Schweizerisches Strafgesetzbuch

vom 21. Dezember 1937 (Stand am 22. November 2022)


Open article in different language:  FR  |  IT  |  EN
Art. 66abis75

b. Nicht ob­li­ga­to­ri­sche Lan­des­ver­wei­sung

 

Das Ge­richt kann einen Aus­län­der für 3–15 Jah­re des Lan­des ver­wei­sen, wenn er we­gen ei­nes Ver­bre­chens oder Ver­ge­hens, das nicht von Ar­ti­kel 66a er­fasst wird, zu ei­ner Stra­fe ver­ur­teilt oder ge­gen ihn ei­ne Mass­nah­me nach den Ar­ti­keln 59–61 oder 64 an­ge­ord­net wird.

75 Ein­ge­fügt durch Ziff. I 1 des BG vom 20. März 2015 (Um­set­zung von Art. 121 Abs. 3–6 BV über die Aus­schaf­fung kri­mi­nel­ler Aus­län­de­rin­nen und Aus­län­der), in Kraft seit 1. Okt. 2016 (AS 2016 2329; BBl 2013 5975).

BGE

143 IV 168 (1B_61/2017) from 29. März 2017
Regeste: Art. 5 Ziff. 1 lit. f und Ziff. 3 EMRK; Art. 31 Abs. 3 BV; Art. 212 Abs. 3, 220 Abs. 2 und 231 Abs. 1 lit. a StPO; Art. 66a Abs. 1 lit. b StGB; Art. 76 Abs. 1 AuG; Sicherheitshaft zur Gewährleistung einer Landesverweisung; rechtliche Grundlage und Verhältnismässigkeitsprinzip. Da es sich bei der Landesverweisung um eine strafrechtliche Massnahme handelt (Art. 66a Abs. 1 lit. b StGB), stellen Art. 220 Abs. 2 und Art. 231 Abs. 1 lit. a StPO eine hinreichende gesetzliche Grundlage dar, um eine Person zur Sicherstellung des Vollzugs einer erstinstanzlich ausgesprochenen Landesverweisung in Sicherheitshaft zu versetzen (E. 3.2). Die Zuständigkeit der Strafbehörden, welche bis zum Ende des Strafverfahrens besteht, hindert die Verwaltungsbehörden nicht daran, bereits vor diesem Zeitpunkt einzugreifen: Gemäss Art. 76 Abs. 1 AuG kann die Verwaltungsbehörde die betroffene Person ab der Eröffnung einer erstinstanzlichen Landesverweisung nach Art. 66a oder 66abis StGB und mithin noch vor der Rechtskraft des Strafurteils in Administrativhaft nehmen oder belassen (E. 3.3). Eine derartige Haft muss das Verhältnismässigkeitsprinzip respektieren (Art. 5 Ziff. 3 EMRK, Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 212 Abs. 3 StPO). Eine Person, die zu einer Landesverweisung und einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, kann in Sicherheitshaft belassen werden, falls die Frage des bedingten Vollzugs ungewiss ist, die erstandene Haft nicht die Dauer des erstinstanzlich ausgesprochenen Freiheitsentzugs übersteigt und das Beschleunigungsgebot (Art. 5 Abs. 1 StPO) gewahrt ist (E. 5).

144 IV 332 (6B_209/2018) from 23. November 2018
Regeste: Art. 66a Abs. 2 StGB; Landesverweisung, Härtefallklausel, Berücksichtigung der besonderen Situation von Ausländern, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind. Das Gericht muss bei der Ausübung seines ihm durch Art. 66a Abs. 2 StGB übertragenen Ermessens die Verfassungsprinzipien respektieren. Sind die Voraussetzungen der Härtefallklausel erfüllt, verlangt das in Art. 5 Abs. 2 BV verankerte Verhältnismässigkeitsprinzip, von einer Landesverweisung abzusehen. Das Gesetz definiert jedoch nicht, was unter einem persönlichen Härtefall zu verstehen ist, noch bezeichnet es die bei der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien. Zur Bestimmung des Härtefalls rechtfertigt sich grundsätzlich eine Orientierung an den Kriterien zur Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung bei Vorliegen eines schwerwiegenden persönlichen Härtefalls (vgl. Art. 31 VZAE). Zur Beurteilung der Situation von in der Schweiz geborenen oder aufgewachsenen Ausländern sind die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien zum Widerruf der Niederlassungsbewilligung eines Ausländers der zweiten Generation zu berücksichtigen, unter Beachtung der mit der Einführung der Art. 121 Abs. 3-6 BV sowie Art. 66a ff. StGB beabsichtigten Verschärfung der bestehenden Ordnung (E. 3).

