Schweizerisches Strafgesetzbuch

vom 21. Dezember 1937 (Stand am 22. November 2022)


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Art. 62a

Nicht­be­wäh­rung

 

1 Be­geht der be­dingt Ent­las­se­ne wäh­rend der Pro­be­zeit ei­ne Straf­tat und zeigt er da­mit, dass die Ge­fahr, der die Mass­nah­me be­geg­nen soll, fort­be­steht, so kann das für die Be­ur­tei­lung der neu­en Tat zu­stän­di­ge Ge­richt nach An­hö­rung der Voll­zugs­be­hör­de:

a.
die Rück­ver­set­zung an­ord­nen;
b.
die Mass­nah­me auf­he­ben und, so­fern die Vor­aus­set­zun­gen da­zu er­füllt sind, ei­ne neue Mass­nah­me an­ord­nen; oder
c.
die Mass­nah­me auf­he­ben und, so­fern die Vor­aus­set­zun­gen da­zu er­füllt sind, den Voll­zug ei­ner Frei­heits­s­tra­fe an­ord­nen.

2 Sind auf Grund der neu­en Straf­tat die Vor­aus­set­zun­gen für ei­ne un­be­ding­te Frei­heits­s­tra­fe er­füllt und trifft die­se mit ei­ner zu Guns­ten der Mass­nah­me auf­ge­scho­be­nen Frei­heits­s­tra­fe zu­sam­men, so spricht das Ge­richt in An­wen­dung von Ar­ti­kel 49 ei­ne Ge­samt­stra­fe aus.

3 Ist auf Grund des Ver­hal­tens des be­dingt Ent­las­se­nen wäh­rend der Pro­be­zeit ernst­haft zu er­war­ten, dass er ei­ne Tat im Sin­ne von Ar­ti­kel 64 Ab­satz 1 be­ge­hen könn­te, so kann das Ge­richt, das die Mass­nah­me an­ge­ord­net hat, auf An­trag der Voll­zugs­be­hör­de die Rück­ver­set­zung an­ord­nen.

4 Die Rück­ver­set­zung dau­ert für die Mass­nah­me nach Ar­ti­kel 59 höchs­tens fünf Jah­re, für die Mass­nah­men nach den Ar­ti­keln 60 und 61 höchs­tens zwei Jah­re.

5 Sieht das Ge­richt von ei­ner Rück­ver­set­zung oder ei­ner neu­en Mass­nah­me ab, so kann es:

a.
den be­dingt Ent­las­se­nen ver­war­nen;
b.
ei­ne am­bu­lan­te Be­hand­lung oder Be­wäh­rungs­hil­fe an­ord­nen;
c.
dem be­dingt Ent­las­se­nen Wei­sun­gen er­tei­len; und
d.
die Pro­be­zeit bei ei­ner Mass­nah­me nach Ar­ti­kel 59 um ein bis fünf Ja­hre, bei ei­ner Mass­nah­me nach den Ar­ti­keln 60 und 61 um ein bis drei Jah­re ver­län­gern.

6 Ent­zieht sich der be­dingt Ent­las­se­ne der Be­wäh­rungs­hil­fe oder miss­ach­tet er die Wei­sun­gen, so ist Ar­ti­kel 95 Ab­sät­ze 3–5 an­wend­bar.

