.1). Eine teilbedingte Strafe ist auch unter den Voraussetzungen von aArt. 42 Abs. 2 StGB möglich. Erneute Straffälligkeit ("Rückfall") stellt keinen objektiven Ausschlussgrund für eine bedingte Strafe dar, weshalb auch die härtere Sanktionsform der teilbedingten Strafe bei begründeter Aussicht auf Bewährung möglich sein muss (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 3.1.2). Bei der Frage, ob besonders günstige Gründe im Sinne von aArt. 42 Abs. 2 StGB vorliegen, ist die voraussichtliche Wirkung der teilbedingten Strafe zu berücksichtigen, die eine bessere Legalprognose ermöglichen kann (Änderung der Rechtsprechung; E. 3.2).

145 IV 377 (6B_516/2019) from 21. August 2019
Regeste: Art. 49 Abs. 2 StGB; teilweise retrospektive Konkurrenz; gewerbsmässige Deliktsbegehung; bedingter Strafvollzug. Hat das Gericht ein gewerbsmässiges Delikt zu beurteilen, von dem der eine Teil der Einzeltaten vor und der andere Teil nach einer früheren Verurteilung begangen worden ist, hat es die strafbaren Handlungen als Einheit zu betrachten, wobei sich die Einzelakte im Rahmen der Strafzumessung in denjenigen Teil des Delikts eingliedern, in welchen die letzte Einzeltat fällt (E. 2.3.3). Bei einer teilweisen retrospektiven Konkurrenz hat das Gericht nicht für jeden Teil der Delikte eine Prognose für den bedingten Strafvollzug abzugeben. Es hat eine Prognose vielmehr im Zeitpunkt des Urteils unter Würdigung der Situation der beschuldigten Person im Moment der Verurteilung zu stellen. Für die Prüfung, ob für die auszusprechende Freiheitsstrafe die Voraussetzungen der Gewährung des bedingten oder teilbedingten Strafvollzuges erfüllt sind, hat das Gericht sämtliche Zusatzstrafen, Grundstrafen und zu kumulierenden Strafen zu addieren und hernach zu entscheiden, ob diese hypothetische Gesamtstrafe die Anwendung von Art. 42 oder 43 StGB erlaubt (E. 2.4.1).

146 IV 267 (6B_40/2020) from 17. August 2020
Regeste: Art. 5 Ziff. 1 EMRK; Art. 11 BV; Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 KRK; Art. 372 Abs. 1 und 3 StGB; Art. 439 Abs. 2 StPO; Strafvollzug, Vollzugsbefehl, Kindeswohl. Der Strafvollzug ist die zwingende gesetzliche Rechtsfolge der Straftat (E. 3.2.1). Die Trennung der Mutter von ihrem Kind ist eine zwangsläufige, unmittelbar gesetzmässige Folge des Vollzugs der Freiheitsstrafe und der damit verbundenen Nebenfolgen (E. 3.2.2). Das StGB und das kantonale Konkordatsrecht kennen zahlreiche Vollzugsformen für Freiheitsstrafen (E. 3.2.4). Weder die Bestimmungen der BV noch jene der KRK und der anderen menschenrechtlichen Übereinkommen hindern den Vollzug der gesetzmässigen Freiheitsstrafe. Der verurteilte Elternteil ist nicht berechtigt, gegen die Vollzugsverfügung Rechte der Kinder in eigenem Namen geltend zu machen (E. 3.3.3). Soweit die verurteilte Person nicht selber eine Betreuung ihrer Kinder organisiert, wird dies Aufgabe der Kindesschutzbehörde (KESB) sein. Das ist keine Frage des Vollzugsrechts (E. 3.4.3).

 

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