146 II 321 (2C_744/2019) from 20. August 2020
Regeste: Art. 62 Abs. 2 und Art. 63 Abs. 3 AIG; Art. 66a Abs. 2 und Art. 66abis StGB; Zulässigkeit eines Widerrufs einer Aufenthaltsbewilligung wenn ein Strafurteil sich mit der Landesverweisung nicht auseinandersetzt. Wird ein Ausländer für Delikte verurteilt, die eine Landesverweisung gerechtfertigt hätten, eine solche jedoch im Strafurteil nicht thematisiert (E. 3), ist davon auszugehen, dass das Strafgericht darauf verzichtet hat, diese Massnahme im Sinne von Art. 63 Abs. 3 AIG zu ergreifen. Die Verwaltungsbehörde kann somit ausschliesslich gestützt auf die betreffende strafrechtliche Verurteilung die Niederlassungsbewilligung nicht widerrufen (E. 4). Der Umstand, dass die strafrechtliche Verurteilung vorliegend für vor und nach dem 1. Oktober 2016 begangene Delikte und somit teilweise für Delikte ausgesprochen wurde, für welche noch keine Landesverweisung erteilt werden konnte, vermag daran nichts zu ändern (E. 5).

146 IV 172 (6B_572/2019) from 8. April 2020
Regeste: Art. 78 ff. BGG; Art. 21 und 24 der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 (SIS-II-Verordnung); Art. 20 f. N-SIS-Verordnung; Art. 391 Abs. 2 StPO; Ausschreibung der Landesverweisung im SIS: Voraussetzungen, Zuständigkeit, Verfahren, Verschlechterungsverbot, rechtliches Gehör. Gegen die Ausschreibung der Landesverweisung im SIS ist die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht gegeben (E. 1.3). Voraussetzungen und Zuständigkeit für die Ausschreibung der Landesverweisung im SIS (E. 3.2.1-3.2.4). Die Ausschreibung der Landesverweisung im SIS unterliegt - wie auch die Landesverweisung selber - nicht dem Anklageprinzip. Spricht das Gericht eine Landesverweisung aus, muss es bei Drittstaatsangehörigen unabhängig von einem entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft zwingend auch darüber befinden, ob die Landesverweisung im SIS auszuschreiben ist. Es hat die Frage der Ausschreibung der Landesverweisung im SIS materiell zu beurteilen und im Dispositiv des Strafurteils zwingend zu erwähnen, ob die Ausschreibung vorzunehmen ist oder ob darauf verzichtet wird (E. 3.2.5). Die Ausschreibung der Landesverweisung im SIS ist vollzugs- bzw. polizeirechtlicher Natur. Im Berufungsverfahren gelangt das Verschlechterungsverbot (Verbot der "reformatio in peius") auf die Ausschreibung der Landesverweisung zumindest dann nicht zur Anwendung, wenn die Frage im erstinstanzlichen Verfahren unbehandelt blieb (E. 3.3). Anspruch auf rechtliches Gehör vor dem Entscheid über die Ausschreibung der Landesverweisung im SIS (E. 3.4).

146 IV 311 (6B_1031/2019) from 1. September 2020
Regeste: Art. 2 Abs. 1, Art. 49 Abs. 2 und Art. 66a sowie Art. 66b StGB; strafrechtliches Rückwirkungsverbot in Bezug auf die neuen Bestimmungen über die Landesverweisung; Wiederholungsfall; retrospektive Konkurrenz bei Landesverweisung. Das Strafgericht kann die Landesverweisung erst dann anordnen, wenn der Täter die Anlasstat nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen über die Landesverweisung begangen hat. Das Rückwirkungsverbot gilt grundsätzlich auch für Massnahmen (E. 3.2.2). Ein Wiederholungsfall nach Art. 66b StGB ist ab der Rechtskraft des Urteils bis zum Ablauf der Dauer der Landesverweisung sowie nach dem Ablauf der Dauer einer ersten Landesverweisung möglich (E. 3.5.1). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung zum Zusammentreffen zweier altrechtlicher Landesverweisungen sind diese nicht kumulativ, sondern nach dem Absorptionsprinzip zu vollziehen (E. 3.6.1). Das Bundesgericht berücksichtigt die Rechtsprechung zu aArt. 55 StGB unter dem Titel von Art. 66a StGB (E. 3.6.2). Die heutige Landesverweisung ist als Institut des Strafrechts und nach der Intention des Gesetzgebers primär als sichernde Massnahme zu verstehen. Somit steht weiterhin nicht der Straf- sondern vielmehr der Massnahmecharakter im Vordergrund. Es besteht kein Anlass, von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Zusammentreffen zweier altrechtlicher Landesverweisungen gemäss BGE 117 IV 229 abzuweichen. Demnach gelangt nicht das Kumulations- sondern das Absorptionsprinzip zur Anwendung. Das heisst, dass die im Zeitpunkt des neuen Urteils weniger lange dauernde in der längeren Landesverweisung aufgeht (E. 3.7).

 

Diese Seite ist durch reCAPTCHA geschützt und die Google Datenschutzrichtlinie und Nutzungsbedingungen gelten.

Feedback
Laden