BGE

138 IV 113 (6B_180/2011) from 5. April 2012
Regeste: Art. 49 Abs. 2 StGB; retrospektive Konkurrenz; Kassation des Ersturteils. Für die Frage, ob und in welchem Umfang (d.h. ganz oder teilweise) das Gericht eine Zusatzstrafe im Sinne von Art. 49 Abs. 2 StGB aussprechen muss, ist auf das Datum der ersten Verurteilung im ersten Verfahren (sog. Ersturteil) abzustellen. Demgegenüber ist für die Bemessung bzw. die Höhe der Zusatzstrafe das rechtskräftige Urteil im ersten Verfahren massgebend (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 3.4.2). Für die Beantwortung der ersten Frage (Anwendbarkeit des Asperationsprinzips) ist unerheblich, ob das Ersturteil oder ein Urteil der Rechtsmittelinstanz in Rechtskraft erwächst oder ob nach einer Kassation neu entschieden werden muss. Dies gilt auch, wenn im Rahmen der Neubeurteilung zuungunsten des Verurteilten für die gleiche Tat eine härtere Strafe verhängt wird als im Ersturteil (E. 3.4.3). Eine Gesamtstrafe gestützt auf Art. 46 Abs. 1 Satz 2 sowie Art. 62a Abs. 2 und Art. 89 Abs. 6 StGB kommt nicht in Betracht, wenn aufgrund einer erneuten Delinquenz in der Zeit zwischen dem Ersturteil und dem Vollzug der ersten Strafe zwei Freiheitsstrafen zum Vollzug anstehen (E. 4).

145 IV 146 (6B_932/2018) from 24. Januar 2019
Regeste: Art. 46 Abs. 1 Satz 2, Art. 49 StGB; Bildung einer Gesamtstrafe bei Widerruf der bedingten Strafe (Änderung der Rechtsprechung). Am 1. Januar 2018 ist die revidierte Bestimmung von Art. 46 Abs. 1 Satz 2 StGB in Kraft getreten. Bei Widerruf des bedingten Strafvollzugs hat das Gericht nunmehr mit der widerrufenen und der neuen Strafe eine Gesamtstrafe zu bilden. Die Gesamtstrafenbildung setzt voraus, dass die widerrufene und die neue Strafe gleichartig sind (E. 2.1-2.3). Bei der Bildung der Gesamtstrafe ist die neue Strafe als "Einsatzstrafe" in sinngemässer Anwendung des Asperationsprinzips (Art. 49 StGB) durch die widerrufene Strafe zu erhöhen (E. 2.4).

147 IV 108 (6B_780/2019) from 17. August 2020
Regeste: Art. 34 Abs. 3 StPO; nachträgliche Gesamtstrafenbildung. Art. 34 Abs. 3 StPO stellt sicher, dass die materiell-rechtlichen Vorschriften der Gesamtstrafenbildung von der verurteilten Person wirksam durchgesetzt werden können (E. 2.2.1). Das Verfahren gemäss Art. 34 Abs. 3 StPO ist ein Verfahren "sui generis", auf das die Vorschriften über "Verfahren bei selbstständigen nachträglichen Entscheiden des Gerichts" gemäss Art. 363 ff. StPO (sinngemäss) Anwendung finden, soweit Art. 34 Abs. 3 StPO keine abweichende Regelung enthält (E. 2.2.2). Art. 34 Abs. 3 StPO regelt nicht, wie die Gesamtstrafe zu bilden ist; dies ergibt sich ausschliesslich aus der jeweiligen materiell-rechtlichen Norm (Art. 46 Abs. 1 Satz 2, Art. 49, Art. 62a Abs. 2 und Art. 89 Abs. 6 StGB) (E. 2.2.3). Gegenstand des Nachverfahrens gemäss Art. 34 Abs. 3 StPO ist ausschliesslich, die unterlassene Gesamtstrafenbildung durch Asperation der rechtskräftigen Strafen nachzuholen. Das Nachgericht hat weder die Rechtmässigkeit der früheren Verurteilungen noch die Angemessenheit der ausgesprochenen Strafen zu prüfen (E. 2.2.4 und 2.2.5). Die Vollzugsform (bedingt, teil- oder unbedingt) spielt für die Beurteilung der Gleichartigkeit der ausgesprochenen Strafen keine Rolle (E. 3.1-3.4). Die richterliche Fürsorgepflicht kann erfordern, die beschuldigte Person auf eine mögliche oder gesetzlich zwingende Änderung der Vollzugsform infolge der nachträglichen Gesamtstrafenbildung hinzuweisen und ihr die Möglichkeit einzuräumen, den gestellten Antrag zurückzuziehen (E. 3.6).

 

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